Papst-Staatsanwalt Diddi spricht über Ermittlungen

Das geheimnisumwobene Vatikan-Dossier im Fall Orlandi existiert

Veröffentlicht am 13.12.2024 um 00:01 Uhr – Von Severina Bartonitschek (KNA) – Lesedauer: 

Rom ‐ Seit über 40 Jahren spekuliert Italien über das Verschwinden der damals 15-jährigen Vatikan-Bürgerin Emanuela Orlandi. Der vatikanische Staatsanwalt Diddi äußerte sich nun über eine Entdeckung bei seinen neuerlichen Ermittlungen.

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"Fünf Hypothesen – alle könnten falsch sein, aber nicht alle wahr, weil sie sich gegenseitig ausschließen." Kürzlich sprach der üblicherweise schweigsame vatikanische Staatsanwalt Alessandro Diddi über seine Ermittlungen in einem der spektakulärsten Kriminalfälle Italiens – das Verschwinden von Emanuela Orlandi.

Seit über 40 Jahren bewegt das ungeklärte Schicksal der damals 15-jährigen Vatikan-Bürgerin die Gemüter. Jegliche Ermittlungen liefen bislang ins Leere. Regelmäßig aber tauchen vermeintlich neue Hinweise oder Zeugen auf, stets lärmend begleitet von Italiens Medien. Zusätzlich wirbt Orlandis Bruder Pietro mit turnusmäßigen Interviews und Talkshow-Auftritten um Aufklärung.

Kritik an staatlichem Untersuchungsausschuss

Im März dieses Jahres noch richtete Italiens Parlament einen Untersuchungsausschuss ein. Dessen Anhörungen kritisiert Diddi als "Spektakel", die der Rekonstruktion der Ereignisse nicht dienlich sei. Der Staatsanwalt selbst hatte 2023 im Auftrag von Papst Franziskus neuerliche Ermittlungen im Fall Orlandi aufgenommen. Und darüber sprach er bei einer Buchvorstellung in Rom.

Dabei bestätigt Diddi erstmals die bis dato höchst umstrittene Existenz eines Vatikan-Dossiers über das verschwundene Mädchen. "Das Dossier existiert und wir haben es gefunden." Es sei jenes Dokument, über das Pietro Orlandi vor dem staatlichen Ausschuss gesprochen habe.

Möglicherweise handelt es sich dabei um jenen "Orlandi-Bericht", den Paolo Gabriele, der damalige Kammerdiener Benedikts XVI., auf dem Schreibtisch von dessen Privatsekretär Georg Gänswein gesehen haben will. Gabriele wurde im Rahmen des Vatileaks-Skandals wegen Diebstahls vertraulicher Dokumente des Papstes verurteilt und später begnadigt. Der 2020 gestorbene Ex-Kammerdiener hatte Pietro Orlandi von besagtem Dossier berichtet, es aber – anders als viele andere Papiere – nicht kopiert.

Pietro Orlandi in Rom vor dem Petersdom
Bild: ©picture alliance / Photoshot (Archivbild)

Kämpft seit Jahren öffentlich um eine Aufklärung des Vermisstenfalls: Emanuelas Bruder Pietro Orlandi.

Gänswein bestreitet dies. Ein Dossier, das die ganze Wahrheit über Hergang und Täter umfasse, habe es nie gegeben, schreibt er in seinem Buch im Jahr 2023. "Ich habe nie etwas im Zusammenhang mit dem Orlandi-Fall zusammengestellt, daher wurde dieses 'Phantomdossier' nicht veröffentlicht, weil es einfach nicht existiert."

Über Autorenschaft und Inhalt des Berichts wollte Diddi sich nicht äußern. Dies würde die verschiedenen "nebulösen Theorien", die gelegentlich in der Presse auftauchten, nur noch weiter anheizen, so der Staatsanwalt. Aber er hoffe, eines Tages die geleistete Arbeit der Öffentlichkeit zugänglich machen zu können – einschließlich des "berühmten Dossiers", aus dem dann jeder seine eigenen Schlüsse ziehen könne.

Spekulationen über Verschwinden des "Vatikan-Mädchens"

Am 22. Juni 1983 kehrte Emanuela Orlandi, die damals 15-jährige Tochter eines Hofdieners von Papst Johannes Paul II., von ihrem Musikunterricht nicht nach Hause zurück. In den folgenden Jahrzehnten entspannen sich um ihr Verschwinden zahllose Gerüchte und Verschwörungstheorien. Eine besagt, das Mädchen sei entführt worden, um eine Freilassung des Türken Mehmet Ali Agca zu erzwingen. Dieser hatte im Mai 1981 auf dem Petersplatz ein Attentat auf Johannes Paul II. verübt. Spekuliert wurde auch über eine Erpressung der Vatikanbank durch eine römische Mafia-Organisation oder vatikanische Sex- und Drogenpartys, deren Opfer Emanuela geworden sein könnte. Das Gerücht, dass Emanuela abgeschieden in einem Kloster leben soll, hält sich ebenfalls hartnäckig. All dies ließ sich nie beweisen.

Diddi bestätigt fünf alternative Spuren der vergangenen Jahre: Menschenhandel, Probleme innerhalb der Familie Orlandi, Hinweise zu einem möglichen Missbrauch im Vatikan, sowie die Hypothesen um Ali Agca und die Vatikanbank.

Ziel sei es zu verstehen, welche Hypothesen eliminiert werden könnten und welche nicht. Über weitere Erkenntnisse oder ein mögliches Untersuchungsende sprach Diddi nicht: "Papst Franziskus hat mich immer aufgefordert, Nüchternheit und Vertraulichkeit zu wahren, und das ist meine Hauptaufgabe, auch um den Preis, dass ich Kritik einstecken muss, auf die ich nicht antworten kann."

Von Severina Bartonitschek (KNA)