Pater Martin Werlen zu Kreativität und Synodalität im Gemeindeleben

Benediktiner: Pfarreien dürfen nicht auf Vorgaben von oben warten

Veröffentlicht am 05.02.2025 um 00:01 Uhr – Von Christoph Brüwer – Lesedauer: 

St. Gerold ‐ Die Welt verändert sich – also müssen sich auch die Pfarreien verändern, ist Pater Martin Werlen überzeugt. Im katholisch.de-Interview spricht er darüber, was eine lebendige Pfarrei auszeichnet und warum eine Eucharistiefeier zwingend synodal sein muss.

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"Wie weiter mit unserer Pfarrei? Eines ist klar: So nicht mehr!", heißt es in der Beschreibung zu einem Seminar zum Thema "Pfarrei als Reformzelle" in der Propstei St. Gerold in Österreich. Einer der Leiter des Kurses war Pater Martin Werlen. Im katholisch.de-Interview spricht der ehemalige Abt des Klosters Einsiedeln über Kreativität und den Umgang mit Widerständen im Pfarreileben.

Frage: In Deutschland werden in nahezu allen Bistümern Pfarreien zu immer größeren Konstrukten zusammengelegt, es gibt immer weniger Priester und auch die Zahl der Gemeindemitglieder nimmt ab. Welche Zukunft hat die Pfarrei da überhaupt noch, Pater Martin?

Werlen: Die Pfarrei steht vielleicht noch zu sehr im Mittelpunkt. Pfarreien sind entstanden aus Menschen, die Christus nachgefolgt sind und sich territorial organisiert haben. Früher war das territoriale Verständnis aber auch ein anderes als heute: Es war selbstverständlich, dass man an dem Ort, wo man geboren und getauft wurde, aufgewachsen ist, zur Schule ging, gearbeitet hat und dort auch gestorben ist und begraben wurde. Da hat sich sehr viel verändert. Ob das gut oder schlecht ist, ist aber nicht die Frage. In dieser Situation befinden wir uns eben. Und das ist etwas, das wir in der Kirche immer wieder erleben: Etwas, dass sich einmal bewährt hat, bleibt hängen und die Welt dreht sich weiter – und wir staunen, dass es nicht mehr so funktioniert, wie es einmal funktioniert hat. Wir müssen also kreativ werden.

Frage: Wie kann das aussehen?

Werlen: Das ist nichts, was sich ein kluger Kopf ausdenken, am Schreibtisch entwerfen und dann einfach umsetzen kann. Das muss gemeinsam entstehen und das läuft auf der ganzen Welt unterschiedlich ab. Auch innerhalb von Deutschland, Österreich oder der Schweiz sind die Unterschiede enorm: Es gibt Pfarreien, die wirklich blühen und bei anderen würde man es – zugespitzt gesagt – vermutlich gar nicht merken, wenn man sie schließen würde. Lebendige Pfarreien ziehen auch Menschen aus anderen Orten an. Vielleicht sollten wir deshalb häufiger den Mut haben, etwas, das abgestorben ist und nicht mehr lebt, aufzugeben.

Frage: Was zeichnet eine lebendige Pfarrei aus Ihrer Sicht aus?

Werlen: Es geht nicht darum, nur unsere religiösen und sakramentalen Bedürfnisse zu befriedigen. Die Menschen in der Pfarrei müssen auch diakonisch unterwegs sein und sich in der politischen Gemeinde einbringen. Sie müssen wirklich Sauerteig sein und die Impulse hineingeben, die wir im Evangelium mitbekommen haben. Auch das Gemeinschaftsgefühl ist zentral. Ich bin oft in Pfarreien unterwegs, in denen ich Gottesdienste übernehme, und es schnürt mir die Luft ab, wenn ich merke: Da gibt es keine Gemeinschaft und auch kein Bedürfnis danach. Jeder will dort nach dem Gottesdienst direkt wieder heim. Wenn man aber Gemeinschaft erlebt, dann nimmt man auch eine gemeinsame Sendung wahr und man kommt ins Gespräch über das, was ansteht in unserer Gesellschaft und wie wir dort hineinwirken können.

Ein Taufbecken in einer Kirche, im Hintergrund die Gemeinde
Bild: ©adobestock/MØREfoto (Symbolbild)

"Die wichtigste Berufung in der Nachfolge Christi ist aber nicht die zum Priestertum oder Bischofsamt", sagt Pater Martin Werlen. "Es ist die Taufe. Die teilen wir und deswegen tragen wir auch gemeinsame Verantwortung."

Frage: Sie sprechen schon an, dass es Menschen gibt, die aber vielleicht auch nur zum Gottesdienst gehen wollen, um die Liturgie zu feiern. Was ist falsch daran?

Werlen: Wir können nicht als einzelner Mensch den Gottesdienst feiern und einfach wieder hinausgehen. Eine Eucharistiefeier ist synodal – oder sie ist keine Eucharistiefeier. Wir können nur in Gemeinschaft Gottesdienst feiern. Das gilt auch für die diakonischen Aspekte der Kirche.

Frage: Wie sollte man denn damit umgehen, wenn es Menschen in der Pfarrei gibt, die wollen, dass alles so bleibt, wie es war und ist?

Werlen: Wir haben so lange Wert auf Strukturen gelegt, dass manche Menschen meinen, bestimmte Strukturen seien Glaube. Jeden Sonntag in die Kirche zu gehen ist nicht Glaube. Ich kann auch als Atheist mein Leben lang sonntags in den Gottesdienst gehen und mich nicht berühren lassen von diesem Geheimnis Gottes. Als wir hier in der Benediktinerpropstei St. Gerold, in der ich lebe, den Kirchraum umgestaltet haben, ist mir klargeworden, dass wir von Kirche sprechen und ein Gebäude meinen. Ich habe daraufhin in einem Artikel geschrieben, warum ich nie mehr in die Kirche gehe: Ich bin mit der Taufe einmal in die Kirche gegangen und das reicht, weil ich jetzt drin bin. Und wenn ich die Kirche nicht mehr als Gemeinschaft von Gläubigen, sondern als Gebäude wahrnehme, dann ist auch klar, dass es Probleme gibt, wenn ich eine Bank herausnehme. Da sind in der Vergangenheit falsche Akzente gesetzt worden: Wenn ein Kirchraum saniert wird, dann sind in einer Diözese alle involviert. Wenn aber die lebendige Gemeinschaft zerbricht und renoviert werden müsste, dann wird einfach zugeschaut.

Frage: Wie kann man denn in der Praxis mit diesen Widerständen umgehen?

Werlen: Kürzlich haben wir eine Stelle aus dem Markus-Evangelium als Tagesevangelium gelesen. Darin fragt Jesus die Pharisäer: "Was ist am Sabbat erlaubt – Gutes zu tun oder Böses, ein Leben zu retten oder es zu vernichten?" (Mk 3,4) Und als sie schweigen, steht bei Markus geschrieben, dass Jesus sie "voll Zorn und Trauer über ihr verstocktes Herz" angeschaut hat. Es ist wichtig, dass wir die aggressiven Kräfte wahrnehmen und an diesem Widerstand nicht hängenbleiben. In unserem Seminar haben wir nach Beispielen gesucht, wie Widerstände auch Kreativität wecken können. Wir können Widerstände auch als Hindernisse begreifen, die Gott uns in den Weg legt, damit wir kreativ werden. Wie das geht, kann man aber nicht verallgemeinern. Man muss in der Pfarrei gemeinsam schauen, wie man sich den Widerständen kreativ stellen kann. Auch die Heiligen können dafür ein Vorbild sein.

„Bis jetzt habe ich aus Rom noch kein Schuldbekenntnis dafür gehört.“

—  Zitat: Pater Martin Werlen

Frage: Inwiefern?

Werlen: Sie waren mutig und kreativ und sind nicht einfach eingeknickt. Wir verehren sie heute ja nicht, weil sie alles genauso gemacht haben, wie man es immer schon gemacht hat. Sie sind neue Wege gegangen. In diesem Sinne kann man Widerstände vielleicht als etwas wahrnehmen, vor dem man keine Angst haben muss, sondern das einen herausfordert, zu argumentieren und Leute mitzunehmen.

Frage: Sie deuten schon an, dass diese Kreativität nicht nur von den Pfarrern oder anderen Kirchenangestellten ausgehen kann. Wie gewinnt man aber Gläubige dafür, sich ehrenamtlich für die Pfarrei einzusetzen und diese Mehrarbeit auf sich zu nehmen?

Werlen: Bei unserem Seminar "Reformzelle für Pfarreien" kamen 19 Menschen zusammen, von denen drei Priester sind. Es hat mich sehr gefreut, dass auch Ehrenamtliche gekommen sind, die nicht der Leitung einer Pfarrei angehören, sich aber wünschen, dass ihre Pfarrei lebt. Es ist wichtig, die kreativen Impulse auszuweiten und nicht einfach zu erwarten, dass von den Kirchenoberen schon alles kommen wird. Es geht darum, sie bei den eigenen Ideen mitzunehmen! Diese Dynamik war uns lange fremd. Wir haben einfach das gemacht, was von oben kam. Die wichtigste Berufung in der Nachfolge Christi ist aber nicht die zum Priestertum oder Bischofsamt. Es ist die Taufe. Die teilen wir und deswegen tragen wir auch gemeinsame Verantwortung. Für unser Seminar haben wir es deshalb zur Voraussetzung gemacht, dass mindestens zwei Menschen aus einer Pfarrei kommen sollen. So ist es in der Pfarrei leichter, später den Aber-Geistern zu widerstehen, die dann sagen: "Dort können sie das ja machen, aber bei uns ist das nicht möglich."

Frage: Sie haben das Thema Synodalität bereits angesprochen. In Deutschland gibt es den Synodalen Weg, die Weltsynode ist gerade erst zu Ende gegangen. Inwiefern erkennen Sie hier eine Dynamik, dass sich die Pfarrei verändern muss und es ein Umdenken braucht?

Werlen: Ein ganz wichtiges und vorbildliches Ergebnis der Weltsynode aber auch des Synodalen Wegs der Kirche in Deutschland ist, dass Menschen jetzt bewusst Verantwortung übernehmen. Das Tragische ist, dass es dafür weitgehend zu spät ist. Wir hatten solche Prozesse bereits im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) und die Begeisterung war enorm. In den Bildungshäusern gab es Veranstaltungen, es gab Bibelkurse und alles war überfüllt. Das hat die Amtskirche aber von oben herunter abgewürgt. Das ist tragisch. Bis jetzt habe ich aus Rom noch kein Schuldbekenntnis dafür gehört. Viele trauen sich wegen solcher Enttäuschungen nicht mehr, noch einmal diese Prozesse einzugehen. Und gerade die kreativsten Leute sind ausgestiegen.

Von Christoph Brüwer