Standpunkt

Auch theologische Wunderkinder sind fehlbar

Veröffentlicht am 15.01.2024 um 00:01 Uhr – Von Matthias Drobinski – Lesedauer: 

Bonn ‐ "Publik-Forum" meldet Zweifel an Joseph Ratzingers Darstellung zu seinem Habilitationsverfahren an. Matthias Drobinski kommentiert, dass auch "theologische Wunderkinder" nicht unfehlbar sind – und hofft, dass sich bald das ganze Bild zeigt.

  • Teilen:

HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.

Nein, die Geschichte des Theologen, Erzbischofs und Kardinals Joseph Ratzinger, der Papst Benedikt XVI. wurde, muss nicht umgeschrieben werden, weil nun die Zeitschrift "Publik-Forum" den Text jenes Zweitgutachtens des Münchner Dogmatik-Professors Michael Schmaus öffentlich zugänglich gemacht hat. Jenes Gutachten, an dem einst Joseph Ratzingers Habilitation fast gescheitert wäre. Es liest sich aber doch das "Drama der Habilitation" aus dem Jahr 1956 zumindest teilweise anders, als es Joseph Ratzinger in seinen Erinnerungen dargestellt hat – da besteht nun durchaus Ergänzungs- und gegebenenfalls Korrekturbedarf.

In Joseph Ratzingers Erinnerungen erscheint Schmaus als der missgünstige Platzhirsch, der den jungen, aufstrebenden Theologen in die Schranken weisen will – weil er beleidigt ist, dass Ratzinger nicht ihn zum Habilitationsvater wählte, sondern den Kollegen und Konkurrenten Gottlieb Söhngen, weil der junge Theologe frech die Positionen des Altvorderen zerlegte, dessen Wissenschaft in der Vorkriegszeit stehengeblieben war. Das Dokument zeigt nun: Schmaus erkennt sehr wohl die Begabung des jungen Theologen und sucht nach Möglichkeiten, die Habilitation zu retten. Er kritisiert aber, was noch viele Wissenschaftler nach ihm an Joseph Ratzinger kritisieren werden: dass er Thesen aufstellt und Grundannahmen setzt und alles ignoriert oder abwertet, was diese Thesen in Frage stellen könnte; dass er mit großer Sprachkraft glänzende Gedankengebäude entwirft – nur darf niemand die Grundlagen in Frage stellen.

Manche Kritik im Gutachten klingt aus heutiger Sicht kleinlich, manchmal klingt Schmaus tatsächlich oberlehrerhaft. Und den inhaltlichen Streit, ob der 58-Jährige den Offenbarungsbegriff des Franziskanermönchs Bonaventura aus dem 13. Jahrhundert präziser deutete als der 29-jährige Habilitand – den werden die Fachleute klären müssen. Zudem wird Schmaus nun nicht zum Heiligen, er bleibt der ambivalente Wissenschaftler, der zeitweise mit dem Nationalsozialismus sympathisierte und schrecklichen Antisemitismus verbreitete, nach dem Krieg aber eine vergleichsweise weltoffene Theologie vertrat. Das Gutachten aber zeigt: Auch theologische Wunderkinder sind fehlbar. Und schönen manchmal ihre Geschichte. Vielleicht ist ja bald auch das erste, Joseph Ratzinger gegenüber positive Gutachten des Professors Söhngen zu lesen. Im Sinne der historischen Genauigkeit wäre dies zu wünschen.

Von Matthias Drobinski

Der Autor

Matthias Drobinski ist Chefredakteur der Zeitschrift "Publik-Forum".

Hinweis

Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der Autorin bzw. des Autors wider.