Zwischen Kulturen und Religionen: Die Schweizer Nonne von Sarajevo
Rund 30 Jahre nach dem Bosnienkrieg ist Bosnien-Herzegowina eines der ärmsten Länder Europas. Das Land scheint in jeder Hinsicht noch immer ein Trümmerhaufen zu sein, denn nicht nur der Krieg hat das Land verwüstet, auch die politischen Verhältnisse scheinen den Status quo zu bewahren. Seit dem Krieg ist es unter anderem Transitland für den Drogenhandel nach Westeuropa. Doch eine Frau kämpft dagegen an: die Franziskanerin Magdalena Schildknecht aus der Schweiz.
Vor rund 25 Jahren kam die Ordensschwester nach Bosnien, um dort in der Friedensarbeit mit Jugendlichen aller Religionen etwas zu bewegen. So könnte man ihre Intention beschreiben: Aus der eigenen Sicherheit heraus in ein vom Krieg gezeichnetes und tief gespaltenes Land zu gehen, um jungen Menschen eine Perspektive zu geben – gerade nach all den Konflikten der Nachkriegszeit. Zuvor hatte die Ordensfrau 16 Jahre lang an der ordenseigenen Pädagogischen Hochschule für Psychologie, Pädagogik und Publizistik gearbeitet, bevor sie eine Art Aufbruchstimmung in sich spürte. "Damals drängte es mich einfach, wegzugehen", erzählt Schildknecht – nach Sarajevo.
Über 1400 Tage dauerte die Belagerung von Sarajevo
Wenn von Sarajevo die Rede ist, darf der Bosnienkrieg der 1990er Jahre nicht aus dem Blick geraten. Deshalb ein kurzer Überblick: Bereits 1914 war die Stadt Schauplatz des Attentats auf Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie, das einer der Hauptauslöser des Ersten Weltkriegs (1914-18) war. Danach, um 1918, wurde Sarajevo zusammen mit Bosnien Teil des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, auch Jugoslawien genannt. Der Zweite Weltkrieg brachte dann die Wende: Bosnien wurde Teil des so genannten Unabhängigen Staates Kroatien unter Führung der faschistischen Ustascha. Nach dem Zusammenbruch des Ustascha-Staates und dem Ende des Zweiten Weltkrieges (1939-45) wurde Sarajevo Hauptstadt der Teilrepublik Bosnien-Herzegowina innerhalb Jugoslawiens. Nach dem Zerfall Jugoslawiens wurde Sarajevo schließlich Hauptstadt des souveränen Staates Bosnien-Herzegowina. Kurz darauf begann der dreijährige Bosnienkrieg. Die Belagerung der Stadt gilt mit 1.425 Tagen als die längste in der Geschichte einer europäischen Stadt und kostete nach Angaben der bosnischen Regierung mehr als 10.000 Menschen aller Volksgruppen das Leben, darunter 1.600 Kindern. Etwa 50.000 Menschen wurden durch Minen, Scharfschützen und Granaten schwer verletzt.
Doch auch nach dem Krieg wurde es nicht besser. Spaltungen und Streit lagen in der Luft, auch als Schildknecht im Jahr 2000 nach Sarajevo kam. Ob sie etwas tun könne, fragte sich die Schweizer Ordensfrau damals. "Es ergab sich einfach, dass ich nach Bosnien kam und in Banja Luka bei einheimischen Ordensfrauen die Sprache lernte", betont die Franziskanerin. Zeitgleich mit ihrer Ankunft erhielten die Ordensfrauen in Sarajevo eines ihrer Häuser zurück, aus dem sie 1995 während des Bosnienkrieges vertrieben worden waren. Daraus wurde eine therapeutische Gemeinschaft für Drogenabhängige, aus der schließlich ein Verein entstand.
Wieder lernen, miteinander zu leben
Die bosnischen Franziskaner in Sarajevo hatten Schildknecht angefragt, ob sie nicht mit ihnen zusammenarbeiten wolle, vor allem im Bereich der Drogentherapie. Das sei in den 90er-Jahren mit und nach dem Bosnienkrieg ein "ganz heißes Thema" gewesen, sagt sie, man habe vor allem Druck auf die Politik machen wollen. Die Zusammenarbeit habe sich schnell ergeben, sie habe sich in der Suchtprävention engagiert und sei so zur Jugendarbeit gekommen, die sie sich schon lange gewünscht habe. Gesunde Formen der Freizeitgestaltung, Stärkung der persönlichen Fähigkeiten und der eigenen Gemeinschaft – so in etwa lautete das Programm, das in überwiegend gemischten Gruppen stattfand. Gemischt meint hier die verschiedenen Nationalitäten, Kulturen und Religionen, was an einem Beispiel besonders deutlich wird: In Zentralbosnien gibt es in mehreren kleineren Städten das Phänomen von zwei Schulen unter einem Dach, aber mit unterschiedlichen Lehrplänen. Schildknecht nennt in diesem Zusammenhang die Stadt Vitez, in der die Kroaten eine leichte Mehrheit haben. Die Stadt selbst war schon in der Vergangenheit eher kroatisch geprägt. Als die Ordensschwester 2001 nach Vitez kam, gab es bereits zwei Schulen unter einem Dach – eine kroatische und eine bosniakische. Vor dem Krieg war das anders – eine Schule für alle Kinder und Jugendlichen. Doch nach dem Krieg wurde sie so eingerichtet, dass die Schülerinnen und Schüler zu unterschiedlichen Zeiten in die Schule kamen und unterschiedliche Lehrpläne hatten. Eines der Ziele Schildknechts in der Jugendarbeit war es daher, die Jugendlichen außerhalb der Schule zusammenzubringen, um dem Ethno-Nationalismus entgegenzuwirken und zu zeigen, wie bereichernd Pluralität und Vielfalt sein können.
Bis 2016 setzte sich die Ordensfrau mit ihrem Verein auch bei Schülern und Studenten in Sarajevo dafür ein, dass katholische Kroaten, muslimische Bosniaken und orthodoxe Serben wieder lernen, miteinander zu leben – im Jerusalem Europas, wie es oft genannt wird. Aus diesem Verein wurde später die erste Fachstelle für Suchtprävention in Bosnien. Das sei schon etwas Besonderes, sagt die Ordensfrau: "Die meisten NGOs, die von Ausländern aufgebaut wurden, haben sich leider wieder aufgelöst, trotz meist sehr sorgfältiger Übergänge", erzählt sie. In diesem Fall habe es gut funktioniert. Wenn sie von Übergängen spricht, meint sie Einheimische, die die von Ausländern gegründeten Vereine oder Organisationen nach und nach übernehmen. "Die Jüngeren, die sich dieser Arbeit gewidmet haben, haben sich fachlich weiterentwickelt", fügt sie hinzu.
Sie selbst habe sich aus der Jugendarbeit zurückgezogen. Motiviert durch die Pandemie Covid-19 und die damalige Ausgangssperre für über 65-Jährige wurde im Franziskanerkloster in Sarajevo beschlossen, einen Verein zur Förderung der gesellschaftlichen Solidarität zu gründen. Der Name der Organisation: "Ein Herz für den Nächsten". Oder besser gesagt: ein Herz für alte Menschen. "Wir haben ein Projekt im Sinne der Nachbarschaftshilfe ins Leben gerufen, bei dem Freiwillige regelmäßig eine ältere Person besuchen, die allein ist, in ihrer Mobilität eingeschränkt ist, keine Angehörigen hat und unter dem Existenzminimum lebt", erklärt die Ordensfrau. Doch auch bei dieser Arbeit stieß Schildknecht auf Probleme. Diese seien aber ein Mentalitätsproblem. "Das Misstrauen der alten Menschen ist enorm. Das macht es sehr schwierig, an sie heranzukommen und sie überhaupt in ihre Wohnung zu lassen", erzählt sie. Dennoch lässt sie sich nicht davon abhalten, weiterzumachen - auch mit einem weiteren Projekt mit und für ältere Menschen. Darin versucht sie, mit Gruppen älterer Menschen darüber nachzudenken, was es bedeutet, in der Gesellschaft alt zu werden, und was ältere Menschen zur Entwicklung dessen beitragen können. Gerade im Kontext von Bosnien-Herzegowina sei dies eine sehr wichtige Frage. Die Lebenserwartung sei geringer und ältere Menschen würden mit dem Eintritt in den Ruhestand meist schwer krank, so die Ordensfrau: "Das aktive Alter, wie wir es in unseren Ländern kennen, gibt es hier nicht. Die Gruppe der älteren Menschen verschwindet mit 65 Jahren aus dem öffentlichen und politischen Leben", erklärte sie weiter.
Beeindruckende interkulturelle Erfahrungen
Was getan werden kann, weiß Schildknecht zu beantworten: "Wenn wir uns diese demografische Entwicklung anschauen und eben auch, dass die Älteren einfach verschwinden, dann ist das für uns auch eine Aufforderung zu schauen, wie wir sie für eine aktive Beteiligung gewinnen können". Dies scheint jedoch ein schwieriges Unterfangen zu sein, da die meisten in den 1940/50er Jahren geboren wurden, was im Kontext von Bosnien-Herzegowina bedeutet, dass sie durch das kommunistische System geprägt wurden. Als Beispiel nannte sie den Tag der älteren Menschen, der am 1. Oktober gefeiert wird. Die gemeinsame Gestaltung stelle sich dann als sehr schwierig dar: "Sie haben leider keine eigenen Ideen, sondern sagen mir, ich soll ihnen sagen, was sie machen sollen. Und das machen sie auch, aber selbst mitdenken – das geht nicht", sagt Schildknecht. Gerade das kritische Denken sei auch in der Jugendarbeit eine sehr große Herausforderung, da es zu wenig gefördert werde. Für die Weiterentwicklung der Gesellschaft sei dies aber ein wichtiger Faktor.
Und doch berichtet die Ordensfrau auch von beeindruckenden interkulturellen Erfahrungen, etwa bei den Konzerten der Musikakademie Sarajevo, die regelmäßig in der Franziskanerkirche stattfinden. "Da sind dann 60 bis 80 junge Leute, die zum Beispiel auch lateinische Messen singen, und von denen sind 80 Prozent Muslime", erzählt sie. Ein anderes Beispiel ist die Mitternachtsmesse an Weihnachten. In den ersten Jahren nach ihrer Ankunft in Sarajevo sei sie immer wieder erstaunt gewesen, wie wenig gesungen wurde. Später, so Schildknecht, habe sie erfahren, dass ein Teil der Gottesdienstbesucher Muslime gewesen waren. Es sind die kleinen Schritte der Begegnung, die das Zusammenleben fördern. Wenn die jungen Menschen das Land nicht verlassen, um im Westen ein besseres Leben zu finden, könnten gerade diese kleinen Schritte langsam die notwendigen Veränderungen bringen.
Der Text ist im Rahmen der Journalistenreise der KNA-PROMEDIA-Stiftung nach Sarajevo entstanden.