Kirchenrechtler Pulte: Empörung über Kirchenasyl-Bruch unangebracht
Der Mainzer Kirchenrechtler Matthias Pulte hat sich gegen Empörung bei Brüchen des Kirchenasyls ausgesprochen. Das Kirchenasyl sei trotz staatlicher Duldung eine "Durchbrechung der staatlichen Rechtsordnung", die ihre Grenzen dort finden müsse, "wo die überpositive Toleranz der staatlichen Administration an ihre rechtsstaatlichen Grenzen stößt", schreibt Pulte in einem Beitrag für den Blog der "Zeitschrift für Kanonisches Recht" der Universität Münster (Donnerstag). "Daher ist jegliche medial inszenierte Empörung unangebracht, wenn der Staat unter Einhaltung der Übereinkunft von 2015 sein Gewaltmonopol durchsetzt und Personen aus dem Kirchenasyl entfernt und ggf. in sichere (Dritt-)Staaten abschiebt, wie das zuletzt im September 2024 in Hamburg geschehen ist."
Pulte bezieht sich auf einem Fall, in dem ein 29-jähriger Afghane aus dem Gebäude einer katholischen Pfarrei in Hamburg von den Behörden abgeholt wurde. Diese Kirchenasyl-Räumung war die erste in Hamburg, bundesweit hatten Behörden zuletzt immer wieder Kirchenasyle geräumt. Nach der Räumung in Hamburg gab es eine Mahnwache in der Hansestadt. Der Hamburger Erzbischof und Flüchtlingsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz, Stefan Heße, hatte sich betroffen über den Fall gezeigt.
Argumentation überzeuge in religionsneutralem Verfassungsstaat nicht mehr
Der Kirchenrechtler erklärt, dass das Christentum das Institut des religiösen Asyls aus dem Judentum übernommen und über 1.500 Jahre lang in der europäischen Rechtskultur verankert habe. "Von nun an verstand sich die Kirche als jene Institution, die den Verfolgten aus christlicher Gesinnung Beistand gegen ihre Verfolger leisten musste, insbesondere weil es an einer unabhängigen Rechtsprechung mangelte", schreibt Pulte. Das Asylrecht ergebe sich direkt aus dem Barmherzigkeitsgebot der Bibel und der rechtlichen Autonomie der Kirchen. "Wenigstens der letztgenannte Argumentationshorizont überzeugt im religionsneutralen Verfassungsstaat mit seinen umfassenden Rechtsschutzgewährleistungen aus Art. 19 Abs. 4 GG nicht."
Grundsätzlich sei das Kirchenasyl aus juristischer Perspektive schwer in die Ordnung der Bundesrepublik zu integrieren. Pulte sieht in der Praxis am ehesten eine Gewissensentscheidung im Sinne des Grundgesetzes und damit eine "ultima ratio" zum Schutz einer Person auf Ebene des zivilen Ungehorsams. "Daraus lässt sich nicht mehr als eine staatliche Duldung einer gegengesetzlichen Praxis ableiten. Ein Rechtsinstitut des Kirchenasyls gibt es nicht." Seit einer Übereinkunft des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) mit den Kirchen aus dem Jahr 2015 erkenne der Staat das Kirchenasyl als überpositive Tradition an. Dabei würden die staatlichen Stellen über den Verbleib der sich im Kirchenasyl befindenden Personen in Kenntnis gesetzt. "Damit besteht staatlicherseits jederzeit die Möglichkeit des Zugriffs und damit die Durchsetzung seines Gewaltmonopols, weil Kirchen und Kirchhöfe unstrittig in der Gegenwart nicht mehr als exemte Orte anerkannt sind, die den Zugriff durch die Behörden ausschließen würden."
Rechtsanspruch auf Kirchenasyl bestehe nicht
Gleichzeitig betont Pulte, dass die Gewährung von Kirchenasyl nicht immer gegen die Gemeinwohlinteressen des Staates verstoße und es im Interesse des Staates liegen könne, ein regelbasiertes Kirchenasyl wie in Deutschland rechtlich nicht zu beanstanden. "Dabei handelt es sich um eine Wertentscheidung der Staatsorgane, die eher auf humanitären Gesichtspunkten beruht als auf einer strengen verfassungsrechtlichen Subsumption", erklärt der Kirchenrechtler. "Ein Rechtsanspruch, seitens der Kirchenasyl gewährenden Personen oder Gruppen, auf eine solche Wertentscheidung des Staates besteht freilich nicht."
Beim Kirchenasyl nehmen Kirchengemeinden oder Ordensgemeinschaften vorübergehend Asylbewerberinnen und Asylbewerber in ihren Räumen auf, um eine Abschiebung in ihr Heimatland oder die Rücküberstellung in ein anderes EU-Land aufgrund des sogenannten Dublin-Verfahrens abzuwenden. Seit der 2015 getroffenen Übereinkunft zwischen Bamf und Kirchen müssen alle Kirchenasylfälle gemeldet werden. Innerhalb eines Monats muss ein Dossier über den Asylsuchenden beim Bamf eingereicht werden, das den Fall noch einmal prüft. Wird dieser Antrag abgelehnt, müssen die Betroffenen eigentlich das Kirchenasyl verlassen. In vielen Fällen verbleichen die Asylsuchenden trotzdem im Kirchenasyl, bis die Überstellungsfrist abgelaufen und Deutschland damit formal für das Asylverfahren zuständig ist. (cbr)