Theologe: Brauchen Abschied von Idee der katholischen Totalversorgung
Fast zehn Jahre lang hat Björn Szymanowski am Zentrum für angewandte Pastoralforschung (zap) in Bochum gearbeitet. Dort hat er auch seine Dissertation "Die Pfarrei als Dienstleistungsorganisation. Ein Beitrag zur praktisch-theologischen Präzisierung kirchlicher Sendung" verfasst. Zum 1. Juli wechselt Szymanowski vom zap in die Abteilung Pastoralentwicklung des Bistums Essen. Im katholisch.de-Interview spricht er unter anderem darüber, wie hoffnungsvoll er ist, dass sich das, was er in der Theorie erarbeitet hat, auch in der Praxis bewähren wird.
Frage: Herr Szymanowski, in Ihrer Dissertation schreiben Sie, die Pfarrei als "Normalfall" sei eine "in die Jahre gekommene, kraftlos gewordene Regel" und immer weniger handlungsfähig. Woran liegt das?
Szymanowski: Diese Formulierung bezieht sich auf den Regelfall der Pfarrei. Es gibt natürlich auch vitale Gemeinden und Pfarreien. Aber die Idee, wie wir Pastoral organisieren, ist insgesamt in die Jahre gekommen. Die gegenwärtige Form beruht auf dem, was in den 1970er Jahren gemeindetheologisch erarbeitet worden ist. Das war in dieser Zeit und auch lange danach ein echtes Erfolgsmodell. In der Realität läuft es heute in vielen Bereichen aber nicht mehr so positiv. Mit den klassischen Angeboten erreichen wir heute je nach Zählweise nur noch fünf bis zehn Prozent der Mitglieder. Das kann uns nicht genügen! Wir müssen als Kirche wieder stärker in Kultur und Gesellschaft Fuß fassen. Dieses Pastoralschema aus den 1970er Jahren schafft es aber nicht mehr, an die modernen Kontexte anzuknüpfen. Das hat auch damit zu tun, wie Gemeinschaft verstanden wird. Die Idee von Pfarrgemeinde beruht stark auf einer quasi familialen Beziehungsidee mit dem Pfarrer als pater familias. Diese Idee kann viel Kraft entfalten, aber gesellschaftlich hat sich gerade bei den jüngeren Generationen verschoben, was Gemeinschaft ist. Das ist heute viel situativer und viel mehr interessengeleitet. Das kollidiert mit der klassischen Gemeinschaftsvorstellung in vielen Gemeinden.
Frage: Ist die Pfarrei in der jetzigen Form also am Ende?
Szymanowski: Ich bin absolut kein Vertreter davon, jetzt den Abgesang der Gemeinde insgesamt einzuleiten. Man muss sehr genau schauen, für welche Region welcher Kirchort sinnvoll sein kann. Es gibt ja durchaus Regionen, in denen dieses Modell noch sehr gut funktioniert. Wir rutschen aber insgesamt immer weiter in eine Minderheitssituation und können was Personal und Mitglieder angeht, gar nicht mehr in so einer Idee der Vollabdeckung denken, die ja häufig noch hinter der Pfarreiidee steckt. Es braucht also Alternativen zum bisherigen Schema. Vereinfacht kann man sagen, dass faktisch jede zweite Generation neu erfinden muss, wie sie Pastoral vor Ort organisiert. Das fällt – auch mir persönlich – schwer, weil es mit Verlust zu tun hat und mit dem Überwinden dessen, was man für richtig gehalten hat. Und wir sind jetzt die Generation, die dran ist, diesen Wandel vor Ort durchzuführen.
Frage: Ihre Dissertation trägt den Titel "Die Pfarrei als Dienstleistungsorganisation". Wie kann so eine dienstleistende Pfarrei aussehen?
Szymanowski: In meiner Dissertation habe ich mich dazu entschieden, das Konzept Pfarrei neu zu denken. Dabei sind drei Prinzipien wichtig, die eine Dienstleistungsidee in der Kirche erfüllen muss. Das erste und wichtigste: Es braucht ein positives Bekenntnis zur pluralen Gegenwart, die ein Ort des Glaubens ist. Gerade in der Debatte um den Minderheitsstatus der Kirche kommt immer wieder die Idee auf, den Zeitgeist zu verdammen und sich als kleine Herde in die Komfortzone zurückzuziehen. Das ist eine realistische Gefahr, weil es einfacher ist, einen Schritt zurückzumachen, als zwei nach vorne. Wir brauchen aber Mut, die jüdisch-christliche Botschaft profilstark zu kommunizieren – und zwar so, dass sie zu den Lebenskontexten der Menschen passt.
Frage: Was ist der zweite Punkt?
Szymanowski: Wir müssen uns stärker um die gesellschaftlichen Bedarfe kümmern. Wir müssen analysieren, was die Gesellschaft von uns als Kirche erwartet – und wo sie uns braucht. Das war ja nicht zuletzt eine Erkenntnis der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung: Es gibt nach wie vor einen gesellschaftlichen Bedarf nach kirchlichem Handeln, aber – und das ist das Entscheidende – das ist nicht mehr der nach klassischer Kirchlichkeit. Vielmehr sind Kirchen dann besonders wichtig, wenn sie öffentlich zur Trauerbegleitung beitragen, sich für Solidarität und gegen Hass einsetzen oder Beratungsstellen für Menschen in schwierigen Problemlagen anbieten und sie an Lebenswendepunkten begleiten. Und der dritte Punkt: Wir brauchen eine Verflüssigung von Zugehörigkeitskategorien. Die Idee der Pfarrfamilien, bei der klar ist, wer dazugehört und wer nicht, trägt heute nicht mehr. Wir müssen auch andere Bindungs- und Beziehungsformen zur Kirche und letztlich zu Gott akzeptieren und fördern.
Frage: In allen Bistümern werden die Seelsorgeeinheiten größer, weil auch das Personal knapper wird. Was bedeutet das für den von Ihnen formulierten Dienstleistungsgedanken? Wird dieser damit nicht kaum noch umsetzbar?
Szymanowski: Die Ressourcenknappheit ist in jedem Szenario ein Riesenthema. Das Risiko von solchen Strukturvergrößerungen sehe ich vor allem darin, dass die klassischen Strukturen, die wir bisher kennen, einfach auf der jeweils höheren Ebene reproduziert werden und wir damit faktisch die Lösung von damals für die Lösung der Zukunft halten. Diese Versuchung liegt nahe, man sollte ihr aber nicht nachgeben. Es gibt eine lange Tradition, dass wir sehr viel in die klassischen Strukturen investieren, die wir kennen. Einige Bistümer geben die Hälfte ihres Budgets in die bisherige Pfarreienstruktur. Das wird so nicht weiter funktionieren, wenn man eine neue Gestalt von Kirche will. Es braucht daher einen Abschied von der Idee der katholischen Totalversorgung. Das ist etwas, das viele – und auch ich ganz persönlich – vermissen werden, weil man weiß, dass man überall zuhause ist und überall dieselben Strukturen wiederfindet. Aber es geht nicht anders.
Frage: Wie kann denn dann Kirche vor Ort aussehen?
Szymanowski: Zuerst müssen wir Kirche direkt plural denken: Neben Kirchorten eben auch Schulen, Caritas, Bildungseinrichtungen, Vereine, Verbände und viele mehr. Dann ist es sinnvoll, dass diese Kirche Teil von kommunalen, gesellschaftlichen Netzwerken wird, ohne gleich selbstverständlich die Mitte bilden zu müssen. So kann sie gemeinsam mit anderen Playern, wie zum Beispiel Sozialeinrichtungen oder Ehrenamtsagenturen, dazu beitragen, dass die Menschen ein besseres Leben haben und dass so vielleicht auch öfter über Gott gesprochen wird. Das ist der wesentliche Weg für eine gesellschaftliche Minderheit: in diesen Netzwerken aktiv zu bleiben. Wie das konkret aussehen und funktionieren kann, wird auch eine Frage sein, mit der ich mich im Bistum Essen beschäftigen werde. Es wird in diesen Netzwerken natürlich herausfordernder, ein gemeinsames Anliegen zu formulieren und sich mit anderen auseinanderzusetzen. Aber am Ende des Tages ist das aus meiner Sicht eine attraktive Idee von Kirche, weil sie nach der Zeit der Volkskirche einen neuen Ort in der Gesellschaft findet.
„Wenn man Dienstleistung auf dieser Ebene versteht, dann weiß ich nicht, welches Lehramt sagen sollte, dass das nicht in seinem Sinne ist.“
Frage: Für Menschen vor Ort bedeuten solche Strukturprozesse ja meistens: Die Seelsorgeräume werden größer und unpersönlicher, die Seelsorger vor Ort sind vielleicht weg und die Verbindung zur Kirche geht verloren. Wie kann man die Menschen an der Basis mitnehmen?
Szymanowski: Das ist die wichtigste Frage von allen. Es geht gar nicht bloß darum, Verständnis zu wecken, weil die meisten Menschen wissen, dass sich etwas verändern muss. Aber man blockt nachvollziehbarerweise da ab, wo es um Verlust geht. Da hilft es nur, das Gespräch zu suchen und wirklich ehrliches Interesse daran zu zeigen, warum es den Menschen wichtig ist, dass es vor Ort einen Ansprechpartner gibt. Dann geht es auch um die Kommunikation dessen, was mit den Prozessen beabsichtigt ist. Im Bistum Essen ist die Idee, durch die Zentralisierung von Verwaltungsaufgaben auch das Pastoralpersonal vor Ort zu entlasten. Wenn man das richtig angeht, bekommen viele Menschen die Gelegenheit, das zu tun, was sie prioritär tun möchten und wo ihre Charismen liegen. Dienstleistungsorientiert bedeutet in diesem Zusammenhang eben nicht, dass alles von oben nach unten bestimmt wird und einer Ägide folgen muss. Das Gegenteil ist der Fall: Wer eine Idee hat, muss sich nicht mehr nur um das Standardprogramm kümmern, sondern kann sich an Schwerpunktorten dafür einsetzen, dass es zielgerichtete Angebote für einen speziellen Personenkreis gibt. Man wird aber nicht vermeiden können, dass das an manchen Orten als Mangel wahrgenommen wird.
Frage: Wir haben bereits über Herausforderungen gesprochen. Man kann durchaus den Eindruck gewinnen, dass der Vatikan das mit dem Servicegedanken auch ein bisschen anders sieht: In der Instruktion "Die pastorale Umkehr der Pfarrgemeinde im Dienst an der missionarischen Sendung der Kirche" von 2020 heißt es: "In diesem Prozess der Erneuerung und der Neuordnung muss die Pfarrei die Gefahr vermeiden, einer exzessiven Bürokratie und Servicementalität zu verfallen, die nicht die Dynamik der Evangelisierung, sondern das Kriterium des Selbsterhalts aufweisen." Service und missionarische Sendung der Kirche scheinen also nicht wirklich zusammenzupassen, oder?
Szymanowski: Der Dienstleistungsbegriff kann sehr leicht missverstanden werden. Dienstleistung bedeutet, zuerst zu schauen, wo die Bedarfe des jeweils anderen liegen und dann gemeinsam an der Realisierung einer guten Lösung zu arbeiten. Der entscheidende Punkt dabei ist die Kreativität: Wenn ich ein konkretes Angebot wie etwa eine Segensfeier für Babys mache, dann muss ich schauen, was erfüllt sein muss, damit die Feier zu den Personen passt und wie ich es schaffe, dass sie nicht einfach dasitzen und konsumieren, sondern dass sie sich beteiligen können. Also: Wie können wir die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass Menschen nach Hause gehen und sagen: Ich habe hier eine richtig gute Inspiration mitbekommen, wie ich mein Leben anders gestalte. Im Idealfall spüren sie dabei sogar einen Hauch von Gottesberührung. Wenn man Dienstleistung auf dieser Ebene versteht, dann weiß ich nicht, welches Lehramt sagen sollte, dass das nicht in seinem Sinne ist.
Frage: Für Sie persönlich geht es nach fast zehn Jahren am Zentrum für angewandte Pastoralforschung (zap) nun in den Bereich Pastoralentwicklung des Bistums Essen – wenn man so will, also von der Theorie in die Praxis. Wie hoffnungsvoll sind Sie, dass sich Ihre Visionen auch in den Pfarreien und im Bistum umsetzen lassen?
Szymanowski: Im Bistum Essen hat man mutig beschlossen, dass man eine vitale Kirche mitten in der Gesellschaft sein möchte, die heute aber unter anderen Bedingungen funktionieren muss. Dazu möchte ich gerne einen Beitrag leisten. Natürlich ist so eine Doktorarbeit und das, was man theoretisch macht, immer etwas anderes als das, was in der Praxis existiert. Ich bin froh, dass wir am zap vielfach in Kooperationsprojekten gearbeitet haben und ich so viele Erfahrungen in kirchlicher Arbeit vor Ort sammeln durfte. Auch meine Dissertation habe ich mit einem starken Praxisbezug geschrieben – wenngleich die Realität immer anders aussieht. Aber ich glaube, unsere Kirche braucht gerade Ideen und Ideale. Diese müssen sich dann an der Praxis die Hörner abstoßen. Aber ohne eine Idee, wie es theoretisch weitergehen könnte, kommen wir auch in der Praxis nicht weiter. Die Kombination aus beidem ist daher entscheidend, weil sich das wirklich wechselseitig befruchten kann und das eine vom anderen lernt. Wahrscheinlich würde ich, wenn ich nach fünf Jahren im Bistum Essen auf meine Doktorarbeit zurückschaue, die ganze Arbeit ganz anders schreiben. Aber genauso soll es sein: Es geht um Hypothesen, die sich in der Praxis bewähren müssen. Wenn nicht, müssen wir andere aufstellen und neu ausprobieren.