Plötzlich tot
Lea, die jüngste der vier Geschwister, erfuhr die Nachricht als erste. Zwei Polizisten standen vor ihrer Haustür und konfrontierten die damals 23-Jährige mit der schrecklichen Gewissheit: Ihr Bruder Tobias ist bei einem Busunfall im Urlaub ums Leben gekommen. Die in ihrem bisherigen Leben schwerste Aufgabe lag nun vor ihr: Lea und ihr Partner fuhren von Aachen nach Köln zu den Eltern, um ihnen die Nachricht persönlich zu überbringen.
Klaus Rüggeberg konnte seiner Tochter zunächst kaum glauben. Unwirklich, unfassbar wirkte alles auf ihn. Und so rief er noch einmal die Menschen an, die den Tod seines Sohnes bestätigt hatten - Polizei, Landeskriminalamt, den Honorarkonsul von Hurghda. Die Details, die ihm mitgeteilt wurden, zwangen Klaus Rüggeberg, der Realität ins Auge zu schauen. "Eine solche Verzweiflung, ein derartiges Gefühl der Hilflosigkeit und Leere habe ich niemals zuvor empfunden", erinnert er sich. "Worte tragen nicht, Gesten erreichen nicht, der Glaube an Gott schwindet. Eine innere wie äußere Lähmung, gegen die sich zu wehren mir unmöglich schien, ergriff Besitz von mir."
Esther und schließlich auch Rebecca, die in Kanada lebte, kamen zu ihren Eltern nach Köln. Es fiel Klaus Rüggeberg schwer zu begreifen, dass er Tobias nicht mehr würde sehen und berühren können: "Ich fühlte mich um diese letzte Begegnung mit meinem toten Sohn betrogen. Noch nicht einmal ein Blick war möglich. Wir saßen eine Stunde lang schweigend im Kreis um den Sarg herum, hielten uns an den Händen und fühlten uns so miteinander und mit Tobias verbunden."
Tränen als tägliche Begleiter
Bewegend die Trauerfeier in der Kirche: Verwandte, Freunde, Bekannte brachten zum Gedenken ein Teelicht an den Sarg. "Zum einen fühlte ich mich durch die Gegenwart Hunderter Menschen getragen, die mich spüren ließen, nicht allein zu sein, zum anderen durch den Gottesdienst, der mich darin bestärkte, dass trotz und in aller Unbegreiflichkeit Gott an unserer Seite ist", sagt Klaus Rüggeberg. Er weinte viel in der darauf folgenden Zeit.
Die Tränen wurden seine täglichen Begleiter - über viele Monate hinweg. Doch sie wirkten entlastend, halfen, den Druck und die innere Spannung zu lösen. "Unser Haus war in dieser Zeit wie eine Burg, hinter deren Mauern ich mich geschützt fühlte, und am liebsten hätte ich mich dort dauerhaft verkrochen", erzählt der Vater. Trost schenkten dem trauernden Elternpaar die Enkelkinder. Mit Tobias' Tochter Laura und deren Freundin spielte Klaus eines Abends in der verschneiten Anliegerstraße in der Dunkelheit Verstecken: "Zum ersten Mal seit Wochen fühlte ich mich im Spiel in einer anderen Welt, in der ich für kurze Zeit meinen Kummer vergaß und mich wieder lachen hörte."
Dann kam Weihnachten. Wie können Eltern dieses Familienfest wenige Wochen nach dem Tod ihres geliebten Sohnes überstehen? "Es zeigte sich, dass die seit Jahren vertrauten Abläufe und Symbole Struktur und Halt gaben", sagt Klaus. All die Elemente, die die Festtage immer geprägt hatten - vom Gottesdienst über das gemeinsame Essen bis zu den Besuchen und Gesprächen - wirkten wie ein Korsett, das ihn stützte.
„Allein eine Resonanz auf unsere Trauer und Ratlosigkeit zu erfahren, wirkte befreiend.“
"Ich passte nicht mehr so recht in die Welt..."
Nach einiger Zeit nahm das Ehepaar wieder Einladungen an. Doch Klaus musste feststellen: "Ich passte nicht mehr so recht in die Welt, die sich unverändert weiterdrehte. Ich war aus ihr herausgefallen, als stünde ich ein wenig unbeteiligt und fremd geworden neben ihr. Indes freute ich mich über Einladungen zu Freunden nach Hause. Die kleine Runde und die Intimität einer Wohnung kamen meinem Bedürfnis nach Schutz und Abgeschiedenheit entgegen."
Leicht waren die Begegnungen mit den trauernden Eltern garantiert nicht. Wie sollten die Freunde auf ihre Tränen reagieren, wie ihre Fragen nach dem zerstörten Glück des Lebens aushalten? "Einige wagten die Begegnung", sagt Klaus. "Und allein eine Resonanz auf unsere Trauer und Ratlosigkeit zu erfahren, wirkte befreiend. Eine aufrichtige Anteilnahme genügte da völlig."
Sechs Wochen nach dem Tod seines Sohnes nahm Klaus Rüggeberg wieder seine Arbeit als Pastoralreferent auf. "Manche Mitarbeiter sprachen sehr wertschätzend aus, wie sehr sie sich freuen, dass ich wieder da sei. Sie hätten mich am Arbeitsplatz vermisst", erzählt Klaus. "Eine solche Wertschätzung in meinem Gefühl der Lähmung, Leere und Kraftlosigkeit zu erfahren, baute mich ungemein auf." Besonders hingezogen fühlte Klaus sich zu Kollegen, die selber Erfahrungen mit dem Tod naher Angehöriger hatten. "Begierig nahm ich alles auf, von dem ich annahm, es könne mir helfen, meine eigene Trauer in Hoffnung zu überführen", sagt er.
Hilfreiche Gespräche mit anderen Betroffenen
Klaus spürte den starken Wunsch, Menschen zu treffen, die einen solch unermesslichen Verlust des geliebten erwachsenen Kindes selbst erlebt und durchlitten hatten. Wie war es anderen Eltern gelungen, ihr Leben nach solch einer Erschütterung wieder geradezurücken? Wie hatten sie Perspektiven entwickelt, wieder Lebensfreude gespürt? Diese und andere Fragen beschäftigten ihn sehr.
"Die Gespräche mit anderen Eltern halfen mir ungemein", sagt er und erzählt von der Begegnung mit einem anderen betroffenen Vater: "Auf meine bange Frage, wie lange dieser ungeheure Schmerz andauere, erwiderte der Vater, es seien zwei ganze Jahre gewesen, und erst nach sieben Jahren hätten sie ihr zuvor so geliebtes Karnevalstreiben wieder aufgenommen. Diese Hinweise halfen mir, mich einerseits auf eine lange Zeit des Schmerzes einzustellen, andererseits der Hoffnung Raum zu geben, dieser Schmerz könnte vielleicht doch eines Tages nachlassen oder aber zumindest ein wenig Lebensfreude neben sich dulden. Am Ende dieser Begegnung fühlte ich mich zum ersten Mal nach dem Tod meines Sohnes gelöst."
Trauerratgeber waren in dieser Zeit für Klaus Rüggeberg keine Hilfe. "Wenn in einem etwa davon berichtet wurde, wie bedeutsam für die Angehörigen der Abschied vom toten Leib ihres Kindes sei, fühlte ich mich um diese Erfahrung 'betrogen', und ich legte das Buch beiseite." In den Büchern des Psychotherapeuten und Trauerbegleiters Roland Kachler, der selbst einen Sohn verloren hatte, fand Klaus Rüggeberg einen Gedanken, der ihm Mut machte. "Kachler lehnt die in den üblichen Trauerratgebern zu lesenden Vorschläge, loszulassen und die Beziehung zum Verstorbenen zu beenden, ab. Es gehe vielmehr darum, andere Formen und Ausdrucksmöglichkeiten zu finden, in denen die Liebe zum geliebten Verstorbenen weitergeführt werden könne. Mir wurde klar: Nicht Loslassen ist das Ziel, sondern in der Liebe zu meinem Sohn zu bleiben - wenn auch völlig anders als zuvor."
„Das Vertrauen, dass Gott zugewandt an meiner Seite ist, mich nicht vergisst und mir beisteht, ist ungebrochen.“
Ein Lagerfeuer als verbindendes Ritual
Bernadette und Klaus Rüggeberg und ihre drei Töchter fanden ein sehr intimes, verbindendes Ritual. Sie vereinbarten, jeweils am Todestag von Tobias zur gleichen Uhrzeit ein kleines Lagerfeuer zu entzünden - ganz gleich, wie viele Kilometer sie trennten. "Dieses Lagerfeuer sollte uns äußerlich wie innerlich erwärmen, über die räumliche Distanz Nähe schaffen und die gemeinsame Hoffnung nähren, als Familie weiterzuleben - mit Tobias."
Über Glaubensfragen spricht Klaus Rüggeberg sehr offen: "Der Himmel war weit weg, umso mehr forderte mich die Erde", sagt er. "Die Aufgabe, im Leben zu bleiben, beanspruchte meine psychischen und physischen Kräfte. Mein Lebensglück war von einem auf den anderen Tag zerbrochen, ich erlebte mich als im Tiefsten verletzt. Die Brüchigkeit des Lebens, von der ich bisher verschont worden war, hatte sich mir unbarmherzig gezeigt."
Und dennoch stellte er Gott nie in Frage: "Das Vertrauen, dass Gott zugewandt an meiner Seite ist, mich nicht vergisst und mir beisteht - erst recht, wenn ich mich mit den Erschütterungen meines Lebens herumquäle -, ist ungebrochen", erklärt Klaus Rüggeberg. "Er mutet mir und allen Menschen zu, die Krisenzeiten und Herausforderungen durchzustehen. Allerdings erlauben die Erlebnisse des Mose mit seinem Gott, darauf zu vertrauen, dass gerade dieser Gott, der sich nicht offen zeigt, zum Wegbegleiter wird, wenn ich nur den Aufbruch ins Leben trotz und in der Trauer wage - wohl wissend, dass die Wegstrecke unkalkulierbar lang sein wird."
Briefe für den Verstorbenen
Drei Jahre nach Tobias' Tod schreiben seine Angehörigen Briefe an ihn. In seinem gibt Klaus Rüggeberg zu, dass der Verlustschmerz nur geringfügig nachgelassen und mitunter in seiner ganzen Macht zurückkehre, dass er immer noch gern das Aftershave benutze, das er in Tobias' Wohnung gefunden habe und von dem er stets neue Flakons kaufe, weil sein Sohn ihm über diesen Geruch nahe ist. "Lange habe ich mir überlegt", schreibt Klaus in seinem Brief an Tobias, "ob ich mir entgegen meiner bisherigen Ablehnung ein Tatoo mit Deinen Initialen stechen lassen soll, um Dich immer bei mir zu haben - sozusagen in meine Haut eingeritzt."
Klaus hat einen anderen Weg gefunden. Der Name seines Sohnes ist nun in seinen Ehering graviert. So gehört Tobias, bis dieser Ring nach dem Tod des Vaters abgestreift wird, fest zu ihm. "Unsere Liebe", so schreibt der Vater, "wird weiter bestehen, auf andere Weise lebendig bleiben. Und vielleicht werden wir uns eines Tages entgegen meinen jetzigen Zweifeln in einer Weise umarmen, die alles übersteigt, was ich mir je unter Umarmungen vorgestellt habe."
Seit dem Tod seines Sohnes hat sich das Leben des Vaters verändert. Vieles sei ihm nicht mehr so wichtig, das Tempo seines Lebens habe sich merklich und wohltuend verlangsamt. Und in dem Wissen, dass weitere schwere Lebensetappen möglich seien, erwarte er aber dennoch weiterhin viele glückliche Erlebnisse, weil seine Freude am Leben nicht zerbrochen sei. "Und sicher ist: Du bist dabei", schreibt der Vater dem verstorbenen Sohn.