Der Zauber des Anfangs – Biblische Kindheitserzählungen
Im schwachen Kind zeigt sich die Stärke Gottes. Dass der Retter selbst gerettet werden muss, ist für das Matthäusevangelium ein ganz entscheidendes Anfangsmotiv und theologisches Vorwort für alles Kommende. Das Neugeborene wird sofort von den Machthabern verfolgt, weil es von ihnen als Bedrohung angesehen wird. Der Kindermord in Betlehem zeigt, wozu Herrschergestalten imstande sind, die meinen, ihre Macht sichern zu müssen, indem sie über Leichen gehen. Keine Märchenerzählung, sondern ein Thema von entsetzlicher Aktualität. Und Jesus? Er ist vom Tod bedroht wie alle anderen Kinder. Aber der Himmel greift ein. Josef erhält den Auftrag, das Kind und dessen Mutter nach Ägypten in Sicherheit zu bringen.
Durch die Tradition der jährlichen Weihnachtsfeier sind die Texte der Kindheitsgeschichte im Christentum dermaßen vertraut, dass sie ihre Plausibilität in sich selbst zu haben scheinen. Dass Matthäus und Lukas trotz mancher Berührungspunkte je ganz andere "stories" erzählen, wird in der langen liturgischen und ikonografischen christlichen Tradition dadurch überspielt, dass sie zu einer Einheitsgeschichte mit verschiedenen aufeinanderfolgenden Stationen zusammenmontiert wurden. Diese Stationen sind ungeheuer bildhaft und anregend, so dass die "Kindheitsgeschichte" Jesu zum wohl wirkmächtigsten und populärsten Teil seiner Biografie geworden ist. Und dabei sind es gerade jene Texte, in denen Jesus nicht spricht und nicht handelt!
Durchaus neue Dimensionen tun sich auf, wenn man diese wuchtigen Haupttexte des Christentums in ihre biblischen Kontexte hinein-und zurückholt. Wegen des "Eigengewichts" dieser Erzählungen ist diese Spur in der christlichen Rezeption womöglich schwächer ausgeprägt als andere Lektüreweisen.
Die Kindheit Jesu im gesamtbiblischen Kontext
Durch die "Flucht nach Ägypten" (Mt 2,12–17) wird Jesus bereits als Kind mit Mose parallelisiert: Die große Anführergestalt, der von Gott auserwählte Mensch, der sein Volk aus der Fremdherrschaft und Sklaverei in die Freiheit führen soll, muss zuerst selbst gerettet werden. In wohl keiner Kinderbibel fehlt die bewegende Szene, wie Mose von seiner Mutter in ein Binsenkörbchen gelegt und im Schilf des Nils versteckt wird, um nicht mit den anderen Erstgeborenen getötet zu werden, wie der Pharao es angeordnet hatte (Ex 2,3). Was bedeutet es für Mose, dass diese Ereignisse am Anfang seines Lebens stehen? Die Geburtsgeschichte eines Menschen geht sein ganzes Leben mit ihm mit und prägt es zutiefst, wie wir es beispielsweise anhand der Generationen wissen, die (früher – und heute wieder) im Krieg geboren wurden, wo Flucht und Vertreibung den eigenen Lebensanfang überschatten. Was bedeutet es, wenn ein Leben sofort nach der Geburt vom Tod bedroht wird? Und wenn die Eltern es wunderbarerweise schaffen, es zu retten? Dann werden sowohl Bedrohung als auch Rettung das ganze Leben begleiten.
Bei Mose ist noch eine weitere Wahrheit in dieser Dimension seines Lebens enthalten. Er wird später am brennenden Dornbusch von Gott berufen werden, das Volk aus der Todeswelt Ägypten herauszuführen. Zuvor aber hatte er als junger Mann beobachtet, wie ein ägyptischer Aufseher einen Sklavenarbeiter, einen Bruder, schlug. Mose schaut sich um und erschlägt den Ägypter (Ex 2,11–15). Aus gutem Willen ist er selbst zum Mörder geworden. Mose wird entdeckt, entlarvt und muss fliehen. Die von ihm praktizierte Form von Gegengewalt funktioniert nicht, um die Sklaverei seines Volkes zu beenden. Solche Szenen aus der Mosebiografie haben keinen legendarischen, sondern einen geistlichen und politischen Sinn. Durch Gewalt und Mord wird das Problem von Gewalt und Unterdrückung nicht aus der Welt geschafft. Und durch gewaltsames Handeln wird man nicht zum legitimen Anführer und Rechtsprecher (Ex 2,14).
"Gott" kommt in dieser Episode gar nicht vor, und auch das ist Teil der Aussage, denn er ist trotzdem wirksam. Er lenkt die Lebensgeschichte des Mose, auch wenn das Muster erst im Rückblick einen Gesamtsinn ergeben wird. Gott hat Pläne der Freiheit. Er befreit wirklich sein Volk von der Gewaltherrschaft, und Mose spielt dabei die entscheidende Rolle, aber anders, als er es früher angezielt hatte. Am Schilfmeer ist er nicht mehr Macher, sondern Botschafter: "Bleibt stehen! Und seht die Rettung des HERRN – wie er euch heute rettet!" (Ex 14,13). Mose, der gerettet wurde, wird zum Zeugen der Rettung. Hier formt sich ein Muster heraus. Die Basis der Rettung ist nicht eigene Kraft und Macht; Befreiung ist nicht durch Gewalt und Töten möglich; am Ende bleibt nur das Vertrauen auf die rettende Macht Gottes. Die Kindheitsgeschichte des "Binsenkörbchens" und die Jugendgeschichte des gewaltsamen Retters in eigenem Namen: beide Episoden stehen symbolisch für jeweils unterschiedliche Lebensweisen und -entscheidungen. Die eine führt in die Sackgasse, durch die andere wird der Weg des Mose für das ganze Volk Israel zu einem Lebensweg.
Mehr als Verheißung und Erfüllung
Das Erfüllungszitat in Mt 2,15 mit Bezug auf die Mose- und Ägyptenerzählung installiert nicht einfach ein schlichtes Schema von "Verheißung und Erfüllung" oder gar Überbietung, es deckt vielmehr die Tiefendimension der Bedeutung Jesu auf, der das Handeln des Gottes Israels aufzeigt und deutlich macht, wie sehr Jesus sich selbst und seine Botschaft dem Heilshandeln dieses Gottes verdankt. "Hier ereignet sich Altvertrautes, für Israel Grundlegendes, auf neue, vertraut-unvertraute Weise. Die mit der Bibel vertrauten Leser/innen spüren, dass das Handeln Gottes in seinem Sohn grundlegenden Charakter hat, an Israels Grunderfahrungen zugleich anknüpft und sie neu vollzieht".
Als Geretteter leben – diese Mose-Linie setzt Jesus fort. Er zeigt seinen Jüngerinnen und Jüngern, dass es zuerst darum geht, sich selbst retten lassen zu können, wie sie es bei der Stillung des Seesturms er - leben (Mt 8,25f.). Anschließend fragen die Menschen sich: "Wer ist denn das?". Sie jubeln nicht "Christ der Retter ist da". Anscheinend geht es (noch) nicht um die rechten Worte für das Bekenntnis. Vielmehr gilt es herauszufinden, was Rettung bedeutet, wer und was in Jesus aufscheint und welche Konsequenzen das für das eigene Leben haben wird. Wichtig ist, dass "retten", "helfen", "erlösen" und auch "heilen" als Worte gleichermaßen zur Übersetzung des einen Wortes im griechischen (und auch hebräischen) Urtext der Bibel taugen.
Jesus rettet, indem er den Menschen ihre Rettungskräfte zuspricht. Wie er zu der blutflüssigen Frau sagt: "Dein Vertrauen hat dich erlöst" (Mt 9,22). Vertrauen ist unerlässlich, und es gilt nicht den eigenen Kräften. Man muss sich retten lassen: "Wer sein Leben erlösen / retten will, wird es verlieren" (Mt 18,25). Jesus durchleidet es am eigenen Leibe. Als er am Kreuz hängt, sehen die Menschen für ihn nur einen Ausweg: "Wenn du Gottes Sohn bist – rette dich selbst". Und als er in den Todeskampf eintritt, dann bleibt in ihrer Sicht als Fazit über sein ganzes Leben: "Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten". Und schließlich fällt ihnen ein: "Wir wollen sehen, ob Elija ihn rettet" (Mt 27,49). Das ist das letzte Wort zum Thema "Retten" im Matthäusevangelium. Und Jesus stirbt mit einem lauten Schrei. Die Rettung führt nicht am Tod vorbei. Die Anfangsgeschichte bei Matthäus, die von der Rettung Jesu erzählte, findet ihren endgültigen Abschluss erst in der Ostererzählung: Auch Jesus muss sich retten lassen, am Anfang seines Lebens und am Ende. Der gerettete Erlöser: Er musste vom Tod gerettet werden und ist so Urheber ewiger Rettung geworden (vgl. Hebr 5,7–9).
Mehr als Kindheitsgeschichten
Die biblischen Anfangsgeschichten sprechen über Menschen, und sie zeigen darin, wer Gott ist und wie er handelt. Es sind wohl gerade die Anfänge, Kindheits- und Geburtsgeschichten, die hierfür besonders geeignet sind, weil von vornherein klar ist, dass Gott der Handelnde ist, der den Weg ins Leben bahnt. Der Anfang geht mit, und mit dem Anfang ist alles Entscheidende gesagt. Die Kinder sind Platzhalter für die Macht Gottes. Vor diesem Hintergrund führt die Bezeichnung "Kindheitsgeschichten" fast in die Irre, denn sie stellt das Legendarische, Anekdotische heraus, das vom Rest der nachfolgenden Erzählungen sinnvollerweise abgetrennt wird. Doch ganz im Gegenteil: Die Anfangsgeschichten sind Deute- und Verknüpfungstexte ersten Ranges. Sie sind Erzählungen, die Gottes Engagement darin zeigen, in ausweglosen Situationen Zukunftswege für die Schwachen, die Bedürftigen zu eröffnen. Die Anfangserzählungen tragen zum nötigen Perspektivwechsel bei, nicht Heldengeschichten zu lesen, sondern Rettungsgeschichten.
Ist erst einmal diese Spur gefunden, eröffnet sich eine Lektüreperspektive für weite Teile der Bibel. Die Bibel ist voller Anfangsgeschichten. In diesem Sinn kann man sogar Gen 1 lesen: als Ursprungsgeschichte. Gen 1–2 ist eine "Kindheitsgeschichte" der Welt, als noch alles so war, wie Gott es gefügt hatte. Mit Gen 3–4 erfolgt der symbolische Ausgang der Menschen aus ihrer "Kindheit" mit allen ambivalenten Folgen. Der gute Anfang, der Segen Gottes über Schöpfung und Menschen, läuft jedoch mit, begegnet immer aufs Neue in der ganzen Bibel und geht nach Gottes Willen auf eine endgültige Vollendung zu.
Daneben gibt es eine ganze Reihe von Erzählungen, bei denen schon Geburt und Kindheit als Verdichtung der gesamten Lebensgeschichte angesehen werden können. Oft ist es bereits das vorgeburtliche Leben, in dem sich alles Entscheidende des zukünftigen Lebens ereignet hat. Darin ist viel von der biblischen Anthropologie enthalten: der Mensch, der sein Leben der Lebenssehnsucht zuvorkommender Generationen und der schöpferischen Macht Gottes verdankt. Die zumeist vorherrschende Perspektive, die Geburtsgeschichten als spätere anekdotische Vorschaltungen vor die Lebensgeschichten heraus-ragender Persönlichkeiten zu betrachten, mag literargeschichtlich oft zutreffen. Legt man den Schwerpunkt auf den literarischen Duktus, sieht es anders aus. Durch diese Erzählungen wird eindeutig markiert und kommentiert: Es sind keine Heldengeschichten, die auf solche Kindheiten folgen. Mögen die Männer (es sind leider nur Männer, von denen im biblischen Kontext Kindheitserzählungen überliefert und geschrieben wurden) auch noch so herausragende Persönlichkeiten sein, mögen sie noch so wichtige und zukunftsbedeutsame Taten für ihr Volk vollbringen – ihre Anfänge sagen, wer sie sind und wem sie ihr Leben zu verdanken haben.
Da ist Ismael, dessen Mutter Hagar mit der ersten Engelerscheinung der Genesis bedacht wird und die wie Abraham einen göttlichen Mehrungssegen erhält (Gen 16), wodurch sie Zukunft und Würde erhält und ihre Unterdrückung beendet wird. Jakob und Esau ringen bereits im Mutterleib miteinander, kommen aber nicht ohneeinander aus (Gen 25,24–26) – wie ihr ganzes Leben lang. Und dann gibt es noch die
Geburtserzählungen von Simson (Ri 13) und Samuel (1 Sam 1f.). Aber auch die Immanuel-Weissagung aus Jes 7 gehört hierher und die Verheißung der Geburt des messianischen Herrschers (Jes 9). Dieser Text wird zu Recht in der christlichen Liturgie in der Heiligen Nacht gelesen; nicht um ein schlichtes Schema "Verheißung – Erfüllung" zu bestätigen, sondern als entscheidender Deutetext, welcher Zukunftshorizont mit der Geburt des zukünftigen Herrschers eröffnet wird. Dass die Herrschaft einem Neugeborenen, einem machtlosen Kind zugesprochen wird, ist ein politischer Kommentar auf alle gängigen Machtmechanismen. Zugleich werden diesem Kind Thronnamen gegeben, die die Macht Gottes bezeugen. Diese Anfangsgeschichte ist ein absolut eigenwilliges Herrschaftsprogramm für zukünftige Zeiten, es wird mit der Geburt Jesu Christi aufgegriffen, aktualisiert, für alle Welt verkörpert und bleibt zugleich ein Hoffnungsprogramm, das immer noch unsere Sehnsüchte speist und der Weltgeschichte einen Erwartungsrahmen gibt.
Zum Autor
Egbert Ballhorn lehrt Exegese und Theologie des Alten Testaments an der TU Dortmund. Er ist Vorsitzender des Katholischen Bibelwerks.
Hinweis
Der Gastbeitrag ist zuerst in "Bibel und Kirche" (4/2024) erschienen.