"Alltagsheilige" von nebenan: Was Papst Franziskus damit meint
Seit dem 9. Jahrhundert gibt es einen Tag, an dem die katholische Kirche an alle bekannten und unbekannten Menschen erinnert, die heiliggesprochen wurden oder die im Verborgenen ihren Glauben gelebt und verteidigt haben. Das Hochfest Allerheiligen wird am 1. November begangen und ist in den katholisch geprägten Bundesländern Deutschlands heute sogar ein gesetzlicher Feiertag. Auch darüber hinaus ist der liturgische Kalender voll mit Gedenktagen für die mehreren Tausend Heiligen und Seligen der katholischen Kirche.
Papst Franziskus reicht das aber scheinbar noch nicht: Ab dem kommenden Jahr sollen alle Bistümer und Teilkirchen am 9. November ihrer lokalen "Alltagsheiligen" gedenken. Das verfügte das Kirchenoberhaupt am Samstag in einem Schreiben an die Kirchengemeinden weltweit. Es gehe ihm nicht darum, einen neuen Gedenktag in den liturgischen Kalender einzufügen, betont der Papst darin. Er wünscht sich Initiativen innerhalb der Liturgie – etwa in der Predigt – aber auch jenseits davon, um "an jene Persönlichkeiten zu erinnern, die den lokalen christlichen Weg und die Spiritualität geprägt" haben. Doch was will der Papst damit erreichen?
"Die Mittelschicht der Heiligkeit"
"Jeder kann in vielen Menschen, denen er auf seinem Weg begegnet ist, Zeugen der christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe erkennen", betont der Papst in seinem jetzt veröffentlichten Brief. Diese "Heiligkeit von nebenan" ist ein Konzept, das Franziskus schon lange umtreibt. 2018 widmete er dem Thema Heiligkeit in der Welt von heute sogar ein 48-seitiges Apostolisches Schreiben mit dem Titel "Gaudete et exsultate" (zu Deutsch: "Freut euch und jubelt"). Darin richtet Franziskus den Blick nicht nur auf diejenigen, die formal selig- oder heiliggesprochen wurden: "Es gefällt mir, die Heiligkeit im geduldigen Volk Gottes zu sehen: in den Eltern, die ihre Kinder mit so viel Liebe erziehen, in den Männern und Frauen, die arbeiten, um das tägliche Brot nach Hause zu bringen, in den Kranken, in den älteren Ordensfrauen, die weiter lächeln", formuliert der Papst. "Oft ist das die Heiligkeit 'von nebenan', derer, die in unserer Nähe wohnen und die ein Widerschein der Gegenwart Gottes sind, oder, um es anders auszudrücken, 'die Mittelschicht der Heiligkeit'." (Nr. 7)
Diese Mittelschicht grenzt Franziskus damit bewusst von den Heiligen und Seligen ab, die offiziell von der Kirche verehrt werden. So gab es schon seit Beginn der Kirchengeschichte eine Verehrung von Menschen, die in vorbildlicher Weise das Evangelium gelebt haben. Bischof Ulrich von Augsburg soll 993 dann der erste gewesen sein, der von einem Papst ganz offiziell heiliggesprochen wurde. 1234 beschränkte Papst Gregor IX. das Recht zur Heiligsprechung auf Päpste – vorher war das auch Bischöfen erlaubt. Ein förmliches Kanonisationsverfahren gibt es seit 1588. Aus dieser Zeit stammt auch das heutige Dikasterium für die Selig- und Heiligsprechungsverfahren.
Mit "Gaudete et exsultate" wollte Papst Franziskus dazu aufrufen, Heiligkeit als Lebensstil zu betrachten und den jeweils eigenen Weg zur Heiligkeit zu finden, den Gott für jeden Menschen vorgesehen hat – statt zu versuchen, das Leben und Wirken anderer zu kopieren. Um heilig zu sein, müsse man nicht unbedingt Bischof, Priester, Ordensfrau oder Ordensmann sein, betont das Kirchenoberhaupt in seinem Schreiben. "Wir sind alle berufen, heilig zu sein, indem wir in der Liebe leben und im täglichen Tun unser persönliches Zeugnis ablegen, jeder an dem Platz, an dem er sich befindet" (Nr. 14). Grundsätzlich lehnt Papst Franziskus dabei eine Überhöhung von Heiligen ab: "Nicht alles, was ein Heiliger sagt, ist dem Evangelium vollkommen treu, nicht alles, was er tut, ist authentisch oder perfekt." (Nr. 22) In den Details eines Lebens könne es auch Fehler und Schwächen geben. Im Fokus sollte daher vielmehr die Gesamtheit eines Lebens stehen und der "ganze Weg der Heiligung".
Aber wie schafft man es, als guter, vorbildlicher Christ zu leben? Auch auf diese Frage findet Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben eine Antwort: "Es ist notwendig, dass ein jeder auf seine Weise das tut, was Jesus in den Seligpreisungen sagt. In ihnen zeichnet sich das Antlitz des Meisters ab; wir sind gerufen, es im Alltag unseres Lebens durchscheinen zu lassen." (Nr. 63) Dabei kommt es Franziskus vor allem darauf an, das Evangelium im eigenen Handeln im Alltag umzusetzen: "Wir denken vielleicht, dass wir Gott die Ehre nur mit dem Gottesdienst und dem Gebet geben oder wenn wir lediglich einige ethische Vorschriften beachten – in der Tat kommt der Beziehung zu Gott der Vorrang zu –, und vergessen dabei, dass das Kriterium für die Beurteilung unseres Lebens vor allem darin besteht, was wir den anderen getan haben." (Nr. 104) Als Kennzeichen eines heiligmäßigen Lebens formuliert Franziskus unter anderem Durchhaltevermögen, Freude, Sinn für Humor, Wagemut, Gemeinschaftssinn und Gebet. Heiligkeit sei damit "nichts anderes als in Fülle gelebte Liebe" (Nr. 21).
In seinem Brief vom Samstag formuliert Papst Franziskus konkrete Beispiele für die von ihm beschriebenen "Alltags-Heiligen": Eheleute, die ihre Liebe treu leben und sich Nachwuchs geöffnet haben, Frauen und Männer, die mit ihren Berufen ihre Familien unterstützen und an der Ausbreitung des Reiches Gottes mitwirken, junge Menschen, die Jesus mit Begeisterung nachfolgen, Priester, die durch ihren Dienst die Gnadengaben Gottes verteilen oder Ordensfrauen und -männer, die durch ihr Leben ein Abbild Christi zeigen. An dieser auf der ganzen Welt verstreuten Heiligkeit des Alltags sei die Kirche schon immer reich gewesen, schreibt Franziskus. In diesen "Alltagsheiligen" und auch den offiziellen Seligen und Heiligen der Kirche sieht Papst Franziskus "unsere Freunde, Weggefährten, die uns helfen, unsere Taufberufung voll zu verwirklichen, und uns das schönste Gesicht der Kirche zu zeigen, die heilig und die Mutter der Heiligen ist".
Am Weihetag der Lateranbasilika
Schon jetzt gehört Franziskus zu den Päpsten, die die meisten Kanonisierungen der Kirchengeschichte vorgenommen haben. Und mit dem von ihm initiierten Gedenktag für die "Heiligen des Alltags" könnte er sogar den Weg für weitere Kanonisierungsverfahren ebnen: Die lokale Verehrung gehört zu den notwendigen Bedingungen, um ein offizielles Selig- oder Heiligsprechungsverfahren überhaupt zu eröffnen. Es wäre also nicht verwunderlich, wenn der neue Gedenktag zur volkstümlichen Verehrung von einigen dieser "Heiligen von nebenan" beitragen – und aus ihnen dann irgendwann auch ganz offiziell Selige und Heilige der katholischen Kirche machen würde.
Dass der Papst sich bei diesem neuen Gedenktag – der nach seinen Vorstellungen kein offizieller liturgischer Gedenktag sein soll – für den 9. November entschieden hat, ist kein Zufall. An diesem Tag feiert die Kirche den Weihetag der Lateranbasilika. Bis heute ist die Kirche Sitz des Bischofs von Rom. Daher unterschreibt Papst Franziskus zahlreiche seiner Dokumente mit "Rom, Sankt Johannes im Lateran" – so auch den am Samstag veröffentlichten Brief. Die vor 1.700 Jahren geweihte Basilika führt unter anderem den Titel "Mutter und Haupt aller Kirchen des Erdkreises". Und schon im vollständigen Titel der Kirche klingt einiges an Heiligkeit an: "Erzbasilika des allerheiligsten Erlösers, des heiligen Johannes des Täufers und des heiligen Johannes des Evangelisten im Lateran". Platz für weitere Alltagsheilige wäre aber vielleicht auch hier.