Missbrauch verstehen, um ihn zu verhindern
Wie kommt es zu Missbrauch in Kirche und Gesellschaft – und wie lässt er sich verhindern? Mit solchen Fragen befasst sich künftig der "IPA-Hub" am moraltheologischen Seminar der katholischen Fakultät der Universität Bonn. "IPA" steht dabei für "Intervention, Prävention und Aufarbeitung von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt": Weit über Theologie und Kirche hinaus will die Arbeitsstelle interdisziplinär und international Forschung für die Praxis machen. Am 1. Mai holt die Fakultät das bisherige IPA-Institut noch näher an die Universität, um auch eigene Studiengänge anbieten zu können. Geleitet wird die Forschungsstelle von dem Bonner Moraltheologen Jochen Sautermeister. Im katholisch.de-Interview erläutert er, wo er die Forschungsschwerpunkte setzt, wie heutige Theologiestudierende auf die Missbrauchskrise blicken und welche Impulse für die Gesellschaft gesetzt werden sollen.
Frage: Professor Sautermeister, aus dem Institut für Prävention und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt wird die "Arbeits- und Forschungsstelle für Intervention, Prävention und Aufarbeitung von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt" – was ändert sich außer dem Namen?
Sautermeister: Mit der neuen Struktur wollen wir auf die Veränderungen in der Praxis und auf die Weiterentwicklung der vielfältigen Forschungslandschaft antworten, nachdem das das Institut für Prävention und Aufarbeitung (IPA) seit 2019 zentrale Aufgaben erfolgreich umgesetzt hat und mit seinen Impulsen zu Aufarbeitung und Prävention mit Schutzkonzepten Institutionen stärken, Kompetenzen und Vernetzung fördern und ein Bewusstsein in Kirche und Gesellschaft fördern konnten. Mit der Weiterentwicklung des IPA Hub wollen wir das aufgreifen und ausbauen, um für weitere Vernetzung im interdisziplinären Feld zu sorgen und das Anliegen nachhaltig institutionell zu sichern. Indem wir den IPA Hub in der Universität ansiedeln, stärken wir außerdem das wissenschaftliche Profil. Wir wollen mehr transferorientierte Forschung betreiben und die Ergebnisse in die Lehre und in Weiterbildungen bzw. Beratung einfließen lassen. Mit der Verankerung in der Universität können wir auch thematische Studiengänge an den IPA Hub anbieten, was zuvor bei einem lediglich An-Institut nicht möglich war. Das Thema betrifft die gesamte Gesellschaft, wobei zunehmend auch ein Bewusstsein für die Dimension des Machtmissbrauchs in Organisationen entsteht. Auch darauf wollen wir eingehen.
Frage: Der IPA Hub ist Teil der Katholisch-Theologischen Fakultät. Wie stark kann da der gesellschaftliche Schwerpunkt sein, über den kirchlichen hinaus?
Sautermeister: Wir setzen in der theologischen Ethik stark auf Kooperationen, was auch dem IPA Hub zugutekommt. Aktuell bereiten wir gemeinsam mit der Deutschen Sporthochschule, der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung sowie der Katholischen Hochschule NRW einen Studiengang zum Schutz von Kindern und Jugendlichen im Kontext von Organisationen vor. Das geht natürlich über die Kirche hinaus, sondern betrifft ganz verschiedene Institutionen und Berufe in unserer Gesellschaft. Unser Netzwerk setzt sich auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen, etwa der Psychologie, der Soziologie, der Rechtswissenschaft oder der Medizin, sowie verschiedener Berufsgruppen zusammen – das zeigt schon die große Bandbreite.
Frage: Und als institutionellen Ort hat man dafür die Katholisch-Theologische Fakultät ausgewählt. Besteht da nicht die Gefahr, dass es so wahrgenommen wird, als ob die Theologie durch einen interdisziplinären Ansatz ein kirchliches Problem hinter einem gesamtgesellschaftlichen verschwinden lässt?
Sautermeister: Das denke ich nicht. Ganz im Gegenteil: Nur durch einen interdisziplinären Ansatz lässt sich Missbrauch als Problem in der Kirche angemessen verstehen und angehen. Und nur durch einen interdisziplinären Ansatz kann Missbrauch als gesamtgesellschaftliches Problem erfasst werden, das in ganz unterschiedlichen Bereichen vorkommt wie in Sport, Kunst und Kultur, Wirtschaft, Verwaltung, Bildungs- und Sozialwesen – und natürlich besonders in den Familien. Das Moraltheologische Seminar der Katholisch-Theologischen Fakultät bietet einen geeigneten institutionellen Anknüpfungspunkt für die Verankerung des IPA Hub. Gerade die Erkenntnisse und Erfahrungen im kirchlichen Raum können als Erfahrungswerte für andere fruchtbar gemacht, werden, ohne die kirchlichen Probleme zu relativieren.
Zur Person
Jochen Sautermeister ist seit 2016 Inhaber des Lehrstuhls für Moraltheologie und Direktor des Moraltheologischen Seminars an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. 2025 wurde er in den Deutschen Ethikrat berufen. Ab dem 1. Mai leitet er den IPA-Hub.
Frage: Wie wirkt sich diese Expertise auf das "normale" Theologiestudium aus?
Sautermeister: Es gibt bei uns an der Fakultät etwa die Möglichkeit, studienbegleitend das Zertifikat "Prävention von sexualisierter Gewalt" zu erwerben. In den theologischen Bachelorstudiengängen wird das Modul "Ohnmacht, Macht, Missbrauch" angeboten, das sich mit Fragen des Machtmissbrauchs und der sexualisierten Gewalt befasst. Die Veranstaltungen dieses Moduls können auch von den Magisterstudierenden belegt werden, also denen, die später zum Beispiel als Priester oder Pastoralreferentinnen und -referenten in den Gemeinden tätig sind.
Frage: Wie nehmen Sie bei den Theologiestudierenden den Umgang mit dem Thema Missbrauch war? Was macht das mit jungen Menschen, dass sie sich auf einen Beruf in einer Organisation vorbereiten, die auch Täterorganisation ist?
Sautermeister: Den Begriff der Täterorganisation kann man sehr kontrovers diskutieren. Pater Klaus Mertes hat die Frage aufgeworfen, ob der Begriff überhaupt der Komplexität des Phänomens und der Kirche gerecht wird. Die Kirche ist ja kein Verbrechersyndikat, das sich gerade als kriminelle Organisation bestimmt. Das Spezifische und Verstörende bei der Kirche ist vielmehr, dass ihre Aufgabe, nämlich im Dienste des Reiches Gottes und der unbedingten Liebe Gottes zu wirken, pervertiert wird. Daher ist es wichtig, dass sich die Theologiestudierenden mit dem Thema Missbrauch befassen. Ich beobachte, dass die Studierenden schon eine Sensibilität für die Thematik haben. Zugleich liegt aber Vieles, was für die Generation in der Lebensmitte als Teil der Lebensgeschichte in und mit der Kirche bewusst ist, für die Studierenden weit in der Vergangenheit: Als Pater Mertes 2010 den Missbrauch am Berliner Canisius-Kolleg offenlegte und damit den Skandal des Missbrauchs auch in Deutschland in die Öffentlichkeit brachte, waren viele der heutigen Studienanfänger kaum in der Grundschule. Das Thema begleitet sie biografisch also schon lange, dass ich nachvollziehen kann, wenn man sich nicht ständig damit befassen möchte. Und dennoch ist der Missbrauch noch lange nicht erledigt und aufgearbeitet, es kommen immer neue Aspekte dazu. Aktuell etwa Fragen des Missbrauchs geistlicher Autorität.
Frage: Wo liegen dabei Ihre Forschungsschwerpunkte?
Sautermeister: Im Rahmen laufender Forschungsprojekte sind es drei Themenkomplexe, mit denen ich aktuell befasse. Erstens, fragen wir nach den Auswirkungen von sexualisierte Gewalt auf die Betroffenen, ihr Selbstverständnis und ihre Vorstellung von Glauben und religiösen Sinnvorstellungen? Welche Fragen und Erwartungen haben sie an die Kirche im Umgang mit Missbrauch? Das zweite Thema, mit dem ich mich intensiv beschäftige, ist der Missbrauch von Macht und Autorität: Welche Formen von Autoritätsmissbrauch im geistlichen Kontext und im Nichtgeistlichen gibt es? Wie spielen bestimmte Formen von Organisationen mit Persönlichkeitstypen zusammen, so dass sich das Risiko von Missbrauch erhöhen kann? Welche Schutzmaßnahmen lassen sich treffen? Und drittens stehen wir im IPA Hub am Beginn einer Metastudie, die alle Aufarbeitungsstudien im Kontext der Kirche auswerten soll, um die jeweiligen Erkenntnisse zusammenzuführen und Empfehlungen für die Praxis zu formulieren. Das Forschungsprojekt nimmt dabei auch internationalen Studien in den Blick.

Der IPA-Hub ist künftig eine Forschungsstelle an der theologischen Fakultät. Zuvor war es ein An-Institut der Uni Bonn. Mit der neuen Struktur rückt es näher an Forschung und Lehre.
Frage: Nach 15 Jahren und vielen einzelnen Studien spürt man bisweilen eine gewisse Ermüdung, sich mit dem Thema zu befassen. Trifft das auch auf die Kirchenleitungen zu?
Sautermeister: Im Herbst 2024 hat die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) den Sachverständigenrat zum Schutz von sexuellem Missbrauch und Gewalterfahrungen eingerichtet. Der Sachverständigenrat arbeitet unabhängig. Seine Aufgabe besteht darin, ein regelmäßiges Monitoring der Maßnahmen und Prozesse in den einzelnen Diözesen vorzunehmen, die der Prävention und Intervention dienen. Der Sachverständigenrat soll auf der Grundlage seiner Erhebungen Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Schutzmaßnahmen an die Bischöfe als Verantwortliche in Diözesen abgeben. Er veröffentlicht jedes Jahr seine Ergebnisse. Wenn man bedenkt, dass sich alle Diözesen im Bereich der DBK zur Zusammenarbeit mit dem Sachverständigenrat verpflichtet haben, zeigt sich darin eine feste Absicht, sich im Bereich von Prävention und Intervention weiter zu verbessern. Dass es zwischen den einzelnen Diözesen durchaus Unterschiede bei der Umsetzung der Maßnahmen gibt und dass es bei allem, was bereits geschehen ist, noch einiges für einen tiefgreifenden Kulturwandel benötigt, zeigt, wie wichtig die unabhängige Arbeit des Sachverständigenrats ist.
Frage: Gerade an der Basis scheint es oft noch an einem Kulturwandel zu mangeln. Die Münsteraner Missbrauchsstudie hat das Phänomen der "Bystander" herausgearbeitet, von Gemeinden, die Missbrauch ignorieren, Betroffene isolieren und sich mit Beschuldigten und Tätern solidarisieren. Aktuell gibt es den Fall in Passau, wo sich große Teile einer Gemeinde bedingungslos mit einem Pfarrer solidarisieren. Wie kann man Kulturwandelprozesse an der Basis anstoßen?
Sautermeister: Das ist eine entscheidende Frage. Um einen Kulturwandel zu fördern, ist zum einen eine Sensibilisierung für die Auswirkungen von Missbrauch auf die Betroffenen und zum anderen ein Wissen um verschiedene Formen von Übergriffigkeit und Gewalt zentral. Außerdem muss man verstehen, welche sozialen Dynamiken auftreten können, wenn eine Person des sexualisierten Missbrauchs beschuldigt wird, vor allem wenn es sich um eine Person des öffentlichen Lebens handelt, wie bei einem Pfarrer. Dabei ist auch wichtig zu wissen, welche Täterstrategien typisch sind oder weshalb es zu Solidarisierungseffekten mit Beschuldigten kommen kann. Prozesse des Kulturwandels sind grundsätzlich langwierig. Sie lassen sich nicht von außen überstülpen und sind auf die Bereitschaft der Betreffenden angewiesen, sich darauf einzulassen. Im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt gilt das erst recht. Psychologisch ist es erklärbar, warum das Thema emotional sehr belastend ist und warum man sich damit nicht gerne befassen oder sogar nicht wahrhaben möchte. Es ruft innere Widerstände und Unsicherheit hervor, ebenso intensive Gefühle wie Angst, Scham oder Abscheu hervor. Die Folge sind oft Wegschauen, Verschweigen, Tabuisieren. Aber nur, wenn man um all das weiß und sensibilisiert ist, kann man sich davon distanzieren. Das gilt auch für die Gemeinden vor Ort und an der Basis. Hier gibt es noch viel zu tun.
Frage: Und kann Ihre Arbeit am IPA Hub dabei helfen?
Sautermeister: Mit unserer Forschung wollen wir im IPA Hub dazu beitragen, diese Dynamiken und Prozesse besser zu verstehen. Durch die Angebote in Studium und Weiterbildung richten wir uns an Personen, die künftig oder bereits schon jetzt als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren tätig sind. Auf Diözesanebene haben die Bistümer im Bereich der Prävention bemerkenswerte Anstrengungen unternommen und Maßnahmen eingeführt. Allerdings zeigt sich auf der Gemeindeebene ein sehr heterogenes Bild. Daher gilt es, in der Breite die hauptamtlichen pastoralen Mitarbeitenden dabei zu unterstützen, solche Prozesse und Dynamiken angemessen zu verstehen, kompetent zu begleiten und verantwortlich zur Sprache zu bringen.