Historikerin: Im Mittelalter waren Glaubensgrenzen durchlässiger
Die Glaubenslandschaft des Mittelalters war weitaus vielfältiger, als viele Menschen denken, sagt Dorothea Weltecke. Die Berliner Professorin für europäische Geschichte des Mittelalters hat Quellen aus dem Mittelalter ausgewertet und einen Prozess der religiösen Identitätskonstruktion herausgeschält. Im Interview spricht sie über mehrere Christentümer, gar nicht mal so durchsetzungsstarke Kirchen und multireligiöse Objekte.
Frage: Frau Weltecke, in Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Religionsgrenzen bis zum siebten Jahrhundert noch nicht so festgelegt waren, wie wir das heute kennen. Wie kommt das?
Weltecke: Mein Buch geht von dem historischen Umstand aus, dass der Begriff "Religion" so wie wir ihn kennen, erst seit dem 16. und 17. Jahrhundert entstanden ist. Es gibt auch in außereuropäischen Sprachen für diesen modernen Begriff eigentlich keine Synonyme. Das ist für die historische Forschung interessant: Was war vorher? Wie war es vorher? Natürlich gab es vorher Glaubenstraditionen und Kulte. Aber viele Spezialisten für die antiken Kulte möchten für die antike Epoche den Begriff "Religion" nicht mehr anwenden, weil sie sagen, dass die antiken Kulte anders waren als die modernen Religionen. Aus ihrer Sicht führt daher auch der Begriff "Religion" für diese Kulte und Glaubenstraditionen in die Irre.
Auch wenn es z.B. die Theologie der Kirchenväter und die Entscheidungen der Konzilien gab, waren in der Alltagswelt die christlichen Kulturen zwischen Asien, Afrika und Europa noch nicht so einheitlich. Deswegen spricht man für diese ersten Jahrhunderte auch manchmal von "Christentümern" und nicht von "dem" Christentum. So ähnlich ist es auch bei Juden und Muslimen: In der jüdischen Tradition breitete sich einerseits die Lehrtradition des Talmuds und aus, aber viele Gemeinden kannten ihn auch lange nach seiner Vollendung noch nicht. Der Islam brauchte auch Zeit, sich zu entwickeln. Nicht alle Menschen beurteilten auch in ihrer Realität die Grenzen zwischen den Glaubenstraditionen so wie die Gelehrten. Sie waren für sie nicht immer so wichtig, so dass es Lebensweisen gab, die Elemente verbanden. Die Trennung vollzog sich langsamer als die gelehrten Schriften es forderten. Außerdem gab es einen Markt an Ideen, an dem Gemeinden verschiedener Glaubenstraditionen teilhatten, auch wenn gewisse Aspekte eigentlich nicht zu ihnen passen. Man hat zum Beispiel in Mesopotamien magische Schalen gefunden, auf denen Beschwörungen gegen Dämonen zum Schutz vor Krankheit und Tod aufgebracht wurden. In der Form dieser Beschwörungen finden wir Motive über Sprach- und Glaubensgrenzen hinweg. Davon hielten die Gelehrten zwar nichts, die Leute taten es aber trotzdem. Systematik, Vernetzung, Einheitlichkeit in der Realität der Menschen und der Gemeinden – das sind Elemente, die allmählich erst entstanden. Um diesen Prozess geht es mir.
Frage: Wie kommt es denn, dass aus den Glaubenstraditionen Religionen werden?
Weltecke: Ich behaupte, dass dies viel mit dem Aufstieg monarchischer Herrschaftsformen zu tun hat, die eine bestimmte soziale und rechtliche Dynamik in Gang setzte. Das hat niemand so geplant, aber es ist so gekommen: Es entstand in den mittelalterlichen Jahrhunderten eine systematische rechtliche und soziale Kategorie der Ungleichheit zwischen Individuen und Gruppen, die es in dieser Form vorher nicht gegeben hatte. Die monarchischen Herrscher brauchten in den älteren Epochen immer einen Überschuss an Legitimation, zum Beispiel durch eine höhere Macht, andernfalls waren ihre Ansprüche nicht durchsetzbar. Monarchen in den Kulturen der Welt konnten "Söhne des Himmels" oder "vergöttlicht" sein oder ihre Macht als von Gott gegeben legitimieren. Seit der Spätantike experimentierten Herrscher in Afroeurasien mit unterschiedlichen Legitimationsformen. Der römische Kaiser Konstantin und fast zeitgleich der äthiopische Kaiser oder der armenische König entschieden sich im 4. Jahrhundert für eine Bindung an Gott und Christus und hofften, für ihre Treue mit seiner Unterstützung belohnt und in der Herrschaft gestärkt zu werden. Von ihren Untertanen verlangten sie ihrerseits Treue ihnen gegenüber. Es gab im frühen Mittelalter weitere Experimente mit der Legitimation in Afroeurasien, wie zum Beispiel mit der Treue zum Gott der jüdischen Tradition und der hebräischen Bibel wie in Altsüdarabien und später bei den Khazaren. Die Herrscher der Uiguren schlossen sich der manichäischen Tradition an. Auch die Herrscher der Muslime übernahmen das Modell; die Kalifen sollten Stellvertreter des Propheten sein und hatten daher ebenfalls eine von Gott legitimierte Position.
Zugleich entstanden dadurch von Anfang an neue rechtliche Unterscheidungen für diejenigen Menschen im Raum dieser Herrschaftsgebiete, die nicht Christen, die nicht Juden, die nicht Manichäer oder Muslime waren. Privilegieren, Diskriminieren und Segregieren waren Praktiken, die auch in den älteren Kulturen oder in anderen Regionen Eroberte oder Fremde in ungleiche Gruppen aufteilten. Hier wurden sie mit der sich systematisierenden Theologie begründet. Die theologischen Entscheidungen über die Frage, was noch christlich, was jüdisch und islamisch sei und was nicht mehr, erhielten dadurch eine fundamentale soziale und rechtliche Bedeutung. Diese Dynamik ordnete Menschen letztlich unabhängig von dem, was sie selbst individuell für richtig hielten oder lebten, bestimmten Gruppen zu. Aus diesen rechtlich einander nicht gleich gestellten Gruppen entstanden allmählich die "Religionen".
Frage: Wie läuft da denn die Entwicklung bei den christlichen Gemeinschaften ab?
Weltecke: Da die christlichen Lehren mit Formen der Herrschaft verbunden waren, wirkten auch die politischen Veränderungen auf die christlichen Gemeinden ein. Seit dem 4. Jahrhundert lässt sich eine Verringerung des Spektrums der Christentümer beobachten; eine Orthodoxifizierung der unterschiedlichen Kirchen vertiefte sich. Dabei entstanden im 5. Jahrhundert parallele Kirchenhierarchien wie die lateinisch oder griechisch geprägte Kirche des Römischen Reiches sowie die verschiedenen orientalischen Kirchen. Dieses System von Kirchen wurde im Mittelalter vielfältiger, es kamen zum Beispiel noch die serbische und die russische Kirche dazu. Die neuen Kirchen ordneten sich je nachdem, ob sie dem Konzil von Chalcedon von 451 zustimmen oder nicht, Glaubensbekenntnissen zu. Außerdem entstanden unterschiedliche sprachliche und liturgische Traditionen, die miteinander durchaus im Austausch waren, aber sich auch voneinander abgrenzten. Sie alle waren grundsätzlich mehr oder weniger nach dem Modell der Kirche im Römischen Imperium organisiert, also mit monarchischem Bischofsamt, mit weltlichem Klerus und Klöstern. Das verbindet fast alle Kirchen. Diese bestehenden Institutionen verfestigten sich mit der Zeit und traten miteinander in Beziehung bzw. grenzten sich voneinander ab. Außerhalb der Kirchen entstanden immer wieder einmal neue, weniger organisierte christliche Glaubensgruppen, die von diesen Kirchen nicht anerkannt wurden, sondern als "Häretiker" ausgegrenzt wurden.
Frage: Dagegen haben viele Menschen ein Bild von Mittelalter im Kopf, in dem die Kirche eine ganz beherrschende Stellung innehatte. Wie passt das zusammen?
Weltecke: Es gab im Mittelalter ja ein System von Kirchen, nicht nur die eine lateinische Kirche von Rom. Dass die anderen aus unserem Geschichtsbild ausgeblendet wurden, ist eine Folge des Endes des Römischen Reiches im Jahr 1453 und des Alleinvertretungsanspruches der lateinischen Kirche. Hinzu kommt ein Geschichtsbild, das stark von der theologischen Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Protestanten geprägt ist. Für die Protestanten war das Mittelalter gekennzeichnet durch die sogenannte Tyrannei der (römischen) Kirche, für die Katholiken eine Zeit vergangener Einheit, die die Protestanten zerstört hätten. Beide projizierten also neue historische Legitimation und Polemik auf die Vergangenheit. Die Realität war komplexer: Die Lateinische Kirche war immer nur eine Stimme im Chor der Kirchen des Mittelalters. Der Papst hatte nur in der lateinischen Kirche eine Lehrhoheit. Es gab Unionsverhandlungen mit den Vertretern anderer Kirchen im Lauf des Mittelalters, vor allem im 12. und 13. und wieder im 15. Jahrhundert, aber auch Polemik und Abgrenzungen. Seit dem 11. Jahrhundert trennten sich auch die lateinische und die griechische Kirche, auch wenn organisatorisch noch lange an der Einheit festgehalten wurde. Diese Entzweiung wurde bis heute nicht geheilt.
Eine andere Frage ist die nach der alltäglichen Dominanz der römischen Kirche in der europäischen Welt. Es dauerte Jahrhunderte, bis sie das Leben der europäischen Christen im Alltag bestimmen konnte, doch nie so sehr wie in der Neuzeit. Immer auch gab es Leute, denen das alles nicht so wichtig war. Die Inquisitionstribunale, die seit dem 13. Jahrhundert eingerichtet wurden, verfolgten nicht alle Abweichler. Die kirchliche Hierarchie wollte das auch gar nicht. Das Bild einer riesigen kirchlichen Gesinnungspolizei hält der Realität nicht stand. Über solche Machtmittel verfügten die mittelalterlichen Kirchen übrigens alle nicht, wenn auch die lateinische Kirche in der Häresieverfolgung sehr viel radikaler wurde als die anderen.
Frage: Aber es bildet sich doch auch ein Papsttum heraus, das sich mehr und mehr etabliert.
Weltecke: Auch die Autorität des Papsts war nicht von heute auf morgen da, und auch die zentrale Leitung des Papstes war beileibe nicht überall durchgesetzt. Aber sein Einfluss nahm im Lauf des Mittelalters erheblich zu, vor allem seit dem 12. und 13. Jahrhundert. Im frühen Mittelalter gab es Zeiten, in denen sich der Einfluss der Päpste mehr oder weniger auf sein Bistum, also auf Rom, beschränkte. Oft entsprachen die Ansprüche der Päpste und ihre donnernde Polemik gegen ihre Feinde durchaus nicht ihren wirklichen Machtmitteln. Übrigens gilt dieses Missverhältnis von Anspruch und Selbstdarstellung auf der einen und den konkreten Entscheidungsmöglichkeiten auf der anderen Seite auch für die weltlichen Herrscher. Die Welt unter islamischer und christlicher Herrschaft vernetzte sich zwar, aber es gab nirgends einen staatlichen Machtapparat wie wir ihn in der Neuzeit kennen.
Frage: Waren die Leute dann damals toleranter miteinander?
Weltecke: Nein, das kann man nicht sagen. Das Wort "Toleranz" ist in diesem Zusammenhang eher irreführend. Man könnte höchstens sagen, dass die mittelalterlichen Kulturen zugleich toleranter und intoleranter waren als die Gesellschaften, die die Charta der Menschenrechte anerkannt haben. Zu religiöser und ethnischer Gewalt in großem Ausmaß kam es im 19. bis 21. Jahrhundert trotzdem und trotz der Errungenschaften der Aufklärung. In den mittelalterlichen Jahrhunderten konnten Juden, Christen oder Muslime unter jeweils anderer Herrschaft geduldet werden, ihnen konnte es gestattet sein, sich niederzulassen, nach ihren Gesetzen zu leben und ihre Kulte auszuüben. Zugleich waren sie rechtlich benachteiligt, und ihre benachteiligte und auch bisweilen verachtete Position konnte mit Gewalt gefestigt werden. Konkurrierende christliche Gemeinden im Vorderen Orient konnten sich auch schonmal gegenseitig die Kirchen anzünden. Zugleich gab es immer wieder Zeiten und Räume, wo das nicht der Fall war, wo man zusammenlebte und zusammenhielt, wo man sogar zusammen feierte. Man teilte ja über die Grenzen der Glaubenstraditionen hinweg auch Sprachen oder Traditionen.
Frage: Wie war es denn dann, wenn etwa ein Gebiet von einer Gruppe mit einer anderen Religion erobert wurde?
Weltecke: Dann war es vor allem in den frühen Jahrhunderten eher die Ausnahme, dass man die Anhänger der anderen Glaubenstraditionen vertrieb oder mit Zwang bekehrte – diese Ausnahmen bestätigen die Regel. Stattdessen wurden die anderen gewöhnlich in ein rechtliches System integriert. Zu diesem Zweck unterschied man zwischen ihnen und den Gläubigen und duldete sie, solange sie zu einer der anerkannten Traditionen gehörten, also grob gesagt, solange es Juden, Christen oder Muslime waren. Pagane Kulte und Kulte, die allgemein als häretisch angesehen waren, hatten dagegen schlechte Karten.
Die Geduldeten durften keine Herrschaftsfunktionen ausüben und mussten mehr Steuern zahlen, um damit ihre Anwesenheit abzugelten; ihre eigenen Angelegenheiten durften sie mehr oder weniger nach ihren Gewohnheiten regeln. Dieses System funktionierte lange. Aber es kam spätestens im 15. Jahrhundert in die Krise. Danach – nach viel blutiger Gewalt und der Entstehung neuer politischer Gebilde – wurden die Verhältnisse zwischen den Glaubenstraditionen, inzwischen den "Religionen" in unserem Sinn, anders geordnet. Allerdings waren es nach wie vor Rechtsgemeinschaften. Das änderte sich in Europa erst mit der Entstehung der Nationalstaaten und der Emanzipation der Juden.
Frage: Wie die katholischen Könige, die die multireligiöse Landschaft Spaniens derart verändern, indem sie alle Nichtchristen töten.
Weltecke: Herrscher hatten in den mittelalterlichen Jahrhunderten selten die Mittel, Bevölkerungen ganzer Landstriche im großen Stil zu vertreiben oder zu töten. Sie hatten auch gewöhnlich kein Interesse daran. Es gab ja Bedarfe in der Wirtschaft, in der Administration oder auch im bewaffneten Kampf, die die Angehörigen der anderen Traditionen gut oder besser übernehmen konnten, aus unterschiedlichen Gründen. Man mochte also deren Anwesenheit sogar schätzen und fördern. So bestand zwar einerseits das Ideal, dass alle demselben Kult und demselben Glauben folgen sollten, andererseits aber nicht unbedingt der politische oder gesellschaftliche Wille dazu. Das änderte sich im Lauf der Zeit.
Da Herrscher aus ihrer rechten Treue zu Gott ihre Legitimation bezogen, kam den Gottesmännern, also den theologischen und rituellen Hierarchien und Gelehrten, eine besondere Rolle zu. Sie erklärten und begründeten diese Legitimation, sie systematisierten den Glauben, korrigierten und entschieden. Sie begründeten und systematisierten auch die Diskriminierung und forderten etwa Reformen oder gründlichere Segregation von den anderen, nicht zuletzt, um ihre eigene Position zu stärken. Das gehört zur Systematisierung der Glaubenstraditionen in diesen Jahrhunderten. Auch Teile der Bevölkerung konnten sich gegenüber den Minderheiten zurückgesetzt fühlen und verlangen, dass jene wenigstens schlechter behandelt würden als sie selbst. Schwache Herrscher mussten auf populistische Kritiker hören. Diese unterschiedlichen Interessen und Praktiken änderten nachhaltig das Klima, die Selbst- und die Fremdwahrnehmung.
Frage: Gibt es denn da auch Gegenbeispiele?
Weltecke: In den mittelalterlichen Jahrhunderten waren es die mongolischen Herrscher, unter denen zunächst Juden, Christen und Muslime für einige Jahrzehnte rechtlich grundsätzlich auf derselben Stufe standen – von vielen anderen Kategorien der rechtlichen Ungleichheit abgesehen, die hier auch Gültigkeiten hatten (wie Geschlecht, Geburt, Personenstand etc.). Vor allem die Christen und die Juden haben das als Erleichterung wahrgenommen, als Möglichkeit, dass sich Menschen verschiedenen Glaubens friedlich begegnen.
Frage: Gegenseitige Abgrenzung, Populismus. Das klingt alles nach einer Zeit der Identitätssuche.
Weltecke: Das war sie auch. Das ganze Mittelalter hindurch wurde intensiv theologisch diskutiert – man denke allein an all die Konzilien, aber auch an die jüdischen oder islamischen Schulen. Juden, Christen und Muslime integrierten die griechische Philosophie der späten antiken Schultraditionen in das eigene Denken. Es entstanden unterschiedliche Richtungen und Lehren. Immer wieder wurde diskutiert: Ist das noch unser Glaube? Diese Diskussionen fanden innerhalb der Glaubenstraditionen zeitgleich zu den sozialen, politischen und rechtlichen Dynamiken statt, über die wir vorhin gesprochen haben. Die christlichen Kirchen hatte ich schon skizziert. Deshalb musste man sich auch damit auseinandersetzen, zu welcher Gruppe man gehörte. Das führte schon recht früh zu historiografischen Narrativen; man wollte die eigenen Wurzeln kennen und erklären, wie es zu der oder jener Trennung gekommen war. Versteht sich, damit wurde stets die eigene Richtung als die einzig wahre legitimiert. Auch begann man in der islamischen Welt schon in den ersten Jahrhunderten, Enzyklopädien aller Glaubenstraditionen und Lehren zusammenzustellen. Diese historiographischen Anstrengungen, Vergleiche und Sammlungen mündeten schon damals zugleich in die historische Vorstellung eines allgemeinen Judentums, Christentums, Islams, jenseits aller Trennungen, Polemiken und Dispute.
In der Bevölkerung waren es weniger die gelehrten Debatten, sondern eher die Zugehörigkeiten zu bestimmten Gemeinschaften, die die die jeweiligen Identitäten ausmachte. Ihr Zugehörigkeitsgefühl speiste sich aus ihren Festen, ihren Speisen und Liturgien. Es entstand auch durch ihre eigenen rechtlichen und sozialen Institutionen, in denen sie lebten.
Aber in vielen Regionen gab es keine religiöse Einheit. Nicht überall gab es eine so große Vielfalt wie in der islamischen Welt, aber auch in vielen deutschen Städten lebten jüdische Gemeinden, gewöhnlich nicht getrennt, und oft sogar gut sichtbar im Zentrum. Man lebte also gleichzeitig zusammen und getrennt. Man konnte sich gegenseitig dabei zusehen, wenn die anderen in die Kirche oder in die Synagoge gingen, wann sie fasteten, wann sie feierten. Weil man miteinander Handel trieb oder sonst kooperierte, entstanden auch Freundschaften und gegenseitige Einladungen. Das war z.B. unter Kaufleuten sogar wirtschaftlich wichtig, um ihre Risiken durch soziale Bindungen abzusichern.
Man wollte nicht, dass sich die Kinder heirateten und mochte auch überzeugt sein, dass der jeweils andere dereinst in die Hölle kommen würde. Aber man konnte sich sehr wohl als Menschen gegenseitig schätzen und beschützen.
Frage: Was lässt sich daraus für unsere Gegenwart lernen?
Weltecke: Die mittelalterlichen Kulturen können kein Vorbild sein. Ich für meinen Teil möchte auf meine gleichen Menschenrechte als Frau nicht verzichten, sondern sie vielmehr auf den noch fehlenden Gebieten erlangen. Die Glaubenstraditionen haben auch diese Ungleichheit immer wieder vertieft, wiederholt und bestätigt. Die Gleichheit vor dem Gesetz gab es damals nicht, sondern viele Kategorien der rechtlichen Ungleichheit.
Trotzdem konnten Menschen damals andere Menschen wertschätzen und ihr Leben schützen, selbst wenn sie überhaupt nicht mit deren Glauben einverstanden waren. Das war jedenfalls die mittelalterliche Norm. Man muss nicht die Relativierung theologischer Überzeugungen erzwingen, um sich gegenseitig zu tolerieren. In dieser Hinsicht sind die USA toleranter. Da müssen wir in Europa unsere Haltung überdenken, weil das zu Radikalisierungen und Verletzungen führen kann.
Aus der Gewaltgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit lässt sich schon lernen, dass es nicht gut ist, wenn Menschen auf einer unterschiedlichen rechtlichen Stufe stehen und Hegemonie akzeptieren müssen. Das führt zu Rechtfertigungsdruck für die Dominierenden wie für die Dominierten und das bringt Menschen auseinander. Diese Geschichte ist in unsere Glaubenstradition eingeschrieben. Es ist eine Geschichte der Verletzung, der Ausgrenzung, Gewalt und Domination, entweder als erlittene oder als ausgeübte. Deswegen glaube ich, dass es unumgänglich ist, dass die Religionsgemeinschaften Wege finden, für diese Verletzungen sensibel zu werden und ihre verflochtene, problematische Geschichte als gemeinsame Geschichte anzuerkennen.