"Leitkultur" à la CDU ist plump und kontraproduktiv
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Sie ist eine Art "Nessie" der deutschen Politik, die in der CDU-Rhetorik immer wieder wie das Ungeheuer aus Loch Ness auftauchende "Leitkultur": von Jörg Schönbohm 1998 über Friedrich Merz 2000, Norbert Lammert 2005, Grundsatzprogramme von CDU und CSU 2007, Markus Blumes, Johannes Singhammers und Michael Kretschmers "Aufruf" 2016 bis zu Thomas de Maizières Benimm-Katalog 2017 in der "Bild": "Wir zeigen unser Gesicht. Wir sind nicht Burka." Der Entwurf des CDU-Grundsatzprogramms 2023 fordert: "Alle, die hier leben wollen, müssen unsere Leitkultur ohne Wenn und Aber anerkennen." Der Ausschluss jeden Einwands klingt autoritär. Da stolz die "Tradition der Aufklärung" bemüht wird: Lebt diese nicht vom Hinterfragen des aktuell Gültigen? Sind also nicht gerade "Wenn und Aber" Teil europäischer Leitkultur? Die Bibel rät zur Skepsis: "Prüfet alles, das Gute behaltet." Galt die Ehe von Mann und Frau nicht vor 30 Jahren noch als "unsere Leitkultur"? Und vor 70 Jahren die Unterordnung der Frau unters "Haupt der Familie"?
Zwar definiert die CDU die Leitkultur zunächst im Sinne der Wertordnung des Grundgesetzes: Achtung der Menschenwürde, Grundrechte, Rechtsstaat, Toleranz, Respekt, Minderheitenschutz, Trennung von Kirche und Staat, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Anerkennung des Existenzrechts Israels. Richtig! Doch dann verlangt sie explizit "mehr als das Grundgesetz": "Verständnis unserer Traditionen und Bräuche, des ehrenamtlichen Engagements und Vereinslebens, der deutschen Kultur und Sprache sowie unserer Geschichte und der daraus resultierenden Verantwortung“ plus „Bewusstsein von Heimat und Zugehörigkeit". Zur Bürgerschaft "eingeladen" sei nur, wer ein "ausdrückliches Bekenntnis zu unseren Werten, Grundsätzen und Regeln" ablegt und sich an "unsere Art zu leben anzupassen" bereit sei. Mehr als Integration also: Assimilation!
Die Verschärfung kulminiert in einer Sonderbehandlung der Muslime, deren Tauglichkeit als einzige Gruppe namentlich in Frage gestellt wird, samt Hervorhebung des „politischen Islam“ bei der Extremismusbekämpfung – obwohl der Rechtsextremismus inzwischen die größere Gefahr darstellt.
"Leitkultur" so aufzuziehen und sogar höchstpersönliche Heimatgefühle vorzuschreiben, ist hypertroph, plump, übergriffig, kontraproduktiv und ein Widerspruch in sich: Denn hier wird entgegen zwei Leitkultur-Kriterien eine religiöse Minderheit, die bereits permanent von den weit zahlreicheren deutschen Faschisten beleidigt wird, faktisch unter Generalverdacht und an den Pranger gestellt. Was gedenkt man dadurch positiv zu bewirken? Indes scheitern Heerscharen sogenannter Biodeutscher täglich krachend an den Kriterien der CDU für "deutsche Leitkultur". Beginnend mit dem von Fehlern strotzenden Deutsch ihrer meist anonym pöbelnden Hasspostings in Social Media. "Wir zeigen unser Gesicht"? Von wegen! Die sogar parlamentarischen "Volksgenossen", hinter deren Ressentiment die Merz-CDU opportunistisch her hechelt, sind mehr zu fürchten als jede Burka.
Der Autor
Andreas Püttmann ist Politikwissenschaftler und freier Publizist in Bonn.Hinweis
Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der jeweiligen Autorin bzw. des Autors wider.