Die Richter des Papstes: Wir können sehr wohl Recht sprechen
Papst Franziskus war sichtlich stolz. "Ja, es gab einen Skandal. Aber diesmal waren wir es, die den Deckel vom Topf genommen haben, nicht jemand von außen", sagte er im November 2019 auf eine Journalisten-Frage nach der wenige Wochen zuvor erfolgten Razzia in seinem Staatssekretariat. Der Durchsuchung folgten Suspendierungen und weitere Ermittlungen.
Im Juli 2021 dann begann unter dem Vorsitzenden Richter Giuseppe Pignatone, einem erfolgreichen früheren italienischen Anti-Mafia-Staatsanwalt, der Prozess. Die Vorwürfe gegen zehn Angeklagte reichten von Amtsmissbrauch und Unterschlagung über Urkundenfälschung und Bestechung bis zu Erpressung. Dabei ging es vor allem um den Erwerb – und späteren verlustreichen Verkauf von Fonds-Anteilen an einer Londoner Luxusimmobilie.
Das Urteil vom 16. Dezember 2023 "im Namen Seiner Heiligkeit Papst Franziskus" verkündete Geldstrafen im vierstelligen Bereich bis hin zu mehrjährigen Haftstrafen. Zehn Monate später, am 30. Oktober, veröffentlichten Richter Pignatone und seine Kollegen Venerando Marano und Carlo Bonzano ihre insgesamt 819 Seiten Urteilsbegründung.
Internationale Rechtsstandards im Vatikan?
Auf gut 70 Seiten setzt sich das Richterkollegium mit grundsätzlicher, von Beginn an erhobener Kritik auseinander: 1. Im Vatikanstaat gebe es keinen fairen Gerichtsprozess; das Verfahren genüge nicht modernen rechtsstaatlichen Prinzipien. 2. Die Richter seien nicht unabhängig. 3. Der Papst könne jederzeit dazwischenfunken. 4. Dem Strafverfolger seien mehr Rechte eingeräumt worden als der Verteidigung.
Im grundsätzlichen "zweiten Teil" zu "einigen einleitenden Fragen" vollführen die Richter einen Balanceakt. Einerseits verteidigen und begründen sie Eigenständigkeit und Eigenart des vatikanischen Rechtssystems. Andererseits legen sie dar, dass die Justiz des Papst-Staates internationalen Standards eines modernen Rechtsstaats genüge und mit entsprechenden Gesetzen und Abkommen kompatibel sei.
Das hatten die Verteidiger bezweifelt und dazu Verfassung sowie Strafprozessrecht der Republik Italien angeführt, aber auch Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie die EU-Richtlinie 2005/60/EG ins Feld geführt.
Artikel 6 der EMRK bekräftigt das "Recht auf ein faires Verfahren" mit einer öffentlichen, mündlichen Verhandlung vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht, das Recht auf Waffengleichheit von Anklage und Verteidigung, Anspruch auf rechtliches Gehör, Recht auf die Begründung von Entscheidungen sowie auf Akteneinsicht. Außerdem sollen Beklagte Zugang zu staatlichen Gerichtsverfahren haben unabhängig von ihrer persönlichen finanziellen Lage. Die EU-Richtlinie 2005/60/EG – seit Juli abgelöst durch die Richtlinie 2015/849 – soll helfen, Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung zu bekämpfen.
In ihrer Entgegnung verweisen die Richter auf die Rechtsquellen des Heiligen Stuhls und des Vatikanstaates: das allgemeine Kirchenrecht "Codex iuris canonici", mit seinem erst 2021 reformierten Strafgesetzbuch, in dem es auch um Finanzvergehen geht, sowie diverse Gesetze des Vatikanstaates. Daher könne "weder das Grundrecht eines anderen Staates, wie die Verfassung der Italienischen Republik, noch eine Konvention, der der Vatikan nicht beigetreten ist, angewendet werden".
Gleichzeitig habe die vatikanische Rechtsordnung "diese Grundprinzipien durch eigene gesetzgeberische Maßnahmen umgesetzt", so die Richter. Das vatikanische System halte "die Vorgaben von Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention gerade in Bezug auf ein ordnungsgemäßes Verfahren in vollem Umfang ein". Im Übrigen seien a) die Bestimmungen von Artikel 6 EMRK so weit gefasst, dass sie von Staaten mit unterschiedlichen Rechtssystemen umgesetzt werden könnten, und b) sei der Vatikan – wie auch die EU als solche – der EMRK nicht beigetreten. Auch räume der Europäische Menschengerichtshof (EGMR) "den Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum ein bei der Anwendung der Standards des Übereinkommens in der für die innerstaatlichen Verhältnisse am besten geeigneten Weise".
Parallelen und Unterschiede zum Strafprozessrecht Italiens
Ähnliches gilt laut Vatikan-Gericht für die Richtlinie 2005/60/EG gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung. Diese ist Teil der unter Benedikt XVI. getroffenen Währungsvereinbarung des Vatikans mit der EU und Italien vom 17. Dezember 2009. Sie soll laut Vereinbarung zwar "in einer Weise erfolgen, die nicht mit den Grundsätzen der EMRK unvereinbar ist". Andererseits könne die Richtlinie "keine direkte und unmittelbare Umsetzung aus sich heraus geben". Vielmehr müssten die Mitgliedsstaaten geeignete Initiativen zur Umsetzung und Anwendung in ihrem Rechtsrahmen ergreifen, "wobei in dieser Hinsicht erhebliche Ermessensspielräume bestehen bleiben".
Im weiteren Verlauf behandeln die Richter Details des Strafprozesses wie den Zusammenhang von Kreuzverhör und Tatsachenfeststellung, die Befragung trotz Ladung nicht erschienener Zeugen sowie die Bereitstellung von Beweismitteln. In diesem Punkten verweisen Pignatone und seine Kollegen vor allem auf Parallelen und Unterschiede zum Strafprozessrecht Italiens wie aber auch anderer Staaten. In einzelnen Punkten sei das vatikanische Recht sogar früher oder weiter gewesen als das italienische.
Auch in Italien sei es immer möglich, "Dokumente mit Auslassungen in die Verhandlung einzubringen: Es genügt, an alle großen Prozesse gegen das organisierte Verbrechen zu denken (...) in dem die Aussagen von 'Kollaborateuren der Justiz' ausgelassen wurden und immer noch werden, um Ermittlungsbedürfnisse oder Fakten zu schützen, die nicht Gegenstand der Anklage waren". Dem vatikanischen Strafverfolger Alessandro Diddi war solch lückenhafte Beweisvorlage mehrfach vorgeworfen worden.
Die von der Verteidigung ebenfalls gerügte Nichtzulassung oder eingeschränkte Befragung von Zeugen sei andernorts ebenfalls üblich. Gleichzeitig könne man "den vatikanischen Kodex, der wie der französische und viele andere, das Inquisitionsprinzip übernimmt, nicht mit dem Akkusationsprinzip im aktuellen italienischen Kodex vergleichen".
Zum Vorwurf, die vatikanischen Richter verfügten "nicht über die in den internationalen Konventionen geforderten Unabhängigkeits- und Unparteilichkeitsanforderungen", verweist das Gericht auf das Vatikan-Gesetz CCCLI vom 16. März 2020 (Art.1, Abs. 1): "Die Richter sind hierarchisch vom Papst abhängig. Bei der Ausübung ihrer Funktionen sind sie nur dem Gesetz unterworfen." Dabei sei klar, so die Richter, "dass sich die hierarchische Abhängigkeit auf organisatorische Aspekte und auf jeden Fall auf andere Aspekte als die 'Ausübung ihrer Aufgaben' bezieht, bei denen die Richter und Staatsanwälte, wie es im selben Absatz heißt, 'nur dem Gesetz unterworfen sind'". Bestätigt werde dies noch einmal durch das Motu Proprio des Papstes vom 12. April 2023. Darin heißt es unter anderem: "Richter und Staatsanwälte üben ihre Befugnisse unparteiisch aus, auf der Grundlage und innerhalb der Grenzen der vom Gesetz festgelegten Zuständigkeiten."
Ergänzend zitieren die Richter Veröffentlichungen von Juristen, die "Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der vatikanischen Justiz und ihre ausschließliche Unterwerfung unter das Gesetz" anerkannt hätten. Die frühere Möglichkeit des Papstes, Richter beliebig abzuberufen, sei mit einer Gesetzesreform 2023 endgültig aus dem Weg geschafft.
Unabhängigkeit des Richters nicht beeinträchtigt
Schließlich lassen sich die Richter auf den Vorwurf ein, im Verlauf des Prozesses habe der Papst mehrfach durch Einzelmaßnahmen, sogenannte "Rescripta", interveniert, "die ausnahmsweise und ad causam – d.h. nur für diesen Fall – (...) die Befugnisse und Zuständigkeiten des Strafverfolgers auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin zum Nachteil der Freiheitssphäre der Angeklagten" verändert hätten. (Wer Franziskus' Regierungsstil kennt, weiß, dass dies kein ganz abwegiger Vorwurf ist.)
Ja, sagen die Richter, es habe solche Interventionen gegeben, diese verstießen aber nicht gegen die "Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und des Gesetzesvorbehalts". Vielmehr gehe es um Verfahrensgesetze, so "dass der Grundsatz 'tempus regit actum' zur Anwendung kommt". Eingriffe, um Verfahren zu beschleunigen oder zu präzisieren, beeinträchtigten aber nicht die Unabhängigkeit des Richters. Und im Übrigen geschehe so etwas auch oft durch den Gesetzgeber der Republik Italien.
Mit der nun vorliegenden Begründung aller Einzelurteile und Darlegung des vatikanischen Rechtssystems kann die Verteidigung nun in die angekündigte Berufung gehen. Die vatikanische Justiz wird sich also weiter unter Beweis stellen müssen.