Spiritual Care als Konzept der Palliativversorgung und darüber hinaus

Theologe: Spirituelle Klarheit am Lebensende so wichtig wie Medikamente

Veröffentlicht am 07.12.2024 um 12:05 Uhr – Von Gabriele Höfling – Lesedauer: 

Bonn ‐ Um Menschen ein gutes Sterben zu ermöglichen, braucht es nicht nur Medikamente gegen die Schmerzen. Auch spirituelle Fragen wollen geklärt werden – und das kann ungeahnte Kräfte freisetzen.

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Wenn Wolfgang Lingl zu den Patienten in der Palliativstation der Uniklinik in München geht, dann hat er vor allem eins im Gepäck: Zeit. Den Menschen auf der Palliativstation bietet er sich zu Gesprächen an – buchstäblich über Gott und die Welt. Oft dauert es nicht lange, bis sie bei den existenziellen Themen sind: "Die Menschen berichten von ihrem Krankheitsverlauf, von ihrem Leben. Oft wird im Erzählen klar, dass sie Frieden gemacht haben mit ihrer Situation", sagt der Krankenhausseelsorger. Dabei gehe es nicht nur um die berechtigten Ängste und Nöte der Menschen, sondern auch um Dankbarkeit für die Dinge, die sie erlebt haben. "Das kann eine ganz große Ressource sein für die schwere Situation, in der sie sich befinden."

Spirituelle Ressourcen von Menschen am Lebensende heben – das hat sich die "Spiritual Care" zur Aufgabe gemacht. Es handelt sich um ein Konzept, das gerade nicht nur von Krankenhausseelsorgerinnen und -seelsorgern angewendet wird, sondern alle Disziplinen betrifft: Ärzte, Pflegepersonal, Psychologen. Als erstes hat die britische Krankenschwester Cicely Saunders (1918 – 2005) die Spiritualität als einen zentralen Teilaspekt der Palliativversorgung identifiziert, der gleichberechtigt neben medizinischen, sozialen und psychischen Aspekten steht. Heute wird in vielen Krankenhäusern schon im Fragebogen zur Aufnahme abgefragt, ob die Patienten auch ein Bedürfnis nach spiritueller Begleitung haben.

„Die Menschen berichten von ihrem Krankheitsverlauf, von ihrem Leben. Oft wird im Erzählen klar, dass sie Frieden gemacht haben mit ihrer Situation.“

—  Zitat: Wolfgang Lingl

Spiritual Care vertritt ein breites Verständnis von Spiritualität, das nicht an eine bestimmte Religion oder Konfession gebunden ist. "Schon in der Haltung, wie die Pflegenden ihren Patienten begegnen, zeigt sich Spiritual Care. Pflege ist eben viel mehr als nur Spritzen setzen oder Hintern abputzen: Es geht um einen wertschätzenden Umgang, um die Würde des Menschen", erklärt Stefan Gärtner, der in den Niederlanden an der Tilburg-University praktische Theologie lehrt. Schon kleine Gesten könnten eine große Wirkung entfalten. Gärtner berichtet von einem Krankenhaus, das auf Organtransplantationen spezialisiert ist. Vor den Transplantationen nennt dort ein Seelsorger im OP den Namen des Organspenders, spricht ein, zwei persönliche Sätze – eine Geste des Innehaltens, für die auch Ärzte und Pflegepersonal dankbar sind. "Diese kurzen Momente wirken über sich hinaus", ist der Theologe überzeugt.

Wird die Klinikseelsorge durch Spiritual Care verdrängt?

Ein so gefasster Begriff der Spiritualität lässt jedoch bei so manchen Kirchenoffiziellen die Alarmglocken schrillen: 2021 veröffentlichten die deutschen Bischöfe das Grundlagenpapier "Bleibt hier und wacht mit mir" (Mt 26,38) zur palliativen und seelsorglichen Begleitung von Sterbenden. Erstmals gehen sie darin auch auf Spiritual Care ein. Neben eine Würdigung des Konzepts treten auch Bedenken, Spiritualität könnte ausgehöhlt werden, zu einem vagen Begriff verkommen. "Weder darf kirchliche Seelsorge in Spiritual Care aufgehen und dabei das Besondere der christlichen Tradition zugunsten einer größeren Akzeptanz im säkularen Umfeld aufgeben, noch darf sie sich in einen einfachen Gegensatz zu den Konzepten der Spiritual Care setzen", sagte Bischof Georg Bätzing, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, bei der Vorstellung des Papiers.

Verlustängste, dass Spiritual Care die klassische Klinikseelsorge verdrängen könnte, gibt es immer wieder. Gleichzeitig ist laut Stefan Gärtner die Zufriedenheit von Patienten mit der Krankenhausseelsorge durchgehend hoch. Und so ist auch die praktische Erfahrung von Wolfgang Lingl: "Dass Patienten von vornherein sagen, dass sie nicht mit einem ‚Kirchenmann‘ sprechen wollen, ist äußerst selten. Und wenn ich erstmal da bin und mit ihnen rede, spielen für viele die Religionszugehörigkeit oder Konfession ohnehin keine große Rolle mehr."

Anders als Ärztinnen oder auch Psychologen müssen Seelsorgerinnen und Seelsorger keine therapeutische Agenda im Hinterkopf haben, sondern können ganz zweckfreie Gespräche führen und sich auf das Seelsorgegeheimnis berufen. Gerade das führe manchmal zu einem "goldenen Moment", in dem sich Patientinnen und Patienten öffnen, sagt Lingl. "Wir müssen nicht in einen handlungsorientierten Aktionismus verfallen, sondern können uns der existenziellen Situation stellen, ihrer Not Raum geben, sie mit aushalten." Im Geflecht der verschiedenen Professionen sieht sich der Seelsorger, der auch Fachbereichsleiter Hospiz und Palliativ im Erzbistum München und Freising ist, als eine Art "Sachverwalter für existenzielle Fragen". Eine Funktion, die er auch in den regelmäßigen interdisziplinären Meetings vertritt. Das Potential einer so verstandenen Spiritual Care ist auch aus Sicht von Stefan Gärtner groß: "Durch eine spirituelle Klarheit am Lebensende können Menschen Kräfte mobilisieren, die genauso wie Medikamente helfen können, ihre Situation erträglicher zu machen."

Bild: ©Privat

Der praktische Theologe Stefan Gärtner lehrt an der Universität Tilburg.

Die Nachfrage nach Spiritual Care, da ist er sich sicher, wird nie verschwinden. Längst wächst das Konzept über das Feld der Palliativmedizin hinaus. In den Niederlanden etwa stehen in manchen Hausarztpraxen freiberufliche "Spiritual Care-Givers" als Ansprechpartner für Patienten zur Verfügung. Und nach einem Erdbeben in der Stadt Groningen, hervorgerufen durch Gasförderung im Untergrund, gehörten solche Personen zu den Ersthelfern, ähnlich wie Notfallseelsorger. Eigene Studiengänge zu Spiritual Care gibt es zum Beispiel an den Universitäten in Münster und München oder in Basel in der Schweiz.

Mit dem Weihrauchfass durchs Gefängnis

Die Herausforderung für die kirchliche Seelsorge wird es in Zukunft sein, sich unter den veränderten Bedingungen zurechtzufinden, glaubt Gärtner. "Seelsorger dürfen sich keinesfalls in eine Nische zurückziehen und sich nur auf Beichtgespräche oder die Krankensalbung konzentrieren. Es gilt viel mehr, gute Rituale und Symbolhandlungen zu entwickeln und ihre Kompetenz einzubringen in einem Kontext, der nicht christlich ist." Auch hier nennt er zur Verdeutlichung ein Beispiel: In einer Haftanstalt habe ein Gefangener Suizid begangen. Daraufhin ging der Gefängnisseelsorger mit einem Weihrauchfass durch die Räume – als eine Art reinigendes Ritual, für einen Neuanfang nach der Trauer. Das Symbol leuchtete auch den weniger gläubigen Gefängnisinsassen sofort ein.

Wegweisend könnte auch ein Gerichtsurteil des Sozialgerichts Karlsruhe aus dem Jahr 2019 sein. Es verpflichtete eine Krankenkasse dazu, die Kosten für die palliative Seelsorge eines Patienten zu übernehmen. Er hatte Rat bei einer beim Krankenhaus angestellten Seelsorgerin gesucht. "In Zeiten einer fortschreitenden Entchristlichung der Gesellschaft, in der die Kirchen immer schwächer werden, erkennen jetzt also Gerichte die existentielle Notwendigkeit von Seelsorge an und garantieren ihr Fortbestehen", erklärt Gärtner. Auch wenn die Kirchen in Zukunft möglicherweise aufgrund von Personalmangel selbst keine hauptamtlichen Seelsorgerinnen und Seelsorger mehr in Krankenhäuser schicken könnten, wäre so eine spirituelle Versorgung gesichert – und Patienten hoffentlich die Zeit eingeräumt, sich in Ruhe mit ihrer eigenen Situation auseinanderzusetzen.

Von Gabriele Höfling