Theologe Lumma: Liturgie entwickelt sich immer weiter
Liturgie ist immer im Fluss. Selbst nach der großen Liturgiereform nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat es kleinere Reformen gegeben, sagt Liborius Olaf Lumma. Der Liturgiewissenschaftler ist Privatdozent am Institut für Bibelwissenschaft und Historische Theologie der Universität Innsbruck. Im katholisch.de-Interview spricht er unter anderem darüber, warum es eine verbindende Liturgie braucht und worin der Dienst der Gläubigen in der Eucharistiefeier liegt.
Frage: Herr Lumma, in der Bibel wird davon berichtet, wie Jesus mit seinen Jüngern das Brot gebrochen hat. War das der erste Gottesdienst der Kirchengeschichte?
Lumma: Die Frage ist, wo Sie die Kirchengeschichte beginnen lassen. Beginnt sie im Abendmahlssaal, wo Jesus mit den Zwölf das Brot bricht und den Kelch teilt? Zumindest ist das ein Ausgangspunkt für die wichtigste christliche Liturgie, die es gibt: die Eucharistiefeier oder das Abendmahl. Diese Liturgie hatte von Anfang an eine besondere Stellung, weil sie so unmittelbar auf ein Vorbild Jesu bezogen werden konnte.
Frage: Woher kommt denn überhaupt die Idee, eine Liturgie – also einen Gottesdienst – zu feiern?
Lumma: Ich würde da fast umgekehrt fragen: Wie könnte man nicht auf die Idee kommen? In jeder Religion geht es darum, dass den Menschen die letzte Wahrheit von außen offenbart wird, jedenfalls nicht aus eigener Kraft. Es geht also um Transzendenz, biblisch gesprochen um Gott. Das kann man für den Menschen nicht anders erfahrbar machen als durch Symbole, Rituale und Zeremonien. Das ist letztlich die Grundidee, die hinter jeder Liturgie steckt: Sie will Unsichtbares sichtbar und erfahrbar machen.
Frage: Wie muss man sich denn Gottesdienste in der frühen Kirche vorstellen?
Lumma: Darüber wissen wir nicht so viel wie wir uns wünschen würden. Das Christentum ist gerade in den ersten 300 Jahren immer wieder politisch verfolgt worden und hat deswegen wenig Möglichkeiten gehabt, Zeugnisse in Form von Bauwerken, Schriften oder Bibliotheken zu hinterlassen. Deshalb kennen wir nur Bruchstücke und wissen nicht, wie repräsentativ das für die gesamte Christenheit zur damaligen Zeit ist. In den Quellen, die wir haben, können wir aber Strukturelemente finden, die es auch heute speziell in der Messe noch gibt: das Brechen und Teilen von Brot, das Trinken von Wein, das Lesen der Heiligen Schrift. Auch das Beten im Rhythmus des Tagesablaufs ist aus dieser Zeit überliefert, im Laufe der Jahrhunderte aber immer mehr in Vergessenheit geraten und heute als Stundengebet zu einer Spezialität von Ordensgemeinschaften und Priesterseminaren geworden, jedenfalls was die katholische Kirche angeht.
Frage: Wie haben sich denn – kurz umrissen – die Formen der Liturgie entwickelt? Und wie lange hat das gedauert?
Lumma: Das ist ein Prozess, der niemals endet. Liturgie ist immer im Fluss, sie entwickelt sich immer weiter. Solche Entwicklungen werden manchmal von oben angestoßen, beispielsweise durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965). Genauso können wir in der Liturgiegeschichte aber auch Entwicklungen von unten beobachten, bei denen wir heute gar nicht mehr wissen, wer damit begonnen hat. Manche Phänomene haben sich einfach verbreitet und sind dann Allgemeingut geworden. Liturgie weist auch von Beginn an eine kulturelle Vielfalt auf. Schon sehr früh wurde in der Weltstadt Rom anders Gottesdienst gefeiert als in der Weltstadt Alexandria oder später in der Weltstadt Konstantinopel. An verschiedenen Orten findet derselbe Glaube also unterschiedliche stilistische Ausdrucksformen – und dieser Prozess endet nie.
Frage: Sie haben das Zweite Vatikanische Konzil bereits angesprochen. Die letzte große Liturgiereform gab es im Anschluss daran mit der Einführung eines neuen Messbuchs. Hat es seitdem trotzdem noch Veränderungen gegeben?
Lumma: Von großen Veränderungen würde ich nicht mehr sprechen. Das Messbuch wurde zwar verschiedentlich neu aufgelegt – die offizielle weltkirchliche Fassung in Latein liegt mittlerweile in der dritten Auflage vor, die deutsche Fassung in der zweiten. Der Umgang mit dem Messbuch kann sich von Ort zu Ort und Generation zu Generation ändern, das sind aber eher kleinere Schritte und keine großen Reformprozesse.
Frage: Welche kleineren Schritte sind das denn beispielsweise?
Lumma: Da fällt mir als erstes der Umgang mit Körperhaltungen im Gottesdienst ein. Es gibt immer noch einen sich sehr traditionell äußernden Katholizismus, in dem das Knien in der Eucharistiefeier eine große Rolle spielt, obwohl das im Messbuch von 1969 gar nicht mehr so stark vorgesehen war, sondern das Stehen gestärkt werden sollte. Es hat aber einige Zeit gebraucht, bis dieser Impuls aufgegriffen und umgesetzt wurde. Solche Prozesse laufen schon allein in manchen Teilen Deutschlands und Österreichs unterschiedlich ab und es gibt manchmal sogar von Gemeinde zu Gemeinde Unterschiede, je nachdem, wer welche Impulse einbringt.
Frage: Obwohl der Gottesdienstablauf sehr genau vorgegeben ist, gibt es also doch Gestaltungsspielräume für die Gemeinden vor Ort?
Lumma: Es gibt Spielräume, die auch vom Konzil ausdrücklich so gewollt sind. In den Gemeinden haben wohl die wenigsten Menschen das Messbuch genau studiert. Da gibt es dann mitunter Diskussionen, wo die einen sagen: "Das steht so im Messbuch, so ist das vom Konzil gewollt." Und andere: "Das passt für uns nicht, das fühlt sich für uns nicht richtig an, das möchten wir anders praktizieren."
Frage: Sie haben die Inkulturation und die verschiedenen Bedürfnisse angesprochen. Warum ist es denn dann überhaupt sinnvoll, eine weltweit verbindliche Liturgie zu haben, die mit einem Messbuch festgeschrieben wird?
Lumma: Durch das gemeinsam auf gleiche Weise gefeierte Ritual soll Gemeinschaft im Glauben ausgedrückt und erfahrbar werden. Als katholischer Christ soll ich mich überall auf der Welt in der Eucharistiefeier zurechtfinden können – selbst, wenn ich die Sprache nicht verstehe. Die römisch-katholische Kirche war über viele Jahrhunderte und vor allem seit dem Konzil von Trient (1545–1563) bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil sehr stark darin, bis auf die kleinste Körperbewegung weltweit auf genaue Einheitlichkeit zu achten. Nach dem Zweiten Vaticanum ist die Kirche davon abgekommen – allein schon durch das Zulassen der jeweiligen Landessprachen. Letztlich ist es eine weltweit geführte Diskussion, wie viel Einheitlichkeit die Liturgie braucht, damit Einheit im Glauben erfahren werden kann, und wie viel Inkulturation die Liturgie braucht, damit sie in verschiedene Situationen, Kulturen und Gemeinden hineinsprechen kann. Auf diese Frage wird es wahrscheinlich nie eine gemeinsam gefundene Antwort geben.
Frage: Es heißt Gottes-Dienst. Als Außenstehender kann man gerade bei der Eucharistiefeier aber schnell den Eindruck gewinnen, dass genau einer handelt – nämlich der Priester – während alle anderen zuhören und -schauen. Wo liegt der Dienst der Gläubigen in der Eucharistiefeier?
Lumma: Alle, die an einer Eucharistiefeier teilnehmen und sich darauf einlassen, dienen Gott, indem sie sich auf ihn ausrichten, auf sein Wort hören und eine Gemeinschaft im Gebet bilden. Diese Gemeinschaft hat zwar einen Vorsteher, aber alle stehen gemeinsam vor Gott, geben sich ihm hin, vertrauen sich ihm an und lassen das Teil ihrer Identität sein. Das Zweite Vatikanische Konzil hat den Begriff der "participatio actuosa" stark gemacht, der aktiven Teilnahme aller Versammelten. Manche verstehen das allerdings falsch.
„Aber der Priester steht nicht mehr vor Gott als alle anderen vor Gott stehen und er trägt nicht mehr zur "participatio actuosa" bei als alle anderen.“
Frage: Inwiefern?
Lumma: Einige denken, "participatio actuosa" bedeutet, jede und jeder einzelne müsste etwas sichtbar als Einzelperson zu tun bekommen. So ist das aber nicht gemeint. Es geht bei "participatio actuosa" darum, dass die Menschen das, was sie tun, ernst nehmen, sich darin wiederfinden und mit ganzem Herzen innerlich zustimmen. Das schließt nicht aus, dass es einen Priester gibt, der besonders viel sichtbar handelt. Aber der Priester steht nicht mehr vor Gott als alle anderen vor Gott stehen und er trägt nicht mehr zur "participatio actuosa" bei als alle anderen. Viele Menschen kennen leider auch die Bedeutung nicht, die das Wort "Amen" in der Liturgie hat.
Frage: Welche Bedeutung hat es denn?
Lumma: Es bedeutet nicht, dass die Gemeinde sprichwörtlich zu allem Ja und Amen sagen muss, sondern Amen bedeutet eine ehrliche, innere Zustimmung. Mit dem Wort "Amen" schließen wir uns als Gebetsgemeinschaft zusammen, indem wir dem Gebet, das vorgetragen wurde, zustimmen und es uns zu eigen machen. Die Person, die das Gebet vorträgt, ist dann abhängig davon, dass die Gemeinde "Amen" sagt. Und das muss jede und jeder Einzelne freiwillig und aus innerer Überzeugung tun. Die Bedeutung dieses liturgischen Elements ist vielen Gottesdienstfeiernden meiner Erfahrung nach nicht klar. Und das ist sehr schade.
Frage: Welche liturgischen Reformen erwarten Sie in Zukunft? Oder wird die Liturgie so bleiben, wie sie jetzt ist?
Lumma: Es ist vom Zweiten Vatikanischen Konzil her so gedacht, dass zukünftige Entwicklungen der Liturgie sehr stark vom Papst abhängen. Was ich für möglich halte, ist, dass wir in weiteren Teilen der Welt etwas erleben, das es bisher erst einmal gegeben hat: In der heutigen Demokratischen Republik Kongo wurde in den 1980er-Jahren auf Antrag der dortigen Bischöfe eine spezielle Variante der römisch-katholischen Messe eingeführt, die bestimmte kulturelle Ausdrucksformen Zentralafrikas besonders aufgreift, beispielsweise Tanz bei der Gabenbereitung oder die Anrufung der verstorbenen Ahnen zu Beginn der Messe. Ich halte es für recht wahrscheinlich, dass wir eine solche Entwicklung in weiteren Teilen der Welt erleben werden. Ich glaube nicht, dass das Europa sein wird, aber es könnte Lateinamerika sein. Es könnten auch andere Teile Afrikas oder vielleicht auch Asiens oder Ozeaniens sein. Letztlich wird viel davon abhängen, welche Sichtweise der jeweilige Papst vertritt und wie sehr er solche Entwicklungen zulässt und fördert.