Behauptete Gottesnähe verleihe Macht und ermögliche Gewalt

Großbölting: Machtfülle von Pfarrern führt zu Missbrauch in Kirchen

Veröffentlicht am 26.02.2024 um 12:56 Uhr – Lesedauer: 

Hamburg/Freiburg ‐ Es gelte, mit der Überhöhung und Selbstüberhöhung von Geistlichen zu brechen, sagt Historiker Thomas Großbölting. Mit Blick auf die Missbrauchsaufarbeitung äußert er scharfe Kritik an der evangelischen Kirche – und Lob für die katholische.

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Für den Hamburger Historiker Thomas Großbölting ist die Machtposition von Geistlichen die Hauptursache sexueller Gewalt in der katholischen und evangelischen Kirche. "Es ist die Stellung des Geistlichen im religiösen Sinnsystem, die es dem pädosexuellem Täter ermöglicht, Macht über Kinder und Jugendliche zu erlangen und diese dann zu missbrauchen", schreibt Großbölting in einem Beitrag für die aktuelle Ausgabe der Herder-Korrespondenz (März). Angesichts des Missbrauchsskandals gelte es, mit der Überhöhung und Selbstüberhöhung der Geistlichen, der Institution Kirche und deren Machtverhältnissen zu brechen, so Großbölting. Der Historiker weist darauf hin, dass es sich dabei um kein allein christliches Problem handle: "Es lässt sich vermuten, dass auch in anderen Weltreligionen ähnliche Zusammenhänge von religiös abgeleiteter Macht und Gewalt zu finden sind."

Opfer von sexualisierter Gewalt seien meist Kinder und Jugendliche, die tief gläubig seien. "Auf diese Weise sind sie dem geistlichen Täter als religiös hervorgehobenem Mann stark verbunden – und im schlechtesten Fall ausgeliefert." Lenke dieser Mann die Gottesliebe der Kinder auf sich, gewinne er dadurch Macht und könne diese zum Missbrauch nutzen. Das stelle "eine monströse Verkehrung des Verkündigungsauftrags dar – und zwar in beiden Konfessionen."

Konfessionelle Unterschiede

Jedoch gebe es konfessionelle Besonderheiten, so Großbölting. "In den evangelischen Landeskirchen, die sich vor allem als geschwisterlich, partizipativ und modern begreifen, wird faktisch vorhandene Macht ignoriert oder gar verleugnet. Wer aber machtvergessen ist, kann Machtmissbrauch nicht erkennen." Verantwortlichkeiten blieben so ausgeblendet, Kontrolle finde nicht statt. "Für Missbrauchsbetroffene war das protestantische Binnenklima fatal: Sie haben die Strukturen und die daraus abgeleitete Kommunikationskultur wiederholt als ein 'Milieu der Geschwisterlichkeit' charakterisiert, in dem sexualisierte Gewalt nicht denkbar war – und deswegen auch umso schwerer thematisiert werden konnte", so Großbölting. Hauptproblem in der katholischen Kirche seien hingegen der Zölibat und die "katholisch lehramtlich fundierte Homophobie". 

Scharf kritisiert der Historiker die Quantität der Aufklärung sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche. Forschenden in der MHG-Studie zur katholischen Kirche von 2018 sei es besser ermöglicht worden, ihrem Auftrag nachzukommen. "Auch wenn in einzelnen Bistumsstudien zum Teil noch höhere Zahlen von Tätern und Betroffenen ermittelt werden konnten, ist das Hellfeld im Katholischen wohl einigermaßen ausgeleuchtet und die 'Spitze des Eisbergs', so die Studienleiter, ermittelt worden." Die EKD habe es versäumt, hier gleichzuziehen, indem die Personalakten der Pfarrer und Pfarrerinnen in den meisten Landeskirchen nicht in ausreichendem Mase zur Verfügung standen, so Großbölting. "Die Forum-Studie bleibt an dieser Stelle unvollendet. Wo in der Aufarbeitung in der katholischen Kirche eine Grundlage geschaffen wurde, auf der Studien, aber auch praktische Maßnahmen aufbauen können, ist das in der evangelischen Kirche versäumt worden.” Bei diesen Versäumnissen müsse die Spitze der evangelischen Kirche nun handeln. Die katholische Kirche sei in dieser Hinsicht einen Schritt weiter als die protestantische, so Großbölting. (ben)