Buch will Bibelstellen zu sexualisierter Gewalt zur Sprache bringen

Theologe Heek: Toxische Männlichkeit steckt in vielen Bibeltexten

Veröffentlicht am 21.09.2024 um 12:00 Uhr – Von Christoph Brüwer – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die Bibel gilt als heilige Schrift. Gleichzeitig gibt es im Buch der Bücher auch Stellen, die absolut unheilig sind, sagt Theologe Andreas Heek. Er ist Mitherausgeber eines neuen Buches, das sich mit solchen Stellen beschäftigt. Im katholisch.de-Interview spricht er darüber.

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Biblische Texte haben nicht nur selbst sexualisierte Gewalt zum Thema, sie wurden auch zur Anbahnung sexualisierter Gewalt verwendet, sagt Andreas Heek. Er ist Mitherausgeber eines neuen Buches, das sich mit dieser Seite von Bibeltexten beschäftigt. Warum die Kirche solche Texte trotz ihrer Inhalte in der Pastoral, im Religionsunterricht und auch in der Liturgie verwenden sollte, sagt der promovierte Theologe Heek im katholisch.de-Interview. 

Frage: Herr Heek, in Ihrem Buch greifen Sie und weitere Autorinnen und Autoren biblische Texte auf, die sexualisierte Gewalt thematisieren. Was wollen Sie damit erreichen?

Heek: Wir wollen damit vor allem darauf aufmerksam machen, dass man biblische Texte nicht nur naiv bejahend lesen sollte, sondern kritisch. Grundsätzlich ist die historisch-kritische Methode der Bibelexegese heute natürlich gängig. Textkritik im Hinblick auf sexualisierte Gewalt in der Bibel ist aus unserer Sicht aber nicht so häufig.

Frage: Die Bibelstellen, die Sie dabei herausgreifen, sind eher unbekannt und werden beispielsweise in der Liturgie kaum verwendet. Warum sollte man sich trotzdem damit auseinandersetzen?

Heek: Es gibt das Bild der Bibel als heilige Schrift, das häufig so gedeutet wird, dass alle Texte von Gott gegeben und insofern heilig seien. Wir wollten darauf aufmerksam machen, dass es Texte in der Bibel gibt, die absolut unheilig sind. Wir sprechen an einer Stelle beispielsweise von der Textgattung "Texts of Terror", wo Gott gewalttätig auftritt und wir möchten darauf hinweisen, dass auch solche Gottesbilder kritisch hinterfragt werden müssen. Außerdem wollen wir den Fokus darauf lenken, wie man im Religionsunterricht, in der Verkündigung oder in der Pastoral mit solchen Texten umgehen kann und umgehen muss.

Das Cover des Buchs "Zur Sprache Bringen" vor einer Reihe von Büchern
Bild: ©adobestock/adistock | Verlag Grünewald | Montage: katholisch.de

Mit dem Buch "Zur Sprache bringen" wollen die Autorinnen und Autoren biblische Texte kritische auf die Systeme sexualisierter Gewalt untersuchen, die ihnen zugrunde liegen. Aber auch das heilsame Potenzial mancher Bibelstellen soll analysiert werden.

Frage: Wie kann das denn aussehen? Sollte man solche schwierigen Texte überhaupt im Religionsunterricht lesen – oder lieber vermeintlich leichtere, wie etwa das Gleichnis vom barmherzigen Samariter?

Heek: Eine geschlechterkritische Lesart, die einen genauen Blick auf die Männlichkeitsbilder wirft, kann man nicht nur auf die Bibelstellen anwenden, die wir in unserem Buch aufgreifen. Das geht auch für andere biblische Texte – auch in Bezug auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. In der Bibel wird insgesamt ein maskulines Bild von Gott gezeichnet, dass die Herrschaft des Mannes über die Frau thematisiert. Das ist eine problematische Männlichkeitsvorstellung, die sich sogar in der Gottesvorstellung manifestiert. Der Bamberger Alttestamentler Joachim Kügler nennt das das Zeus-Syndrom: Zeus nimmt sich, wen und was er will, und missbraucht auch sexuell. Diese Männlichkeitsvorstellung hat sich auch auf das christliche Menschenbild übertragen: Der Mann – mit einer ganz bestimmten Vorstellung von Männlichkeit – herrscht über die Frau. Diese toxische Männlichkeit steckt in vielen biblischen Texten.

Frage: Was bedeutet das theologisch? Wenn die Bibeltexte Gott mit einem solchen Männlichkeitsbild beschreiben, ist Gott dann nicht vielleicht genauso?

Heek: Aus der religionsgeschichtlichtlichen Forschung wissen wir heute, dass die Geschichte der Religion meistens eine Männlichkeitsgeschichte ist, bei der es nicht nur um Liebe und Zuwendung geht, sondern um Herrschaft über den Menschen – und damit auch um die Herrschaft des Mannes über die Frau. Gerade ins Alte Testament wurden unterschiedliche Gottesbilder aufgenommen, die sich teilweise konträr gegenüberstehen. Diese Gottesbilder müssen wir heute miteinander ins Gespräch bringen – und mit dem in Beziehung setzen, was wir an Erkenntnissen zum Thema Geschlechtergerechtigkeit heute haben.

Frage: Wir können heute also nicht mehr sagen: Das ist das Bild von Gott, das die Bibel vermitteln will und so sollen wir Christinnen und Christen ihn uns vorstellen?

Heek: Mit den hermeneutischen Mitteln, die wir heute haben, ist diese Art von Gott zu sprechen, nicht mehr die richtige. Wir müssen heute ein Stück weit neu von Gott sprechen. Eine Autorin hat das versucht, in dem sie ausgehend von ihren eigenen Missbrauchserfahrungen neue Psalmen schreibt, die diese gewalttätige Seite Gottes thematisieren und gleichzeitig einen Zugang zur heilenden Bedeutung anderer Gottesbilder verschaffen. Denn diese heilende Seite wollen wir genauso thematisieren wie die toxische Seite des männlich konnotierten Gottesbildes nicht verschweigen. Mit einer kritischen Lesart können wir biblische Texte neu entdecken, die tatsächlich Trost spenden können für Menschen, die beispielsweise Gewalt erfahren haben.

Der Leiter der Arbeitsstelle für Männerseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz, Andreas Heek
Bild: ©Privat (Montage: katholisch.de)

Andreas Heek leitet die kirchliche Arbeitsstelle für Männerseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz. Außerdem ist der promovierte Pastoraltheologe Geschäftsführer des Forums katholischer Männer und koordiniert die Bundesarbeitsgemeinschaft für Queerpastoral in den deutschen Diözesen.

Frage: Können solche Texte nicht gerade für Menschen, die Gewalt im Raum der Kirche erfahren haben, retraumatisierend wirken?

Heek: In unserem Buch haben wir versucht, an potenziell retraumatierenden Stellen einen Warnhinweis zu setzen und wir sprechen dieses Potenzial auch im Vorwort an. Auch wenn sich möglicherweise nicht ganz vermeiden lässt, haben wir uns trotzdem dazu entschieden, dieses Buch zu schreiben, weil es viele Bibeltexte gibt, die auch zur Missbrauchsanbahnung benutzt worden sind. Das muss benannt und verhindert werden. Wir wollen somit im besten Sinne Aufklärung betreiben und so auch möglichen Tätern ihre Mittel nehmen.

Frage: Wie lassen sich die Texte denn in der kirchlichen Praxis verwenden? Oder sollte man darauf eher verzichten?

Heek: Wir wollen dazu inspirieren, auch biblische Texte für den Religionsunterricht, die Katechese oder die Predigt zu verwenden, die nicht im üblichen Kanon des Lesekreises stehen. Diese Schriften bieten eine gute Möglichkeit, um über das Verhältnis der Geschlechter auch innerhalb der Kirche zu sprechen, oder über Machtverhältnisse oder sexualisierte Gewalt. Es gibt natürlich Gründe, warum grausame Stellen von Gruppenvergewaltigungen, die in der Bibel geschildert werden, nicht in die liturgische Leseordnung aufgenommen wurden. Aber die Bibel ist kein Kitsch-Roman. Sie beschreibt das Leben in allen Facetten. Wir sollten diese Stellen deshalb trotzdem nennen und zeigen, dass man mit der Kraft Gottes auch schlimme Situationen des Lebens durchstehen und darin Heil finden kann.

Frage: Höre ich da auch Kritik heraus, dass im kirchlichen Kontext zu oft Texte verwendet werden, die vermeintlich einfacher sind, und man solche expliziten, gewaltvollen Darstellungen lieber unter den Teppich kehrt?

Heek: Das passiert nicht nur mit solchen Texten, sondern auch mit sehr schönen: Das Hohelied der Liebe wurde früher in manchen Volksausgaben der Bibel gar nicht verwendet, weil es explizit romantische und erotische Stellen enthält. Auch schwierigere Texte sollten thematisiert werden. Das macht die Verkündigung gerade spannend, weil wir sonst oft das Gefühl haben, dass beispielsweise in Predigten immer wieder dieselben Texte auf bejahende Weise lediglich nacherzählt werden. Hier wären gerade auch widerständige Texte bewusst zu benutzen, um deutlich zu machen: Wir haben verstanden, dass wir selbstkritisch mit unserer Religion umgehen müssen, um das heilsame Potenzial dessen, was wir in der Pastoral tun, auch wirklich glaubwürdig vertreten zu können. Dafür müssen wir diese Stellen auch thematisieren und können sie nicht ständig ausblenden, wie das in der Vergangenheit zu oft passiert ist.

Von Christoph Brüwer

Buchtipp

Andreas Heek, Aurica Jax, Ilse Müllner, Annegret Reese-Schnitker (Hg.): Zur Sprache bringen. Biblische Texte und sexualisierte Gewalt in Pastoral und Schule, Matthias Grünewald Verlag 2024, ISBN: 978-3-7867-3346-1, 216 Seiten, 22 Euro.