Für eine neue Verhältnisbestimmung von Kirche, Staat und Zivilreligion
Das europäische Verhältnis von Religion und dem Staat als ziviler Gesellschaft ist seit der gewaltigen Zäsur der Französischen Revolution und der nachfolgenden napoleonischen Umwälzung äußerst fragil und von sehr unterschiedlichen Modellen geprägt. Daran konnte auch die oberflächliche Restauration des Wiener Kongresses nichts ändern. Spätestens seit der nächsten Zäsur des Ersten Weltkrieges versanken die alten restaurativen Herrschaften einer mehr oder minder fraglosen Zuordnung von vorherrschender Staatsreligion und ziviler Gesellschaft – man denke an die Habsburger Monarchie – im Orkus der endgültig beginnenden säkularen Moderne. In Frankreich war das endgültig schon seit 1905 mit der strikten Trennung von Kirche und Staat im Zeichen einer Laizität als Staatsräson der Fall.
Seitdem geht jedes Land in Europa seinen eigenen und unverwechselbaren Weg einer mehr oder minder unhinterfragten Trennung von Religion und ziviler Gesellschaft, erst recht von Kirche und Staat. Länder einer klerikal-autokratischen Herrschaft, wie Portugal unter dem lang dauernden Regime von António de Oliveira Salazar (1889–1970) oder Spanien unter Francisco Franco (1892-1975) oder die Slowakei unter Prälat Jozef Tiso (1887-1947) oder Österreich unter Engelbert Dollfuß (1892-1934) verschärfen die Problemlage und schaffen gleichsam zusätzlich kontaminiertes Gelände der Verhältnisbestimmung von Staat und Religion in Europa, wie ein Blick auf die starken Prozesse der Säkularisierung in Spanien aktuell zur Genüge beweist.
So war es bezeichnend, aber auch folgerichtig, dass anlässlich des Vertrages von Lissabon keine europäische Einigung der verschiedenen Staaten auf eine präambelartige Formulierung des religiösen Bezugs staatlicher und ziviler Regierung gelang. Übrig blieb damals eine vage Erinnerung an das spirituelle Erbe Europas.
Lage hat sich verkompliziert
Die Lage hat sich seitdem in unterschiedlicher Richtung verkompliziert: Einerseits säkularisiert sich Europa aus christlicher Sicht immer schneller und dezidierter, freilich mit großen Unterschieden zwischen Rumänien, der Slowakei und Malta auf der einen Seite und Skandinavien, Benelux und Frankreich auf der anderen Seite. Für Deutschland erbrachte die von evangelischer und katholischer Kirche beauftragte 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) vom Herbst 2023 ein ernüchterndes Bild eines weitgehenden Verschwindens der Religion aus dem zumindest privaten Leben der Menschen, unbeschadet starker kirchlicher Institutionen, besonders im diakonischen Sektor.
Andererseits aber verändert sich die religiöse Landschaft Europas seit Jahren massiv durch Migration vornehmlich islamischer Bevölkerungsgruppen, die zum Teil eine deutlich höhere religiöse Praxis und Wertschätzung aufweisen als die ehemals christlich geprägten Länder der Zuwanderung.
Auf diesem grob skizzierten Hintergrund kann und muss aus christlicher und katholischer Sicht – gerade auch mit Blick auf andere Länder außerhalb Europas und deren Versuche zur Formatierung einer friedlichen, zivilen Gesellschaft – gefragt werden nach der mittelfristigen Zukunft von Religion – abrahamitischer Religion und spezifisch christlicher Variante – und ziviler Gesellschaft innerhalb eines säkularen, vielleicht auch laizistischen Staates.
Frage nach politischer Theologie und Ethik
Verbunden damit ist zugleich die nach den klerikalen Regimen der Zwischenkriegszeit äußerst heikle Frage nach dem Nutzen oder gar der Notwendigkeit von politischer Theologie und politischer Ethik. Eine Frage, die sich katholischerweise stets im langen Schatten von Carl Schmitt entfaltet. Dieser lange Schatten wie auch die Geschichte des politischen Anspruchs der christlichen Religion, verschärft im 20. Jahrhundert, dispensiert jedoch in keiner Weise vom explizit politischen Anspruch des Christentums. Das wird bereits seit Papst Gelasius (gest. 496) und der auf Augustinus zurückgehenden Zwei-Schwerter-Theorie deutlich, die sich spätestens seit der päpstlichen Revolution unter Papst Gregor VII. zur wirkmächtigen Zwei-Reiche-Lehre entwickelte.
Harold J. Berman hat dazu breit geforscht und veröffentlicht in seinem beeindruckenden Buch "Law and Revolution. The Formation of the Western Legal Tradition" (Harvard 1983; dt.: Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt/M. 1995). Angesichts des Ausgangspunktes eines vergleichsweise knappen und nüchternen Wortes Jesu "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist!", angereichert allenfalls noch vom jesuanischen Hinweis an Pontius Pilatus "Mein Reich ist nicht von dieser Welt!", ist dies durchaus eine staunenswerte Karriere.
Zur Debatte steht nichts weniger als die Zielbestimmung einer sich als vorläufig begreifenden Politik und ihres Staates, eine Zielbestimmung, die im deutschen Grundgesetz mit der Präambel "In Verantwortung vor Gott und den Menschen..." in bester kantianischer Tradition der Postulate von Gott, Seele, Unsterblichkeit auf den wünschenswerten Punkt gebracht wird: Was sind die notwendigen Voraussetzungen einer zeitlich begrenzten Ordnung des Zusammenlebens in staatlicher Gesellschaft, eine Ordnung, die doch nur den unterschiedlichen privaten Überzeugungen und Konfessionen der Bürgerinnen und Bürger einen äußeren Rahmen geben kann und darf. Oder anders: Was ist der Mehrwert religiöser Konfession für ein friedfertiges und gerechtes Zusammenleben im Staat? Wird dies Zusammenleben besser und erfüllter durch die Vorstellung von einem personalen Gott und einer unsterblichen Seele?
Hilfreicher Blick in die USA
In dieser komplizierten Lage vermag ein Blick auf die USA mit der besonderen Geschichte einer liberalen Zuwanderungsgesellschaft, gerade aus religiösen wie natürlich auch aus wirtschaftlichen Gründen, eine gute Hilfe zu sein. In hervorragender deutscher Übersetzung von Barbara Hallensleben, Professorin für Dogmatik und Theologie der Ökumene an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg in der Schweiz, liegt neuerdings das neue Buch von William T. Cavanaugh vor. Er ist US-amerikanischer katholischer Theologe, der seit 2010 als Professor für Catholic Studies und als Direktor des Center for World Catholicism and Intercultural Theology an der DePaul University in Chicago tätig ist.
Der programmatische Titel lautet in deutscher Übersetzung: "Migrationen des Heiligen. Gott, der Staat und die politische Bedeutung der Kirche" und entspricht haargenau dem Originaltitel von 2011. Der zunächst etwas rätselhafte Titel wird erklärt durch den Untertitel. Die bisweilen recht weitschweifigen Analysen des Augustinus in seinem großen Werk "De Civitate Dei" zeigen die bahnbrechende Wirkung dieses Werks für die Entfaltung einer politischen Theologie des Christentums. Demnach lebt der Mensch nach dem paradigmatischen Brudermord des Kain an Abel als "Bürger zweier Welten" (Rousseau).
Die Geschichte wird als Geschichte einer Wahrheit von Gewalt und Totschlag gedeutet. Der Mensch findet sich dabei wieder in einer vom Leviathan des Staates nur mühsam gebändigten Gewalt des je Stärkeren. Er erfreut sich des Mordverzichts des Mitmenschen, aber zugleich als Mensch, der sich mit dieser Freude des nur vom Staat vom Mitmenschen abgezwungenen Überlebens nicht begnügen kann und will. Der Mensch strebt nach Freundschaft und Liebe – auch und gerade der Freundschaft und der Liebe des Kain.
Keine erzwungene Liebe
Der Staat freilich kann diese Freundschaft und Liebe schlechterdings nicht erzwingen, er vermag sie nur zu erhoffen – sofern er noch einen Funken metaphysischen Anstands hat – und zu ermöglichen, eben durch gerechte Strukturen des Zusammenlebens in einer Zivilgesellschaft. Religion erweist sich als Ausweg aus der Sackgasse bloßer endlicher Gerechtigkeit, denn: Recht erschöpft sich nicht in der Zuteilung vergänglicher Güter, sondern in der Eröffnung eines Horizontes unvergänglicher Liebe und Freundschaft. Darin liegt die eigentliche Wahrheit des Menschen aus christlicher Sicht: nicht betrogen zu werden um die Ewigkeit unvergänglicher und personaler Liebe.
Und präzis darin liegt die Bedeutung des sich offenbarenden Gottes des christlichen Glaubens. Nicht zufällig verweist daher William Cavanaugh zu Beginn des zentralen zweiten Kapitels seines Buches über "Ein christlicher Neuentwurf des politischen Raumes" ganz unverblümt auf das 17. Kapitel im Johannesevangelium, im sogenannten hohepriesterlichen Gebet Jesu als Rede zum himmlischen Vater: "Heilige sie in der Wahrheit; dein Wort ist Wahrheit. Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt. Und ich heilige mich für sie, damit auch sie in der Wahrheit geheiligt sind." (Joh 17,19)
Und wenig später heißt es sehr präzis und höchst aktuell: "Wie löst ein moderner liberaler Nationalstaat die Frage des Einen und des Vielen im politischen Leib, wenn die Teilhabe an Christus nicht mehr das gemeinsame Ziel ist? Es heißt, der Liberalismus erlaube einen größeren Pluralismus der Ziele: Es gibt nicht mehr zwei Städte – die Jünger Christi und die 'Welt' –, sondern eine Stadt mit einer Vielfalt von Individuen, und jedes von ihnen hat die Freiheit, seine eigenen Ziele zu wählen, ob es nun keinen Gott, einen Gott oder zwanzig Götter anbeten will.
Sehnsucht nach Einheit bleibt
Doch die Sehnsucht nach Einheit bleibt bestehen, zugleich mit der Angst, die Vielfalt könne zu Konflikten führen und das Gemeinwesen zerreißen. Fehlt ein transzendentales Ziel, ist Pluralität nicht einfach eine Verheißung, sondern eine Bedrohung, der ein noch stärkerer Sog zur Einheit entgegengesetzt werden muss. Doch was könnte die Quelle der Einheit in einem Nationalstaat mit unterschiedlichen Zielen sein, ohne einen transzendenten Bezug zur Teilhabe an einem einzigen Gott?" (S. 56)
Mit anderen Worten: Wenn die Idee und das Bekenntnis zum Heiligen und zum transzendenten Gott abwandert in immanente Vergöttlichungen, dann entstehen menschenverachtende Totalitäten einer auf gedeihliches und gesundes Überleben fixierten "Telefongesellschaft": "Im besten Fall kann der Nationalstaat Güter und Dienstleistungen bereitstellen, die zu einer bestimmten, begrenzten Ordnung beitragen; die Postzustellung ist z.B. ein positives Gut. Der Staat ist jedoch nicht der Hüter des Gemeinwohls, und wir müssen unsere Erwartungen entsprechend anpassen. Die Kirche muss ihre Vorstellungskraft aus der Gefangenschaft des Nationalstaates befreien, sie muss sich als alternativer sozialer Raum konstituieren und darf sich nicht einfach darauf verlassen, ihre soziale Präsenz im Nationalstaat zu finden. Und die Kirche muss bei jeder Gelegenheit den Raum "komplexer" machen, d.h. die Schaffung von Räumen fördern, in denen alternative Ökonomien und Autoritäten gedeihen." (S. 50)
Das wäre ein höchst modernes und höchst klassisches Programm für die katholische Kirche und ihre politische Ethik: Nicht einfach Verdoppelung des Staates und seiner zeitlichen Ordnung, sondern Alternativen der aufscheinenden ewigen Ordnung der Liebe aufzeigen, und damit eigentliche Hüterin eines überzeitlichen Gemeinwohles zu sein.
Hinweis
Es handelt sich um einen Gastbeitrag für die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA).