Meier nach Ukraine-Reise: "Selenskyjs Nimbus als Volksheld verblasst"
Als Vorsitzender der Kommission Weltkirche ist der Augsburger Bischof Bertram Meier (63) eine Art Außenminister der Deutschen Bischofskonferenz (DBK). Schon zum zweiten Mal seit Kriegsbeginn hat er in den vergangenen Tagen die Ukraine besucht. In Kiew und Lwiw (Lemberg) begegnete er Kirchenvertretern, Helfern und Angehörigen von Gefallenen. Im Interview spricht er über ein verändertes Land, das abgekühlte Verhältnis der Ukrainer zu Präsident Wolodymyr Selenskyj und den Appell des Papstes zu Verhandlungen. Und über den "wichtigsten und ergreifendsten Moment der Reise" – auf einem Soldatenfriedhof.
Frage: Herr Bischof Meier, wie haben Sie die Situation in der Ukraine knapp zwei Jahre nach Ihrem vorigen Besuch erlebt?
Meier: Mir fielen besonders drei Dinge auf: Erstens hat sich ein großer Teil der Bevölkerung trotz aller Schrecken offenbar an den Krieg gewöhnt. Man lebt damit. Als es in Kiew wieder Alarm gab, gingen auch Kinder und Jugendliche ruhig in die Schutzräume; die Geschäfte wurden abgeriegelt. Zweitens ist aber auch der Optimismus verschwunden. Vor zwei Jahren waren die Leute siegessicher. Es herrschte die Haltung: Wir lassen uns nicht in die Knie zwingen und verteidigen unser Vaterland. Heute ist die Stimmung gedrückt. Den Menschen ist die schwierige militärische Lage in der Ostukraine mit ihren verhärteten Fronten sehr bewusst. Das spürt man in Gesprächen immer wieder.
Frage: Und drittens?
Meier: Das Verhältnis zwischen den Ukrainern und Präsident Selenskyj hat sich stark abgekühlt. Von der früheren Verehrung für ihn merkt man heute nicht mehr viel. Ich hörte zwar keine laute Kritik am Präsidenten; aber zwischen den Zeilen wurde deutlich, dass Selenskyjs Nimbus als Volksheld verblasst. Es wird wahrgenommen, dass er auf der internationalen Bühne an Unterstützung einbüßt. Aus seinen Bitten um Waffenhilfe ist ein Fordern geworden. Nicht zu unterschätzen ist dabei auch die Informationspolitik Russlands, insbesondere in den Sozialen Medien. Dieser Krieg ist auch ein Krieg der Worte, und das fördert eine gesellschaftliche Polarisierung unter den Ukrainern.
Frage: Ist die Ukraine kriegsmüde, um den fragwürdigen Begriff zu verwenden?
Meier: Nein, soweit kann man nicht gehen. Es gibt schon noch diese Entschlossenheit: "Wir machen weiter, wir kämpfen weiter." Aber gleichzeitig ist ein Bewusstsein um die deutlich verschlechterte Gesamtlage verbreitet. Es ist ja für jeden erkennbar, dass der Ukraine Waffen und Munition ausgehen; und dass es immer weniger Rekruten gibt.
Frage: Wie ist die humanitäre Lage im Land? Klappt die Versorgung, ist viel zerstört?
Meier: Die humanitäre Versorgung ist zum Glück gut. Auch von materiellen Zerstörungen sahen wir anders als vor zwei Jahren praktisch nichts mehr. Das wurde geräumt. Der Verkehr in Lemberg und Kiew läuft normal. Allerdings sind wir auch nicht weiter nach Osten gefahren. In den direkten Kampfgebieten wird die Lage schlimmer sein, auch was die Versorgung mit Medizin und Lebensmitteln angeht.
Was aber zutiefst aufwühlt, sind die menschlichen Zerstörungen. In Brovary besuchte ich einen Friedhof, auf dem ein ganzer Abschnitt aus den Gräbern von Gefallenen bestand. Junge Männer von Anfang 20 – das hat uns tief erschüttert. Der griechisch-katholische Pfarrer hatte auch Eltern, Mütter der toten Soldaten eingeladen. Gemeinsam gingen wir von Grab zu Grab und beteten zusammen. Das war der wichtigste und ergreifendste Moment der Reise. Mir fiel auf, dass die konfessionellen Unterschiede zwischen den Christen dabei kaum eine Rolle spielten. Die Menschen sind in ihrer Trauer vereint.
Frage: Papst Franziskus sorgte vor einigen Wochen für Empörung mit seinem Appell, Kiew solle "Mut zur weißen Fahne" haben und verhandeln, auch in der Ukraine. Was sagen Sie als Vertreter der Deutschen Bischofskonferenz dazu?
Meier: Kein vernünftiger Mensch kann in dieser Situation des Leidens und der militärischen Unterlegenheit sagen: Wir lehnen Verhandlungen generell ab. Zugleich bleibt klar, dass Russland diesen völkerrechtswidrigen Krieg begonnen hat und die Ukrainer für ihr Land und ihre Unabhängigkeit kämpfen wollen – und dass Deutschland und Europa die Pflicht haben, die Freiheit der bedrängten Ukraine zu unterstützen. Aber im Krieg sollte auch die Möglichkeit des Gesprächs immer in Erwägung gezogen werden. Der Papst spricht oft in plastischen Bildern – und wird dann missverstanden. Die "weiße Flagge" gilt uns als Symbol für Kapitulation. Franziskus meinte damit aber eine dringende Waffenruhe; als Voraussetzung dafür, dass man sich an einen Tisch setzt.
Es vergeht kein Angelus und keine Generalaudienz auf dem Petersplatz, bei denen der Papst nicht über das "gemarterte ukrainische Volk" spricht. Er sieht das Leid und will, dass es endet. Die Diplomatie des Heiligen Stuhls kann sich aus so einer Tragödie nicht einfach heraushalten. Vieles geschieht im Verborgenen. Aber manchmal braucht es auch klare Signale in der Öffentlichkeit.
Frage: In Kiew sprachen Sie auch mit dem päpstlichen Botschafter, Erzbischof Visvaldas Kulbokas. Können Sie dazu etwas sagen?
Meier: Bitte haben Sie Verständnis, dass ich mich zum Gespräch mit dem Nuntius nicht äußern kann.
Frage: Mit Ihrer Reise wollten Sie die Solidarität der katholischen Kirche in Deutschland zeigen und die humanitäre Zusammenarbeit mit kirchlichen Partnern stärken. Neben dem griechisch-katholischen Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk und Caritas-Vertretern trafen Sie auch Orthodoxe. Welche Rolle spielen die Kirchen in dem Konflikt?
Meier: Die Religionsgemeinschaften sind in der Ukraine ein starker Faktor im gesellschaftlichen Leben. Deshalb braucht es die Kirchen, wenn ein Dialog für den Frieden in Gang kommen soll, sowohl innerhalb der ukrainischen Gesellschaft als auch für eine mögliche Versöhnung mit dem russischen Volk. Umso wichtiger ist der ökumenische Schulterschluss der Christen. Und da habe ich den Eindruck, dass die Verbindungen in der Not enger und vertrauensvoller geworden sind.