Wo Moschee, Kirche und Synagoge nah beieinanderstehen
Selten liegen Kirchen, Moscheen und Synagogen buchstäblich dicht beieinander. Anders ist das in der bosnisch-herzegowinischen Hauptstadt Sarajevo, die gerne als "Jerusalem Europas" bezeichnet wird. Doch die Bezeichnung ist weit mehr als nur eine Metapher, denn die Nähe der Kulturen und Religionen ist tief in der Geschichte Bosniens verwurzelt. Sie zeigt sich in Kriegen und Konflikten, aber auch im friedlichen Zusammenleben, womit sich beispielsweise der Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić in seinem weltberühmten Werk "Die Brücke über die Drina" beschäftigt.
Das Thema, wie auch die Auseinandersetzung mit dem Nobelpreistäger, haben den langjährigen FAZ-Korrespondenten Michael Martens veranlasst, sich in seinem Buch "Im Brand der Welten" mit dem Nebeneinander von Orient und Okzident zu beschäftigen. Dieses Nebeneinander zeigt sich im Zentrum Sarajevos, wo der berühmte Barcaršija-Platz pulsiert, mit einem orientalischen Basar, der mit seinen kleinen Läden, traditionellen Handwerksbetrieben und lebhaften Cafés eine Mischung aus osmanischer und europäischer Geschichte verkörpert. Der Platz wurde im 15. Jahrhundert von den Osmanen errichtet und ist bis heute das kulturelle Herz der Stadt. Nur wenige hundert Meter entfernt liegen die Gazi Husrev Beg Moschee, die orthodoxe Mariä-Geburt-Kathedrale, die Synagoge und die katholische Herz-Jesu-Kathedrale. Nicht weit davon entfernt befindet sich die denkmalgeschützte Kirche des Heiligen Antonius im Stadtteil Bistrik, ein Herzstück des religiösen Mosaiks von Sarajevo.
Krieg stellte alles auf den Kopf
Während der osmanischen Zeit blieb das Viertel Bistrik christlich geprägt, wovon sowohl der ursprüngliche Name des Viertels, Latinluk, als auch der Name der dorthin führenden Lateinerbrücke über den Fluss Miljacka zeugen. Beides sind Hinweise auf den lateinischen Ritus der römisch-katholischen Kirche. Während der Belagerung Sarajevos in den Jahren 1992 bis 1995 wurde die St-Antonius-Kirche jedoch mehrfach beschädigt.
Explosionen und Granaten setzten im August 1993 Häuser und sakrale Objekte in Brand, zerstörten wertvolle Gegenstände und forderten vor allem Menschenleben – unabhängig von Religion und Ethnie. Zu dieser Zeit verhandelten die Spitzen der drei Kriegsparteien auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien in Genf über die Grenzziehung, während in der bosnischen Hauptstadt trotz Waffenstillstand weiter geschossen wurde. Etwa 212 orthodoxe Kirchen wurden zerstört und 367 beschädigt. Ähnliches gilt für die Verwüstung von Pfarrhäusern, rund 1.000 katholische Kirchengebäude wurden in Mitleidenschaft gezogen, die meisten davon im Erzbistum Sarajevo. Muslime beklagten die Zerstörung von 619 Moscheen und die Beschädigung von 233 Moscheen.
Während der Krieg alles auf den Kopf stellte, arbeitete die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag mitten in der zerstörten Stadt an einer Inszenierung von Samuel Beckets "Warten auf Godot" in bosnischer Sprache. Doch die Probebühne war ohne Strom, Kerzen mussten herhalten. Das Politmagazin "Der Spiegel" schrieb damals, Sontag habe ein einfaches Zimmer im vierten Stock eines Hotels bezogen. "Nur für ein bis zwei Stunden täglich fließen Wasser und Strom, Kaffee gibt es gar nicht, dafür als Kulisse das ununterbrochene Rattern der Maschinengewehre und das Dröhnen der Granaten". Ein anderer Journalist und Schriftsteller, Miljenko Jergović, erregte damals mit seinen Texten und Erzählungen Aufsehen und wurde zum gefeierten Schriftsteller. Ein Jahr lang lebte er im eingeschlossenen Sarajevo, bevor er 1993 nach Zagreb floh und seine Erlebnisse in dem 1994 erschienenen Klassiker "Sarajevo Marlboro" zusammenfasste. Darin geht es Jergović jedoch nicht um militärische Operationen, denn seine Helden sind weder Religionsvertreter noch Politiker oder Generäle, sondern ganz normale Bürger Sarajevos, deren Alltag sich durch den Krieg für immer dramatisch veränderte.
Sichtbare Narben
Sarajevo trägt bis heute die sichtbaren und unsichtbaren Narben des Krieges. Zerstörung und Verwüstung waren aber nicht immer nur materieller Natur – vor allem auf der zwischenmenschlichen und auch der politischen Ebene ist dies noch präsent. Deshalb sind die bosnischen Franziskaner seit Jahrhunderten eine religiöse und kulturelle Brücke im Land. Sie haben sich stets für Ökumene und Dialog, also für ein friedliches Miteinander eingesetzt. Daran arbeitete auch die Schweizer Franziskanerin Magdalena Schildknecht, die vor mehr als 25 Jahren nach Bosnien kam, um in der Friedensarbeit mit Jugendlichen aller Religionen etwas zu bewegen. Doch wie gespalten das Land ist, zeigte und zeigt sich bis heute im Bildungsbereich, wo es unter einem Dach für die verschiedenen Volksgruppen unterschiedlichen Unterricht gibt – mit verschiedenen Lehr- und Stundenplänen sowie Geschichtsnarrativen. Es geht sogar bis hin zu den sozialen Kontakten, die aufgrund der Nationalität eher gemieden werden. Eines ihrer Ziele war es daher, die Jugendlichen außerhalb der Schule zusammenzubringen, um dem Nationalismus entgegenzuwirken und zu zeigen, wie bereichernd Vielfalt sein kann. So sollten katholische Kroaten, muslimische Bosnier und orthodoxe Serben wieder lernen, miteinander zu leben.
Dass jeder Mensch auf der Suche nach Zugehörigkeit ist, zeigt sich in der Frage der religiösen Identität. Diese ist häufig ein Abgrenzungsmerkmal, da die ethnische Selbstzuordnung eng mit der Religionszugehörigkeit verknüpft ist. Nach der Volkszählung von 2013 sind rund 50 Prozent der Bevölkerung Bosniaken, also mehrheitlich Muslime. Rund 30 Prozent sind Serben, also Orthodoxe, und rund 15 Prozent Kroaten, meist Katholiken. Eine sprachliche Trennung existiert die de facto nicht, da alle Volksgruppen Dialekte des Serbokroatischen sprechen. Seit den Jugoslawienkriegen in den 1990er Jahren wird die Sprache jedoch analog zur ethnischen Zugehörigkeit bezeichnet – also als Bosnisch, Kroatisch oder Serbisch. Dazu erzählt Jergović in einem Interview, dass sich die Menschen gegenseitig und fast ständig belauern, zu welcher Volksgruppe sie gehören. In diesem Identifikationsspiel spielt der Vor- oder Nachname eine wichtige Rolle, um zu erahnen, ob es sich um Serben, Bosniaken oder Kroaten handelt. Jergović nennt das ein Drama: "Wir leben hier mit einer starken religiös-ethnischen Identität. Das ist nicht schön, und daraus erwachsen viele Probleme".
„Wir leben hier mit einer starken religiös-ethnischen Identität. Das ist nicht schön, und daraus erwachsen viele Probleme.“
Kritik an dieser starken religiös-ethnischen Identität kommt auch von einem der bekanntesten Vertreter der bosnischen Franziskaner, dem streitbaren Denker, Theologen und Publizisten Ivan Šarčević. Der Geistliche ist bekannt für seine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Volksgruppe, der Kirche und der Gesellschaft. So betonte Šarčević in einem Interview, dass es eine Verwüstung in diesem Land gebe. Dies drücke sich auf verschiedene Weise aus, nicht nur demografisch, sondern auch als "politischer Mangel an Freiheit und Kultur, als blindes Festhalten an nur einer Partei und einem politischen Anführer, als Angst vor Veränderung". Opfermythen, mangelnde Bildung, politische Hörigkeit der Medien, Personenkult und Nationalhelden, Wunderreligiosität und Aberglaube, Wirtschaftskriminalität und Vetternwirtschaft spielen dabei wichtige Rollen. Heute müsse man lernen, Freiheit zu erlangen, vor allem Religionsfreiheit. Dazu gehöre auch die "Freiheit des Unglaubens". In der Vergangenheit sei es verführerisch gewesen, an Gott zu glauben oder nicht zu glauben; es sei einfach gewesen, so Šarčević weiter, über das zu sprechen, wovon man keine Kenntnis hat und zu Dingen zu schweigen, über die man hätte sprechen müssen. "In Wirklichkeit haben wir uns noch nicht von der offensichtlichen oder versteckten sozialen Gewalt befreit, von der Gewalt der 'Gläubigen' oder 'Nicht-Gläubigen', die das Geheimnis der Existenz und dann das Geheimnis Gottes und des Menschen so leichtfertig missbrauchen".
Ort der Begegnung und des Widerspruchs
Und doch ist Sarajevo ein Ort, der vieles zugleich ist: ein Treffpunkt der Kulturen und Religionen, der nicht nur durch seine religiöse Vielfalt besticht, sondern auch durch die Offenheit und Herzlichkeit seiner Menschen. Die Nähe von Moschee, Kirche und Synagoge ist nicht nur ein geografisches Detail, sondern ein Symbol für die Möglichkeit des Zusammenlebens in einer Welt, die allzu oft von Konflikten geprägt ist. Bis zu einem heilsamen Zusammenleben sei es allerdings noch ein weiter Weg, meinte auch der bosnische Franziskaner und Publizist Drago Bojić im vergangenen Jahr gegenüber katholisch.de. Der bosnischen Gesellschaft fehle die nötige Reife, um die Wunden der Vergangenheit zu überwinden. Ein Problem sei, dass es keine gemeinsame Position zur Vergangenheit gebe, da jede Seite ihre eigene Sicht und Interpretation der Vergangenheit habe.
Dennoch gibt es Gläubige und Religionsvertreter, die durch verschiedene Initiativen und Projekte versuchen, Friedensarbeit zu leisten – mal weniger, mal mehr erfolgreich. Ein solches Beispiel findet sich im katholischen Jugendzentrum der Erzdiözese Sarajevo, das mit dem deutschen Bistum Limburg kooperiert und einen regen Austausch pflegt. Das Zentrum versteht sich als Brücke zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Glaubensrichtungen.
Und doch scheint es, als würden Konflikte, vor allem in Extremsituationen, beiseite geräumt - so wie Anfang Oktober 2024 bei Regenfällen und Erdtuschen, die in den bosnischen Städten Jablanica und Konjic über 20 Menschenleben forderten und Schäden in Milliardenhöhe anrichteten. In Extremsituationen zeigen sich Momente der Solidarität, die ein Hoffnungsschimmer für eine versöhnte Zukunft sein könnten, wie es der eingangs erwähnte Andrić in seinem Roman bildhaft beschreibt. Denn noch immer scheint das menschliche Bedürfnis nach Hilfe und Zusammenhalt durch, das Bosnien-Herzegowina letztlich ausmacht.
Der Text ist im Rahmen der Journalistenreise der KNA-PROMEDIA-Stiftung nach Sarajevo entstanden.