Autor: Papst Franziskus stört unsere spirituelle Selbstgefälligkeit
Die Kirche als großes Zelt, als Feldlazarett, als Heiligtum in einer turbulenten Welt: Das ist die Kirche von Papst Franziskus. Emilce Cuda, eine argentinische Theologin, die von Franziskus zur Sekretärin der Päpstlichen Kommission für Lateinamerika ernannt wurde, betont die Besonderheiten der pastoralen Theologie von Franziskus:
"Pastoral zu sein bedeutet für Franziskus, bei den Menschen zu sein, wo sie sind. Es ist wichtig, das zu verstehen, denn Einige in der Kirche – auch bedeutende Theologen – denken 'theologisch'. Sie verstehen nicht, dass Menschen in der Peripherie Theologie nicht mehr nur als Reflexion oder philosophische Vermittlung betreiben können. Theologie wird durch die gelebte Weisheit der Menschen vermittelt. Dabei will Franziskus im Gegensatz zur Befreiungstheologie mit ihrer Option 'für' die Armen eine Option 'mit' den Armen. Die Theologen müssen aus ihrem Elfenbeinturm herunterkommen zu den Armen und Ausgegrenzten."
Die klarste formale oder offizielle Erklärung zu dieser Art Theologie gab es unmittelbar nach Abschluss der Weltsynoden-Etappe im vergangenen Jahr: Am 1. November 2023 veröffentlichte Franziskus sein apostolisches Schreiben oder Motu proprio "Ad theologiam promovendam" (Die Förderung der Theologie), und der jüngste Paradigmenwechsel trat in das katholische Bewusstsein.
Öffnung der Theologie
Das Dokument wurde zum Teil als Billigung des Papstes zu den neuen Statuten der Päpstlichen Theologischen Akademie herausgegeben. Sie spiegelt das aktuelle theologische Denken insofern wider, als dass sie einen Großteil des methodischen Ansatzes der Sozialwissenschaften einbezieht. Zusätzlich entwickelt sie die Forderung von Franziskus nach einer Öffnung der Theologie weiter.
Der Papst stellt kategorisch fest: "Um die Theologie in der Zukunft zu fördern, können wir uns nicht darauf beschränken, abstrakt Formeln und Schemata aus der Vergangenheit wiederzugeben ... [denn] Gott hat sich als Geschichte offenbart, nicht als Kompendium abstrakter Wahrheiten".
Das Dokument ist eine Zusammenfassung vieler seiner Überlegungen zur Rolle der Theologie. Franziskus scheut sich nicht zu erklären, dass die Wissenschaft der Theologie "zu einem Wendepunkt, zu einem Paradigmenwechsel, zu einer 'mutigen Kulturrevolution' gerufen ist". In der Tat ist sie dazu berufen, eine "grundlegend kontextuelle Theologie" zu werden, womit er eine Theologie meint, die "fähig sein muss, das Evangelium unter den Bedingungen zu lesen und zu interpretieren, unter denen Männer und Frauen täglich leben, in verschiedenen geographischen, sozialen und kulturellen Umgebungen." Und weiter: "Theologie kann nicht anders, als in einer Kultur des Dialogs und der Begegnung zwischen verschiedenen Traditionen und Wissensbeständen, zwischen Religionen stattfinden, die allen offen gegenübersteht, Gläubigen und Nicht-Gläubigen."
Diese päpstliche Aufforderung, die Theologen auf die Straße zu bringen, um als Pioniere eine Kulturrevolution zu bewirken, ist keine Abschwächung der intellektuellen Strenge oder eine Abkehr von der kirchlichen Bindung, sondern vielmehr ein klarer Aufruf zu einem sinnvollen und glaubwürdigen Zeugnis. Theologie in Alltagszusammenhängen muss nicht bedeuten, dass die Theologie an der Akademie aufgegeben werden muss. Im Bewusstsein von Bernard Lonergans Bewusstseinswandel von einem "klassizistischen zu einem historistischen" Modell setzt sich Franziskus vielmehr für eine belebende theologische Unternehmung ein, die in der Realität der Menschen verwurzelt ist und ihre Wurzeln in Erfahrungen statt in Ideologie hat. Ihm schwebt eine Wissenschaft vor, die eine Lebensweise ist, offen für eine sich unendlich entfaltende Kultur der Begegnung.
Traditionalistische Theologen könnten "Ad theologiam promovendam" als traurige Konsolidierung des schwammigen Denkens des Papstes empfinden, am besten veranschaulicht durch den Kommentar des Kapuzinermönchs Thomas Weinandy, der es als "typisches Dokument von Papst Franziskus sieht – eine Menge hochtrabender Worte, die sehr zweideutig sind. Es ist vor allem Getöse. Es kann keinen authentischen Paradigmenwechsel geben, ohne dem treu zu bleiben, was die Kirche durch die Jahrhunderte hindurch authentisch gelehrt hat, und es zu fördern."
Paradigmenwechsel eingeleitet
Aber der störende Jesuitenpapst hat genau das getan: Er hat einen Paradigmenwechsel eingeleitet, indem er der organischen Tradition treu geblieben ist. Er hat etablierte Handlungsmuster und Protokolle unterbrochen, genauso wie den allgemeinen Blick auf das Wirken der Kirche in der Welt und kirchliche Prioritäten, indem er die Armen in den Fokus genommen hat. Ebenso hat er die Perspektive verändert, indem er die lehramtliche durch eine synodale Art des Kircheseins ersetzt hat.
Zudem hält er an der Tradition fest und weigert sich, die kirchliche Lehre zu ändern, sei es durch päpstlichen Erlass oder durch parlamentarischen Konsens. Er wendet sich weder von Volksfrömmigkeit noch von der Arbeit seiner Vorgänger ab – vielmehr baut er darauf auf.
Was der Störer-Papst gestört hat, ist unsere spirituelle und intellektuelle Selbstgefälligkeit, unsere Abschottung durch Angst vor neuen Wegen, das Evangelium als Sauerteig der Gesellschaft zu sehen, unser ahistorisches Verständnis von Kirche, das uns vor den reformierenden Böen des Geistes abschirmt.
Der Autor
Michael W. Higgins ist emertitierter Präsident der St.-Jerome-Universität an der Universität Waterloo in der kanadischen Provinz Ontario, er war unter anderem Professor für Englisch und Religion an der St.-Thomas-Universität in Fredericton in der Provinz New Brunswick. Daneben trat er immer wieder als Publizist in Erscheinung. Der Text ist ein Auszug aus seinem Buch: "The Jesuit Disruptor" (Redaktion und Übersetzung: Christoph Paul Hartmann)