Heilige von nebenan – Spiegelungsfolien für uns alle
Papst Franziskus will ab dem kommenden Jahr am 9. November einen Gedenktag für "Alltags- und Nebenan-Heilige" einführen. Gut so! Denn damit wird ein markantes Defizit der katholischen Kirche im Umgang mit Heiligen zumindest teilweise kompensiert: Bei den von der Kirche "zur Ehre der Altäre erhobenen", also heiliggesprochenen, Menschen handelt es sich fast ausschließlich um zölibatär lebende Personen – Priester und Ordensfrauen. Wenn aber Heilige die "hervorragenden Repräsentanten der Kirche sind", an denen man "am besten ablesen kann, was Kirche ist" (so im Katholischen Erwachsenenkatechismus von 1985), dann stellt sich die Frage: Durch wen fühlen sich nichtklerikale oder nichtzölibatär lebende Christen repräsentiert?
Die Alltagshelden können solche Spiegelungsfolien sein, die uns Optionen eines gelungenen Lebens auf dem schrittweisen Weg zur eigenen Heiligung zuspielen. "Heilige der Unscheinbarkeit" nennt sie Romano Guardini: Entscheidend sei nicht, dass ein Mensch etwas Außergewöhnliches plane, er müsse nur das tun, "was von Mal zu Mal die Stunde von ihm verlange".
Tugenden und Werte bekommen ein Gesicht
"Heilige der Unscheinbarkeit": Das sind Menschen, die bei ganz unterschiedlichen Projekten mithelfen: bei der Tafel, bei der Bahnhofsmission, bei der Telefonseelsorge, bei lokalen Nachbarschafts-, Begegnungs- und Flüchtlingsprojekten, in der Hospiz- und Trauerarbeit, bei Hilfsprojekten für ärmere Länder, bei der Organspende, bei Friedensprojekten. Jugendliche arbeiten als Missionare auf Zeit in einem fremden Land oder lassen sich an der Schule zu Streitschlichtern ausbilden. Zu den "Heiligen des Alltags" zählen auch Menschen, die sich in kirchlichen Einrichtungen engagieren, als Sternsinger, Ministrantin, Pfarrmesner, Jugendarbeiterin. Und auch zivilcouragierte Menschen und Lebensretter gehören dazu. Oder es sind Menschen, die einfach nur ehrlich handeln oder die Fairplay-Regeln im Sport einhalten. Eine besondere Gruppe stellen Personen dar, die zeigen, wie sie trotz Handycaps ihr Leben meistern. Anstatt abstrakt Tugenden und Werthaltungen zu benennen, bekommen diese über die dargestellten Personen ein Gesicht.
Als Religionspädagoge erachte ich diese Spur als äußerst bedeutsam, wenn es darum geht, im Religionsunterricht und auch in der Gemeindearbeit Kindern und Jugendlichen Orientierungspunkte für das eigene Leben an die Hand zu geben, ohne einem einfachen Nachahmungsmuster zu verfallen. Vielmehr geht es darum, dass sich heutige Kinder und Jugendliche an solche Personen und den Werten, für die sie stehen, annähern, sich mit ihnen auseinandersetzen und sich insgesamt an ihnen abarbeiten. Im Einzelfall können die Lernenden dann zu anderen Entscheidungen kommen, weil sie anderen Wertoptionen den Vorrang geben. Das ist aber auch gut so. Denn es geht nicht darum, solche "Helden von nebenan" nachzuahmen, sondern eine eigene Lebensspur zu gewinnen. Martin Buber bringt dies in einer Erzählung der Chassidim treffend auf den Punkt: "Vor dem Ende sprach Rabbi Sussja: In der kommenden Welt wird man mich nicht fragen: 'Warum bist du nicht Mose gewesen?' Man wird mich fragen: 'Warum bist du nicht Sussja gewesen?'". Auch in Lehrplänen und Schulbüchern haben die "Helden des Alltags" oder "Local heroes" Eingang gefunden, weil man um die ermutigende Kraft des nächsten Schritts weiß.
Doch wie werden Menschen Helden? Bei der Durchsicht der vielen hundert Beispiele in der Datenbank der "Local heroes" konnten folgende Kennzeichen herausgearbeitet werden:
- Erziehung und Elternvorbild: Das familiäre Umfeld und der Anstoß durch andere Engagierte motiviert Menschen, zivilgesellschaftlich tätig zu werden.
- Achtsamkeit: Helden von nebenan gehen mit offenen Augen durch die Welt und lassen sich von der Not und Hilfsbedürftigkeit anderer berühren.
- Dankbarkeit: Die "Local heroes" äußern immer wieder, dass sie dankbar auf ein erfülltes Leben zurückblicken und deshalb der Gesellschaft etwas zurückgeben wollen.
- Kreativität und Spontanität: Helden des Alltags haben ein weites Herz und kleben wenig an Sicherheiten, deshalb sind sie auch bereit für spontane Aktionen.
- Gemeinsam Spaß haben: In einer Gruppe von Gleichgesinnten aktiv sein, auch in Formen des Events, erfüllt. Wer sich engagiert, ist lebenszufriedener.
- Religiöse Motive: Soziales Handeln ist kein Privileg religiöser Menschen. Religiöse Motive werden nur sehr zurückhaltend geäußert, denn die Helden des Alltags tragen ihren Glauben nicht wie ein Ritterschild vor sich her; er ist eher ein tiefer Grund, der die Gott-Mensch-Beziehung auf die Mensch-Mensch-Beziehung ausweitet.
Manchmal sind es aber auch einfach Zufälle, zum Beispiel die Beobachtung, dass ein schwerkrankes Kind den gleichen Namen trägt wie man selbst, die dann zum Handeln anregen. Was die Helden des Alltags außerdem kennzeichnet: Sie sind bescheiden ("das ist doch nichts Besonderes") und sie prahlen nicht; sie wachsen schrittweise in ihr Heldengewand hinein und sind dann aber sehr hartnäckig, wenn es um ihr Projekt geht. Dass sie fast ganz normal sind – abgesehen vom spezifischen Engagement – lässt sie als besonders geeignet erscheinen, um sich von ihnen anregen zu lassen: Auch in unserer Wohlstandsgesellschaft ist es möglich, altruistisch zu handeln. Und das Engagement kann auch zeitlich begrenzt sein – wie der barmherzige Samariter (Lk 10, 29-37), der hilft und dann wieder seiner Wege zieht. Aus den Ehrenamtlichen-Surveys geht hervor, dass sich Mitglieder der Katholischen und Evangelischen Kirche überdurchschnittlich häufig engagieren, weit mehr als Menschen ohne Konfessionszugehörigkeit. Das verwundert nicht, enthält doch gerade auch das Christentum konkrete ethische Weisungen (Dekalog, Bergpredigt) für ihre Mitglieder bereit.
Man kann trefflich darüber streiten, ob der Helden- und Heiligenbegriff nicht inflationiert wird, wenn jede noch so kleine Tat beispielsweise auch im Rahmen einer beruflichen Tätigkeit bereits als etwas Außergewöhnliches bezeichnet wird. Statt eines digitalen "entweder – oder" kann man die Begriffe aber auch prozesshaft und dynamisch anlegen im Sinne eines "schrittweisen Held- und Heiligwerdens": Das Bemühen um ein persönliches Wachstum im Mensch- und Christsein verläuft in kleinen aufeinanderfolgenden Schritten und nicht nach einer Gipfelstürmermentalität. Das ist gerade für Kinder und Jugendliche motivierend. Die großen Heiligen schrecken eher ab. "You’ll never make a saint of me" – so arbeiten sich die Rolling Stones im Song "Saint of me" an Paulus, Augustinus und Johannes dem Täufer ab. Die kleinen Heiligen können zu Ausflügen in gute Welten motivieren. Dass religionssoziologisch inzwischen die Feste Allerheiligen und Allerseelen miteinander verschmelzen, weil in den Gemeinden zumeist am Allerheiligentag beider Gruppen in Kirche und Friedhof gedacht wird, ist eine begrüßenswerte Entwicklung, weil somit zusammenfließt, was auch zusammengehört: Heilig ist allein Gott, wir alle, die großen Heiligen, unsere verstorbenen Angehörigen und wir selbst haben in gestufter Form Anteil an der Heiligkeit Gottes.
"Wir sind alle berufen, heilig zu sein"
Die Heiligen von nebenan können tatsächlich Spiegelungsfolien für uns alle sein; auch diesen Gedanken hat Papst Franziskus schon einmal geäußert: "Wir sind alle berufen, heilig zu sein, indem wir in der Liebe leben und im alltäglichen Tun unser persönliches Zeugnis ablegen, jeder an seinem Platz, an dem er sich befindet." (Papst Franziskus, Enzyklika "Gaudete et exsultate", 2018, Nr. 14).
Mit der Blickveränderung von den großen Vorbildern auf die kleinen Heiligen des Alltags hin verbinden sich ganz praktische Überlegungen: Man findet die Heiligen des Alltags auch in der eigenen Umgebung. Deshalb können beispielsweise Schulklassen oder Firmgruppen vor Ort eine Spurensuche unternehmen und mit Helden des Alltags ins Gespräch kommen, sie interviewen, eine Ausstellung organisieren, Podcasts produzieren oder einen außergewöhnlichen "Allerheiligen-Kalender" anfertigen. In Pfarrgemeinden kann man die ehrenamtlich Tätigen dazu motivieren, in regelmäßigen Abständen sich und ihre eigenen Projekte auf der Gemeindehomepage, im Pfarrbrief oder im Info-Kasten der Pfarrei vorzustellen. Reizvoll ist es sicher auch, Impulse für Gespräche in Familien zu setzen: Wer imponiert mir? Von wem kann ich etwas lernen? Wer spornt mich an? Wir wissen aus vielen Untersuchungen, dass bei solch ernsthaften Fragen nicht Promis und Stars genannt werden, sondern Menschen aus der näheren Umgebung und der eigenen Familie. Der Papst hat Recht: Die Heiligen von nebenan verdienen es, genauer betrachtet zu werden!
Datenbank zu den "Helden des Alltags"
Unter der Leitung von Prof. Hans Mendl pflegt der Lehrstuhl für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts der Universität Passau eine Datenbank zu den "Helden des Alltags". Diese ist auf der Internetseite der Universität abrufbar: www.uni-passau.de/local-heroes
Mendl hat zudem weitere Publikationen zum Thema veröffentlicht:
Mendl, Hans: Helden wohnen nebenan. Lernen an fremden Biografien, Ostfildern 2020
Mendl, Hans: Modelle – Vorbilder – Leitfiguren. Lernen an außergewöhnlichen Biografien. Stuttgart 2015
Heilige wie wir. Themenhefte Gemeindearbeit 74 (2/2006)