Vor 75 Jahren gab der Papst dem Radsport eine Schutzpatronin
Nicht nur der Fußball in Italien hat seine eingefleischten Fans, sondern auch der Radsport. Einer von dessen zahllosen "Tifosi" war Don Ermelindo Vigano, den sein Mailänder Erzbischof 1944 als Pfarrer nach Magreglio am Comer See versetzte. Zu dem Ort auf dem Colle Ghisallo, einem Berg im Dreieck zwischen den beiden Armen des Sees, gehört auch eine Kapelle. Hier verehrten die Menschen der Region über Jahrhunderte das Bild einer stillenden Muttergottes.
Allerdings blieb die Zahl der Pilger übersichtlich – bis sich im Herbst des Jahres 1905 von Bellagio am Seeufer kommend eine Karawane keuchend den Weg zur Kapelle hinaufquälte: die Teilnehmer der vom italienischen Radrennfahrer Giovanni Gerbi ersonnenen ersten Lombardei-Rundfahrt. Auch in den Folgejahren führte das Rennen stets zum Ghisallo hinauf. Wer oben an der Madonna unter den ersten war, hatte gute Chancen, im Ziel in Mailand auf dem Podium zu stehen.
Dieses Jahr dabei: Pogacar und Evenpoel
Don Vigano, der seit 1945 jedes Mal mit Hunderten anderer Tifosi am Straßenrand stand, sah darin einen Wink des Himmels. Und so baute der umtriebige Seelsorger den Ghisallo zu einem Wallfahrtsort für Radsportler aus. Die Frommen unter ihnen überzeugte er, der Madonna ein Trikot als Votivgabe zu überlassen. Manche spendeten ein Rad, andere Pokale – sicherlich auch zur eigenen Ehre.
Am 12. Oktober passiert nun die Lombardei-Rundfahrt, die als "Rennen der fallenden Blätter" die offizielle Radsport-Saison beschließt, erneut die Madonna del Ghisallo. Dieses Jahr werden einige der Besten dieses Jahres dabei sein: der Tour-de-France- und Giro-d'Italia-Gewinner sowie frisch gebackene Weltmeister Tadej Pogacar und Doppel-Olympiasieger Remco Evenepoel; der vierfache Vuelta-a-Espana-Gewinner Primoz Roglic sagte kurzfristig ab. Einen Tag später wird ihre Schutzpatronin 75 Jahre alt. Es war der 13. Oktober 1949, als Papst Pius XII. sie zur "Patronin der italienischen Radfahrer" erklärte.
Die entsprechende Urkunde hängt heute an der rechten Innenwand der Kapelle. In lateinischen Sätzen, die länger scheinen als der gut zehn Kilometer lange Anstieg hinauf nach Ghisallo, heißt es dort: "... nach einigen Erkundigungen und Unserer reiflichen Überlegung sowie mit der Fülle Unserer Autorität und kraft dieses Schreibens erwählen und dekretieren Wir auf ewig die Seligste Jungfrau Maria unter dem Titel 'von Ghisallo' zur wichtigsten Himmlischen Fürsprecherin der Italienischen Radfahrer bei Gott."
Wie es dazu kam, deutet die Urkunde ebenfalls an: "In der Tat, die Union der Velozipeden Italiens, auf Initiative des geschätzten Sohnes Ermelindo Vigano, Pfarrer von Magreglio, präsentierte Uns drängende und demütige Bitten", damit die Jungfrau von Ghisallo "zur wichtigsten himmlischen Patronin erklärt würde." In der Tat muss Vigano den Heiligen Vater in Rom intensiv bearbeitet haben – auch mit Hilfe seines Erzbischofs, Kardinal Alfredo Ildefonso Schuster, sowie des Nationalen Radsportverbandes.
Eine ewige Flamme für "die Gefallenen"
In der Mitte der Kapelle steht die etwa 1,5 Meter hohe Plastik einer überdimensionalen Fackel. Auf ihr sind in drei Szenen Pius XII. und diverse Radsport-Granden Italiens zu sehen. Die vierte Seite zeigt eine Darstellung der stillenden Madonna. Tag und Nacht brennt eine elektrische Flamme: Symbol für die Frömmigkeit der Radfahrer, wie es heißt, und Erinnerung an die "Gefallenen".
Wandtafeln präsentieren Bilder jener, die "auf der Straße fielen, weil sie einen Traum des Ruhmes verfolgten, den sie sich im Lichte des Opfers ihres jungen Lebens erfüllten". Unter den Votivgaben ist auch das Rad von Fabio Casartelli. Das hoffnungsvolle Radsporttalent, geboren in Como, war 1995 bei der Tour de France auf einer Abfahrt in den Pyrenäen gestürzt, mit dem ungeschützten Kopf auf einen Betonpfeiler geknallt. Es brauchte indes noch acht Jahre und einen weiteren tödlichen Unfall, bevor der Radsport-Weltverband (UCI) für Profis die Helmpflicht einführte. Der Schutz der Madonna allein genügt nicht.
Wahre Ghisallo-Pilger nehmen, von Bellagio kommend, den 10,6 Kilometer langen nördlichen Anstieg auf zwei Rädern in Angriff, um die 556 Meter höher gelegene Madonna zu erreichen. Zwei bis zu 14 Prozent steile Rampen werden unterbrochen durch eine ebene Passage, die kurz verschnaufen lässt. Wer sich mit brennenden Oberschenkeln, gelegentlich aus dem Sattel gehend, die Straße hinaufschraubt, meint auf ihr die Schweißtropfen seiner Vorgänger und den Jubel der Fans wahrzunehmen. Das großartige Alpenpanorama über dem See im Rücken gerät noch kaum in den Blick.
Erst oben angekommen, wenn der Puls sich beruhigt, beginnen die Augen zu schwärmen. Manche sagen, das Dreieck am Comer See sei der schönste Teil der Lombardei. Vor der Kapelle erwarten den Pilger die Bronzebüsten des italienischen Radsport-Dreigestirns: Alfredo Binda, Gino Bartali und Fausto Coppi. Die Kapelle selbst ist kleiner als ihr Ruf, weswegen vor Jahren daneben ein Radsport-Museum gebaut wurde.
Räder, Pokale, Trikots als Reliquien
Das Kirchlein ist gefüllt mit Rennrädern, Pokalen und Trikots: als Dank der Besitzer an die Madonna, von Fans wie Reliquien verehrt. Räder von Coppi, Eddy Merckx, Francesco Moser oder auch Alfonsina Strada, der Frau, die 1924 beim Giro d'Italia der Männer mitfuhr. Rosa und Gelbe Trikots und solche von Weltmeistern füllen die Wände ebenso wie Fotos verstorbener Radsporthelden. Sowie ein halbes Dutzend Ausweise als Beleg, dass Benedikt XVI. Ehrenmitglied des Italienischen Radsportverbandes war.
Vorne über dem Altar hängt das Bildnis der stillenden Muttergottes. Weil der Radsport nicht so national gesinnt ist wie etwa Fußball, stieg die Madonna del Ghisallo schon bald nach dem Papsterlass von 1949 zur Schutzpatronin des Radsports weltweit auf.