Mitten ins Leben hinein
Trauer verläuft, so Verena Kast, in vier Phasen. Zunächst möchten Trauernde den Tod des geliebten Menschen nicht wahrhaben. Es folgt eine Phase der Wut, der Ohnmacht, des Schmerzes: Gefühle, die zum Trauerprozess dazugehören. In der Phase des Suchens und Sich-Trennens realisieren Trauernde, dass der Verstorbene nicht mehr da ist. Es geht um Abschiednehmen und Loslassen. In der letzten Phase steht ein neuer Selbst- und Weltbezug im Vordergrund.
Roland Kachler, der seit über zwanzig Jahren eine Psychologische Beratungsstelle in Esslingen leitet und eine eigene psychotherapeutische Praxis hat, hält diese auch heute noch übliche Trauerpsychologie allenfalls für leichtere Verluste hilfreich - etwa wenn die hoch betagten Eltern oder Großeltern sterben. Anders bei schweren Verlusten von nahe stehenden Menschen: Hier lasse das Vier-Phasen-Modell die Trauernden allein.
Dies hat der Psychologe durch den jähen Unfalltod seines 16-jährigen Sohnes selber schmerzlich erfahren müssen. "Ich fühlte mich in meiner eigenen Trauer um meinen Sohn von der gängigen Trauerliteratur nicht verstanden", sagt er. "Mein Ärger über viele Trauerratgeber wurde immer größer. Denn ich wollte nicht loslassen, sondern festfalten, und zwar das Wesen, die Gestalt, die Person, das Du meines geliebten Sohnes."
Die Beziehung zum Verstorbenen weiterleben
Bei Recherchen zum Thema Trauer stieß Roland Kachler auf neuere amerikanische Trauerliteratur. Und er sah sich in seinen eigenen Erfahrungen bestätigt. Dennis Klass, emeritierter Professor der Psychologie an der Webster University im amerikanischen St. Louis, und sein Team haben in vielen empirischen Untersuchungen festgestellt, dass trauernde Angehörige die Beziehung zum Verstorbenen weiterleben.
Roland Kachler erklärt: "Der Verstorbene und bleibt eine wichtige Person im Leben vieler Trauernder. Auch die Liebe bleibt. Sie kann zwar nicht mehr konkret gelebt werden, geht aber nicht ins Leere. Der Verstorbene bleibt als Gegenüber in Erinnerungen oder inneren Bildern präsent." In der gängigen Trauerliteratur aber werden immer noch vorrangig Phasenmodelle beschrieben. "Sie erwecken den Eindruck, dass jeder Trauernde bestimmte Phasen durchlaufen muss und dabei bestimmte Traueraufgaben zu erledigen hat", so Kachler. "Damit entsteht - von den Autoren sicherlich ungewollt - der Druck, dass am Ende des Prozesses die Trauer abgeschlossen, also der Verstorbene losgelassen sein soll."
Der Psychologe und Trauerbegleiter beschreibt seine Erfahrung und die vieler anderer: "Der Verstorbene ist ungeheuer nah. Die Beziehung und Bindung zu ihm ist nicht unterbrochen, sondern intensiviert - bis ins Schmerzhafte. In der Trauerliteratur wird darauf kaum eingegangen, allenfalls wird es als vorübergehendes Phänomen in der Trauerphase des Suchens gewertet. Das bedeutet aber auch, dass der Trauernde die Näheerfahrung überwinden sollte. Doch gerade diese ist als Impuls zu verstehen, den geliebten Menschen als ein Gegenüber, als ein Du zu bewahren und in eine Beziehung zu ihm zu treten."
Kachler nennt in diesem Zusammenhang die drei Schwestern der Trauer: Mitgefühl, Liebe und Sehnsucht: "Viele setzen sich bei schweren Verlusten an die Stelle des Verstorbenen. Sie fühlen mit ihm, weil sie ihn lieben", sagt er. "Sie identifizieren sich mit ihm. Darin drückt sich der Wunsch ihrer Seele aus, dem Verstorbenen ganz nah sein zu wollen, sich gewissermaßen mit ihm zu verschmelzen. Wir brauchen diese Erfahrung als Fundament unserer späteren Beziehung zum Verstorbenen."
Die zweite Schwester der Trauer - intensive Liebe bis in den äußersten Schmerz hinein - vergleicht er mit einem Brennglas, in dem die Liebe zum Verstorbenen kristallklar und intensiv ins Bewusstsein tritt. Die dritte Schwester der Trauer, die Sehnsucht, beschreibt Roland Kachler so: "Sie ist die Kraft, mit deren Hilfe der Verstorbene weiter geliebt wird - trotz der realen Abwesenheit. Und die nicht aufhört zu hoffen, ihn eines Tages in die Arme schließen zu dürfen. In der Sehnsucht ist der Verstorbene in Bildern, in Gefühlen und in Handlungen ständig präsent."
Auf der Suche nach einem sicheren Ort für den Verstorbenen
In fast allen alten Kulturen finden wir Ahnenverehrung. In ihr spiegelt sich, so Roland Kachler, was unsere Seele eigentlich will: mit den Toten weiterleben. "Dazu gehört auch die Suche nach einem sicheren Ort für den Verstorbenen", erklärt er. Fragen danach werden in allen Kulturen und Weltreligionen beantwortet. Sie stammen, so Kachler, aus dem archetypischen Schichten des Unbewussten. Oft wird der Tod als Übergang des Verstorbenen in eine andere Welt beschrieben - als Fahrt über das Meer oder den Totenfluss, als Aufstieg in den Himmel oder das Hinabsteigen in das Totenreich.
Trauerrituale wie die Beerdigung seien Übergangsriten sowohl für den Verstorbenen als auch für die Hinterbliebenen, erklärt der Psychologe. Und: "In allen Mythen und Religionen, die den Tod als Übergang verstehen, ist das Ziel für den Verstorbenen ein Aufenthaltsort in der anderen, jenseitigen Welt. Dieser Ort ist meist ein Ort der Ruhe, des Friedens, der Sicherheit, etwa das Paradies oder der Himmel."
In diesen archetypischen Bildern zeige sich, was jeder Trauernde bewusst und unbewusst im Trauerprozess vollzieht. "Die Psyche sucht für den Verstorbenen einen guten Ort, an dem dieser geborgen und gehalten ist", erklärt Roland Kachler. Natürlich sei der Tod eine unüberwindbare Mauer. Dies schließe aber nicht aus zu fragen: Was liegt eigentlich dahinter? "Viele Trauernde bekommen so unwillkürlich eine Ahnung von einer ganz anderen Welt, von anderen Räumen und Wirklichkeiten als sie in unserer begrenzten Welt zu finden sind", sagt er. "Sie können so intuitiv darauf vertrauen, dass mit dem Tod nicht alles aus ist. Mit dem Herzen wissen sie, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, sondern dass Gott mit seiner Liebe den Tod überwindet."