Häresie in neutestamentlicher Zeit?

Das Neue Testament plädiert für theologische Diversität

Veröffentlicht am 30.06.2024 um 12:00 Uhr – Von Christian Blumenthal – Lesedauer: 

Stuttgart ‐ Gab es schon zur Zeit der Evangelien häretische Gruppierungen? Wie wurde mit unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen unter den Anhängern Jesu umgegangen? Das Neue Testament gibt keine eindeutige Antwort. Aber ein Blick auf den Kanon zeigt, dass Vieldeutigkeit meistens ausgehalten wurde.

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Im zweiten Jahrhundert laufen vielschichtige und weitverzweigte Prozesse zwischen kirchlichen Trägergruppen einzelner "neutestamentlicher" Schriften und Schriftcluster ab. Diese Prozesse lassen sich heute allerdings nur noch rudimentär und ausschnitthaft nachvollziehen. Deutlich ist: In Rom klinkt sich Markion Mitte des 2. Jh. in diese laufenden Prozesse ein und definiert seinerseits eine Sammlung von heiligen Schriften, die er als maßgeblich und kanonisch betrachtet. Dabei hat in seinem "Neuen Testament" nur ein einziges Evangelium Platz, nämlich das Lukasevangelium. Mit diesem Vorstoß, eine verbindliche Schriftensammlung zu definieren, fordert Markion die Großkirche heraus. Er treibt damit die dortige Ausbildung eines neutestamentlichen Schriftenkanons voran. Das Ringen war voller Konflikte und die Prozesse zwischen den verschiedenen Trägergruppen sicher alles andere als harmonisch. Um so mehr beeindruckt das Ergebnis: Die Großkirche ist Markions Beschränkung auf ein einzelnes Evangelium nicht gefolgt, sondern hat sich für vier Evangelien entschieden.

Diese Grundsatzentscheidung ist ein kaum zu überschätzendes Votum für Diversität. Sie macht Vielgestaltigkeit zum Programm, da sich die vier Jesuserzählungen von Markus, Matthäus, Lukas und Johannes keineswegs harmonisieren lassen. Der biblische Kanon – dies gilt für das Alte und das Neue Testament gleichermaßen – ist der stetige Appell, theologische Unterschiede und sogar handfeste Widersprüche auszuhalten. Das Ja zum biblischen Kanon ist – fußballerisch gesprochen – eine Absage an jegliche Fixierung auf einen Punkt wie den Anstoß- oder Elfmeterpunkt. Es ist eine Entscheidung zugunsten eines "theologischen Spielfeldes". Dieses Spielfeld mit Seitenlinie, Anstoßkreis, Mittelfeld, Strafraum und umfänglichen Laufwegen ist der weite, durch die Außenlinie begrenzte Raum für theologische Diskurse und religiöse Praxis. Durch die Ausbildung und Akzeptanz des biblischen Kanons verlagern sich sämtliche Diskussionen um Rechtgläubigkeit und Häresie weg von einem Punkt hin auf ein Feld. Die "Heilige Schrift" gewordene Diversität ist Erbe und Auftrag in aktuellen Diskussionen um (kirchliche) Einheit. Sie sollte damit auch zeitgenössische Versuche charakterisieren, "drinnen" und "draußen" zu definieren. Auch ist sie ein dauernder Aufruf, sich gegenseitig nicht leichtfertig "Rechtgläubigkeit" abzusprechen und sich vorschnell gegenseitig der Häresie zu bezichtigen.

Der Begriff "Häresie" kommt vom griechischen hairesis und wird in der nichtchristlichen Mitwelt wertfrei gebraucht. Er bedeutet "Nehmen" und davon abgeleitet Wahl, Vorsatz, Entschluss, Partei/Schule, Lehrmeinung. Aus diesem weiten Spektrum finden sich im Neuen Testament Belege für die Bedeutungen "Lehrmeinungen" (Apg 24,14) und "Schulen/Parteien" wie die der Sadduzäer oder Pharisäer (Apg 5,17; 15,5). Zudem nimmt hairesis in 1 Kor 11,19, Gal 5,20 und 2 Petr 2,1 spürbar negative Konnotationen an ("Spaltung"; "falsche Lehre").

Nicht zimperlich

Ich bezeichne mit dem Begriff "Häresie" Abweichungen in der Lehre, und zwar in Theorie und Praxis, in theologischer Überzeugung und deren sozialer Gestaltwerdung. Verkleinert man den Betrachtungsfokus von der Ebene Kanon auf die Ebene der Einzelschriften, stellt sich zunächst eine Irritation ein: Zahlreiche Verfasser neutestamentlicher Schriften sind nicht zimperlich, Abweichungen in der Lehre und deren sozialer Gestaltwerdung (= Häresie) zu markieren und scharf zu sanktionieren. So verflucht Paulus am Ende des ersten Korintherbriefes alle Menschen, die den Kyrios nicht lieben (1 Kor 16,22). Der Verfasser des ersten Johannesbriefes identifiziert Antichristen und Lügner in den Reihen seiner Adressatenschaft. Der Verfasser des Judasbriefes setzt auf krasse, befremdliche, ja verstörende Gegnerpolemik (z. B. Jud 8.10.12-13). Er labelt seine Gegner als von Gott Verurteilte (vgl. Jud 4.11.14-15) und attestiert ihnen, dass sie einen aus seiner Sicht elementaren Bestandteil des überlieferten Glaubensgutes (siehe Jud 3) aufgegeben haben. Auch wenn sich dieser Bestandteil heute nicht mehr eindeutig identifizieren lässt – möglicherweise geht es um den Glauben an die göttliche Geschichtshoheit –, steht für den Briefschreiber fest: Jeder Kontakt zu den Gegnern gefährdet die eigene Berufung zum Heil.

Rigide Grenzziehungen

Der Blick auf Paulus, Johannes und Judas vermittelt einen Eindruck, mit welcher Schärfe neutestamentliche Autoren ihre Adressatenschaft von "Häretikern" – genau genommen: von denjenigen, die sie als Abweichende in der Lehre definieren – abzugrenzen suchen. Eine religiöse Überzeugung oder Praxis als Abweichung von "Rechtgläubigkeit" einzustufen, ist immer eine Frage danach, wer die Definition vornimmt. Dessen Perspektive und Deutungshoheit wird so sichtbar. Im Neuen Testament stufen die Verfasser der einzelnen Schriften reale oder fiktive Personen als Gegner ein, bei denen sie Abweichungen in der theologischen Überzeugung und in der sozialen Umsetzung der Christusbotschaft diagnostizieren (beschreibungssprachlich: Häresie).

Die harte und unnachgiebige Vorgehensweise gegen Häresien schreckt ab und ist zugleich doch auch ein Indiz dafür, dass für die Autoren in der jeweiligen Kontroverse das "Ganze" einer christusgläubigen Existenz auf dem Spiel steht. Sie sehen sich gefordert, die gemeindliche Identität in der Jesusnachfolge zu profilieren, und zugleich die Gemeinde nach innen zu stabilisieren und nach außen abzugrenzen. Dabei ist dieses "Außen" sowohl die pagane Mitwelt und Mehrheitsgesellschaft als auch konkurrierende jüdisch-christliche Sinnentwürfe.

Heiligenfiguren auf dem Dach des Petersdoms in Rom.
Bild: ©andrea-goeppel.de/

Der heilige Paulus verflucht am Ende des ersten Korintherbriefes alle Menschen, die den Kyrios nicht lieben.

Demnach erweisen sich die mehr oder minder rigiden Grenzziehungen in den neutestamentlichen Schriften zwischen "Rechtgläubigkeit" und Abweichung, zwischen "innen" und "außen" als durchweg zweiwertig. Sie sind einerseits von einer existenziellen Heilssorge des jeweiligen Verfassers für seine Adressatenschaft getragen und dienen der Identitätsbildung. Sie konstituieren andererseits unausweichlich ein ausgeprägtes Abhängigkeitsgefälle: Der Autor beansprucht in der konkreten Situation oder Sachfrage theologische Deutungs- und Definitionshoheit. Die Ab- und Ausgrenzung von Andersgläubigen hilft dabei, seine Adressatenschaft von seinem eigenen theologischen Entwurf zu überzeugen. Das geht etwa bei Paulus im Galater- oder Philipperbrief mit dem Ansinnen einher, die Gemeinden fester an sich als Gemeindegründer zu binden, auch über seinen möglicherweise baldigen Tod hinaus (z. B. Phil 3,17-21).

Wer hat die Deutungshoheit?

In den Schriften kann man einen Aushandlungsprozess zwischen dem Verfasser und seiner Adressatenschaft beobachten. Dieser Prozess läuft zumeist hintergründig und verdeckt ab. Er dreht sich um beanspruchte und zugestandene Deutungshoheit, um die Einstufung einer bestimmten Überzeugung als Abweichung in der Lehre und die Akzeptanz dieser Einstufung. Zwischen dem Autor als der Macht beanspruchenden Instanz und der Adressatenschaft als der Macht zugestehenden Instanz stellt sich ein Kräftegleichgewicht ein, wenn die Adressaten dem Machtanspruch nicht schutzlos ausgesetzt sind. Ein wirksamer Schutz vor Machtmissbrauch kann etwa die Möglichkeit sein, auf andere (religiöse) Sinnangebote "vor Ort" zurückgreifen zu können. Für die Auswirkungen eines Gemeindeausschlusses spielt es eine entscheidende Rolle, ob solche Ausweichmöglichkeiten und Exitstrategien vorhanden waren. Ein Gemeindeausschluss infolge von "Häresie" wiegt für die Betroffenen umso einschneidender, je radikaler sie sich auf die Christusgemeinde eingelassen und andere soziale Einbindungen reduziert oder sogar gänzlich aufgegeben haben (z. B. Mk 8,29-30; Lk 9,57-62).

Zahlreiche neutestamentliche Diskurse um Abweichungen in der Lehre haben ihren inhaltlichen Fluchtpunkt in der Deutung Jesu (z. B. 1 Joh; Mk; Mt) und seiner Rolle im Heilsgeschehen (z. B. die "Rechtfertigungslehre" bei Paulus: "Der aus Glauben (an Jesus) Gerechte wird leben", nach Röm 1,17). Solche Diskurse betreffen zudem die Auferstehungsvorstellung (2 Tim) oder den Glauben an die endzeitliche Wiederkehr Jesu (z. B. 2 Petr 3,10). Wenn Häresie auch das gelebte Tun betrifft (vgl. Definition S. 11), dann sind zudem Abweichungen in der praktischen Lehre zu identifizieren: Hier sind Fragen rund um die soziale Gestaltwerdung, insbesondere die alltägliche Positionierung in der nichtchristlichen Mitwelt, virulent: Wie stark darf sich eine christusgläubige Gemeinde in das Alltagsleben der paganen Mitwelt integrieren? Der erste Petrusbrief versucht eine integrative Gratwanderung, die Johannesoffenbarung setzt hingegen auf eine radikale Abgrenzungspolitik.

Vier Blitzlichter zu "Lehr"-Abweichungen

Paulus: Für den Apostel steht fest, dass alle gerechtfertigt sind, die an Jesus Christus glauben
(z. B. Röm 1,16-17; "Rechtfertigungslehre"). Jüdische Identitätsmarker wie Beschneidung oder Einhaltung der Tora verlieren damit ihre exklusive Bedeutung. In den Gemeinden in Galatien, vielleicht auch in der Gemeinde in Philippi, treten Menschen in Erscheinung, welche die paulinische Fokussierung auf den Christusglauben in Zweifel ziehen. Sie wollen den jüdischen Identitätsmarkern wieder mehr Raum geben. Solche Bestrebungen relativeren in den Augen des Apostels aber die Rolle Jesu unzulässig.

Das Markusevangelium: Der Verfasser der ältesten Jesuserzählung entwirft ein mehrdeutiges Jesusbild. Dieses Bild verfügt über ein ungemein integratives Potenzial und vereinigt Aspekte von "Hoheits"- und "Niedrigkeits"-Christologie. Während die letztgenannte Spielart vor allem das Menschsein Jesu betont, akzentuiert die andere Richtung seine Gottheit. Damit diese gegenläufigen Vorstellungen die markinische Gemeinde nicht in zwei unversöhnliche Lager spalten, berücksichtigt der Erzähler beide Dimensionen in seinem Jesusbild gleichermaßen. Gegenseitige Vorwürfe von Abweichungen in der Lehre sollen so gar nicht erst aufkommen bzw. bestehende Vorwürfe zurückgebaut werden.

Evangelist Markus
Bild: ©Fotolia.com/Renáta Sedmáková

Der Evangelist Markus entwirft in seinem Evangelium ein mehrdeutiges Jesusbild.

1. Johannesbrief: Der Verfasser betont in 1 Joh 4,2 nachdrücklich, dass Jesus Christus "ins Fleisch" gekommen ist. Die Forschung geht immer wieder der Frage nach, inwieweit der Briefschreiber mit diesem Bekenntnis zur tatsächlichen Menschwerdung auf eine abweichende Inkarnationsvorstellung bei seinen Gegnern reagiert. Möglich wäre die Annahme, dass sie Ideen einer nur scheinbaren Menschwerdung vertraten (Doketismus) oder einer Trennungschristologie, der zufolge Jesus erst bei der Taufe zum Christus wird. Der Brief ist hier aber alles andere als eindeutig.

2. Timotheusbrief: Eine für ihn bedeutsame Abweichung in der Lehre skizziert der Verfasser in 2 Tim 2,18. Es geht um die gegnerische Behauptung, dass die Auferstehung schon geschehen sei. Für den Neutestamentler Gerd Häfner zeigt diese Behauptung eine gnostische Einfärbung. Sie deutet auf ein Auferstehungsmodell hin, wie es etwa das Philippusevangelium aus dem Schriftenfundus von Nag Hammadi bezeugt: "Solange wir uns in dieser Welt befinden, geziemt es sich für uns, uns die Auferstehung zu erwerben, damit wir, wenn wir uns vom Fleisch entkleiden, in (dem Ort) der Ruhe erfunden werden und nicht in der Mitte umherschweifen" (NHC II,3 63c).

Erbe und Auftrag: theologische Diversität aushalten

Ich habe den Betrachtungswinkel von einer Weitwinkeleinstellung auf das gesamte Neue Testament hin zu einer Fokussierung auf einzelne neutestamentliche Schriften verändert. Dieser Wechsel im Betrachtungswinkel konfrontiert unter dem Themenschwerpunkt "Häresie" mit einer spannungsvollen Gleichzeitigkeit: Die Einzelschriften zeugen vom existenziellen Ringen der neutestamentlichen Autoren, gemeindliche Identität in Abgrenzung zu profilieren und die Gemeinden nach innen zu stabilisieren. Dabei gehen sie möglicherweise so weit, Szenarien von Abweichungen in der Lehre zu entwerfen (vielleicht hat die Gegnerpolemik in Phil 3 fiktive Gegner im Blick). Die Adressaten sollen so in die Lage versetzt werden, Christus-Existenz im Hier und Jetzt zu leben und ihren Status als berufene Heilsempfänger in einen Dauerzustand zu überführen.

Die Weitwinkeleinstellung reflektiert dieses Ringen der Einzelschriften auf dem Spielfeld der diversen theologischen Entwürfe im neutestamentlichen Kanon und fordert dazu auf, theologische Diversität auszuhalten. Wer sich gegen theologische Diversität ausspricht, kann sich auf einzelne neutestamentliche Schriften berufen, nicht aber auf das Neue Testament als Ganzes.

Von Christian Blumenthal

Über den Autor

Prof. Dr. Christian Blumenthal ist Lehrstuhlinhaber für Exegese des Neuen Testaments an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind literarische Mehrdeutigkeiten, der Philipperbrief und das Markusevangelium.