Standpunkt

Erfundene Traditionen sind jetzt besonders wichtig – und gefährlich

Veröffentlicht am 26.02.2025 um 00:01 Uhr – Von Valerie Judith Mitwali – Lesedauer: 

Bonn ‐ Je ungewisser die Gegenwart, desto größer die Sehnsucht nach einer idealisierten Vergangenheit. Die Bedeutung erfundener Traditionen wird weiter zunehmen, meint Valerie Judith Mitwali. Sie plädiert für einen differenzierten Umgang mit dem Phänomen.

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Drei Tage nach der Bundestagswahl ist nur so viel klar: Wir leben in politisch bewegten Zeiten. Hinzu kommen Um- bzw. Zusammenbrüche in Wirtschaft und Klima. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Je ungewisser die Gegenwart erlebt wird, desto größer die allgemeine Sehnsucht nach einer idealisierten Vergangenheit. Erfundene Traditionen haben Konjunktur.

Dieser Begriff geht auf die Sozialhistoriker Eric Hobsbawm und Terence Ranger zurück. Sie beschreiben damit Rituale oder Praktiken, die uns mit einer vermeintlich besseren Zeit verbinden. Allein: Jene Vergangenheit hat so nie stattgefunden und die entsprechende Tradition so nie existiert. Diese Illusion bewirken Wiederholung, Symbolik und Kontinuität.

Momentan erfolgreiche politische Strömungen greifen im Namen von "Leitkultur" und "Brauchtum" zunehmend auf Religion zu. Was könnte schon traditioneller sein als ein Katholizismus, der selbst beständig seine historische Kontinuität betont? "Das sind doch fast alles Erfindungen aus dem 19. Jahrhundert!", halten katholische Gegenstimmen dem oft mit einem gewissen Überlegenheitsgefühl entgegen. Sie mögen Recht haben – und treffen doch nicht den eigentlichen Punkt.

Traditionen werden nicht zwangsläufig in betrügerischer Absicht erfunden, doch sie dienen ganz bestimmten sozialen, kulturellen oder auch politischen Zwecken – die im Laufe der Zeit weiterentwickelt, ja gar umgedeutet werden können. Das gilt für die Mundkommunion genauso wie für die gestaltete Mitte: Sie fühlen sich echter an als das, was wirklich passiert ist. Die Frage sollte nicht lauten, ob eine Tradition erfunden ist, sondern welche Wertesysteme und Autoritätsstrukturen dadurch im Hier und Jetzt gefestigt werden.

Erfundene Traditionen sind pauschal weder gut noch schlecht. Vielmehr handelt es sich um Phänomene, die es immer wieder neu zu befragen gilt. Wer sehnt sich nicht nach Orientierung und Zugehörigkeit? Erfundene Traditionen füllen unser Bedürfnis nach Stabilität in einer sich immer schneller wandelnden Welt. Es wäre gefährlich, dieses Feld jenen zu überlassen, die Hass in Herzen säen. Geradezu prophetisch erscheint hier die evangelische Jahreslosung für 2025: "Prüft alles und behaltet das Gute!" (1 Thess 5,21)

Von Valerie Judith Mitwali

Die Autorin

Valerie Judith Mitwali ist Redaktionsmitarbeiterin bei katholisch.de und promoviert an der Ruhr-Universität Bochum in systematischer Theologie.

Hinweis

Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der jeweiligen Autorin bzw. des Autors wider.