Kirchenhistoriker: Vatikanstaat ist nicht einfach nur eine Kuriosität
Einst waren die Päpste mächtige Landesherren. Heutzutage sind sie nur noch das Oberhaupt eines Mikrostaates. In einem neuen Buch beschreibt der Augsburger Kirchenhistoriker Jörg Ernesti die Entwicklung vom alten Kirchenstaat zum winzigen Staat der Vatikanstadt, der seit 1929 existiert. Dabei geht er auch auf die Eigenheiten des Papststaates ein. Er betont: Seine Existenz bietet dem Papst gewisse Möglichkeiten des politischen Wirkens, gerade nach außen. Im Interview nennt Ernesti aber auch die Probleme des Gebildes – und erklärt, was zu deren Lösung beitragen könnte.
Frage: Herr Ernesti, die katholische Kirche ist die einzige Religionsgemeinschaft, die einen eigenen Staat hat. Wie kam es überhaupt dazu?
Ernesti: Die römische Kirche war seit Kaiser Konstantin in der Lage, Besitzungen zu haben. Diese nahmen immer weiter zu. Parallel dazu nahm die Kirche in der Spätantike hoheitliche Aufgaben wahr, weil die staatliche Zentralgewalt im zerfallenden weströmischen Reich ausgefallen ist. Die eigentliche Geburtsstunde eines päpstlichen Staates ist aber die sogenannte Pippinische Schenkung im Jahr 754, also das Bündnis mit den Franken. Diese Geschichte endete dann vorläufig 1870, als der alte Kirchenstaat im Zuge der italienischen Einigung unterging.
Frage: Wie legitimierten die Päpste ihre staatliche Macht?
Ernesti: Die klassische Begründung dafür, dass der Papst einen Staat braucht, findet man schon im Mittelalter, beispielsweise bei Innozenz III. um 1200: Wer es mit dem Papst zu tun bekommt, soll es mit jemandem zu tun haben, der nicht Untertan irgendeines Monarchen ist. Oder anders gesagt: Der Papst kann sein universales kirchliches Leitungsamt nur ausüben, wenn er nicht Untertan eines anderen Herrschers ist. Diese Begründung hält sich lange und klingt auch noch bei der Gründung des neuen Staats der Vatikanstadt 1929 an. Heute würde man nicht mehr so argumentieren: Ein Papst könnte auch frei sein Amt ausüben, wenn er italienischer Staatsbürger beziehungsweise der Vatikan italienisches Staatsgebiet wäre.
Frage: Ist der Vatikanstaat also ein aus der Zeit gefallenes Relikt?
Ernesti: Ein Konstrukt wie der alte Kirchenstaat ist heute sicher nicht mehr denkbar. Aber ein solcher Staat "en miniature" wie der heutige Vatikanstaat bietet gerade so viel Staatlichkeit, dass die Souveränität des Papstes gewährleistet ist – und ermöglicht dem Papst ein Standing in der Weltpolitik, das ihm erlaubt, sie mitzugestalten. Das wäre ohne diese staatliche Souveränität sicher nicht so leicht möglich.
Frage: Wenn wir einen Blick in die Geschichte werfen: Wie wurde der alte Kirchenstaat organisiert – und was waren seine größten Probleme?
Ernesti: Der alte Kirchenstaat war alles andere als ein Musterstaat. Man muss sagen, dass das Papsttum mit der Verwaltung dieses Staates schlicht überfordert war. Er hatte ein Gebiet etwa von der Größe der heutigen Niederlande und zuletzt ungefähr drei Millionen Einwohner. Beträchtliche Kapazitäten der päpstlichen Kurie waren allein in der Verwaltung dieses Staates gebunden – von den 15 Kongregationen der alten Kurie waren es sechs. Dazu hatte er chronische Probleme: ein hohes Staatsdefizit, umherziehende Räuberbanden, eine schlechte Wirtschaft und einen hohen Verteidigungshaushalt. Der "neue" Staat, den es seit 1929 gibt, hat so viel Staatlichkeit, wie es mindestens braucht.

Jörg Ernesti ist Professor für Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Universität Augsburg. Er gilt als ausgewiesener Experte für Papstgeschichte.
Frage: Die Grundlage für diesen neuen Staat bilden die Lateranverträge – ein bilaterales Abkommen ausgerechnet mit dem faschistischen Mussolini-Regime in Italien.
Ernesti: Diesen Makel kann man nicht auslöschen. Die Lateranverträge haben auch dazu geführt, dass es zu einer Identifikation von Katholiken mit dem Mussolini-Regime gekommen ist. Aber die Lösung der sogenannten "römischen Frage" war überfällig. Der Status, den die Päpste von 1870 bis 1929 hatten – sie haben sich aus Protest über den "Raub" des Kirchenstaates als Gefangene im Vatikan gesehen – war ein Unding. Aber die Lateranverträge haben den Faschismus überlebt. Einschließlich des zugehörigen Konkordats wurden sie nach dem Zweiten Weltkrieg von den demokratisch gewählten Regierungen übernommen. Das ist eine Parallele zum deutschen Reichskonkordat, das mit der Hitler-Regierung geschlossen wurde und immer noch gilt.
Frage: Bis 1870 hatten die Päpste ein weltpolitisches Machtbewusstsein und sahen sich als Fürsten. Wie blickt das moderne Papsttum auf seine Funktion als Staatsoberhaupt?
Ernesti: Dafür reicht schon ein Blick in das päpstliche Jahrbuch, das Annuario Pontificio, in dem die Funktionen und Titel des Papstes aufgelistet sind. Da kommt erst ganz am Ende "Souverän des Staates der Vatikanstadt". Natürlich ist die staatliche Funktion den anderen untergeordnet. Der Staat hat eine Dienstfunktion. Aber dieser Staat ist nicht einfach nur eine Kuriosität oder irgendeine Marginalie des Papsttums, sondern hier können die Päpste zeigen, dass sie in der Lage sind, ein Staatswesen sinnvoll zu verwalten. Wenn man es hochhängen will, ist das die Probe aufs Exempel für die Gültigkeit der katholischen Soziallehre.
Frage: Gelingt die?
Ernesti: Außenpolitisch versucht der Vatikan auf jeden Fall, diesem Anspruch gerecht zu werden. Es gab zahlreich humanitäre Aktivitäten und Versuche der Friedensvermittlung, wie beispielsweise zuletzt im Ukraine-Krieg. Papst Franziskus konnte bislang zwar nicht erfolgreich Frieden vermitteln, wie man das noch im Jahr 2022 gedacht hat. Doch er hat sich etwa erfolgreich für die Ruckführung von verschleppten Kindern eingesetzt. Aber gerade im Inneren hat der Staat natürlich Defizite.
Frage: Welche sehen Sie da als die entscheidenden an?
Ernesti: Der Vatikan ist eine absolute Monarchie ohne Gewaltenteilung. Dadurch fehlen effektive Mechanismen der internen Machtkontrolle. Das zeigt sich immer wieder bei den Finanzskandalen. Dieses klerokratische System – an den entscheidenden Stellen stehen in den meisten Fällen geweihte Männer – kommt immer wieder an seine Grenzen. Das berührt dann auch die Frage nach der Einbindung von Frauen, auch wenn in diesem Bereich unter Papst Franziskus kräftig aufgeholt wurde.

Schwester Raffaella Petrini leitet seit 1. März die Regierungsbehörde des Vatikanstaats. "Aber insgesamt ist beim Thema Frauen in Führungspositionen Im Vatikan noch ziemlich viel Luft nach oben", sagt Jörg Ernesti.
Frage: Ist so ein Problem wie die fehlende Gewaltenteilung oder fehlende Kontrollmechanismen einfach so behebbar, wenn man im Blick hat, wie das Papsttum sich versteht?
Ernesti: Der Vatikanstaat ist ja keine Theokratie. Wenn in der Kirche hierarchische Mechanismen greifen, müssen sie das nicht unbedingt auch im Staatswesen. Im vergangenen Jahr ist beispielsweise das Thema aufgetaucht, dass die Angestellten im Vatikan nicht gewerkschaftlich organisiert sind. Es gibt keine heiligen Gesetze, die verbieten, dass man als Aufsichtspersonal in den Vatikanischen Museen nicht dieselben gesellschaftlich etablierten Rechte hat, sich zu organisieren und für die eigenen Belange einzutreten.
Frage: Sie haben das Thema Frauen im Vatikan bereits angesprochen. Seit 1. März gibt es mit Raffaella Petrini eine "Regierungschefin". Es gibt seit Januar sogar eine Dikasteriums-Präfektin. Sind das Zeichen eines generellen, unaufhaltsamen Umdenkens?
Ernesti: Ich muss gestehen, ich war sehr überrascht, dass Papst Franziskus im Rahmen der Kurienreform die Leitung eines Dikasteriums und der Regierungsbehörde durch Nicht-Kleriker ermöglicht hat – und das auch gleich eingelöst wurde. Das ist ein so weitreichender Schritt – dahinter wird man nicht zurückkönnen. Aber insgesamt ist beim Thema Frauen in Führungspositionen Im Vatikan noch ziemlich viel Luft nach oben.
Frage: Werfen wir noch einen Blick auf die Außenpolitik. Der Vatikan hat in diesem Bereich viel Expertise und genießt hohes Ansehen. Er arbeitet in zahlreichen internationalen Organisationen mit, auch bei den Vereinten Nationen als Beobachter. Sie werfen in Ihrem Buch die Frage auf, warum diese Sonderrolle nur der katholischen Kirche zuerkannt wird und nicht auch anderen Religionsgemeinschaften. Ist es denkbar, dass der Vatikan in seine internationale Arbeit andere Religionen miteinbezieht und es da eine Art Kooperation gibt?
Ernesti: Religion ist ein wichtiger Faktor in der Weltpolitik. Nach neuesten Erhebungen bekennen sich auf der Welt rund 89 Prozent aller Menschen zu irgendeiner Religion – diese Tendenz sinkt auch nicht. Wenn der Faktor Religion so wichtig ist, kann man gut begründen, dass die größte Einzelreligionsgemeinschaft der Welt den Status als souveränes Völkerrechtssubjekt hat. Gleichzeitig ist dann aber nicht nachvollziehbar, warum etwa der Ökumenische Rat der Kirche diesen nicht hat. Da könnte man schon in Richtung einer Kooperation denken. Ich sehe da durchaus Anzeichen einer Offenheit. Wenn ich auf die Weltfriedenstreffen schaue, die eine Initiative von Papst Johannes Paul II. waren: Dort wurde nicht nur gebetet, sondern gemeinsam nach Friedensperspektiven gesucht.
Frage: Zum Schluss noch eine schwierige Frage für den Historiker, weil es um eine Prognose geht: Wird es den Vatikanstaat in 100 Jahren noch geben?
Ernesti: Die Schaffung eines Staates mit geringem Gebiet, aber allen Charakteristika, die ein Staat hat, als Ausgangsbasis für außenpolitisches Wirken hat sich durchaus bewährt. Das würde niemand mehr missen wollen. Der Vatikanstaat ist international anerkannt und hat diplomatische Beziehungen zu 180 Staaten. Ich sehe nicht, dass irgendjemand daran interessiert sein könnte, dieses Staatswesen abzuwickeln, nicht einmal der Vatikan selbst. Aber natürlich muss der Vatikanstaat auch selbst seinen Beitrag dazu leisten und seine Verwaltung immer wieder den Erfordernissen anpassen.
Buchtipp
Jörg Ernesti: Der Vatikan. Geschichte, Verfassung, Politik (Reihe C.H.Beck Wissen), Verlag C.H.Beck 2025, 192 Seiten, ISBN: 978-3-406-82930-7, 12 Euro.