Jörg Ernesti über die Hauptlinien des Pontifikats

Kirchenhistoriker: Papst Franziskus wollte in vielem etwas anstoßen

Veröffentlicht am 22.04.2025 um 00:01 Uhr – Von Matthias Altmann – Lesedauer: 8 MINUTEN

Bonn/Augsburg ‐ Papst Franziskus sei als Charismatiker wahrgenommen worden – dabei habe er stark von Strukturen her gedacht: Der Kirchenhistoriker Jörg Ernesti, Experte für Papstgeschichte, erklärt im katholisch.de-Interview, wo der Pontifex aus Argentinien anknüpfte und was von ihm bleiben wird.

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In den vergangenen Wochen war noch von einem Weg der Besserung die Rede. Am Ostermontagmorgen ist Papst Franziskus gestorben. Der Augsburger Professor für Mittlere und Neue Kirchengeschichte, Jörg Ernesti, gilt als Kenner der Geschichte der Päpste. Er ordnet Franziskus im Interview in die Reihe seiner Vorgänger ein und erklärt, was das Franziskus-Pontifikat aus kirchengeschichtlicher Sicht besonders ausgezeichnet hat.

Frage: Herr Professor Ernesti, Papst Franziskus ist tot, nachdem er sich am Ostersonntag noch öffentlich gezeigt hat. Was ist Ihnen angesichts dieser Nachricht als erstes in den Sinn gekommen?

Ernesti: Das Pontifikat endete gewissermaßen so, wie es begonnen hatte. Es fing an mit dem historischen Besuch auf Lampedusa, wo Franziskus das Camp der afrikanischen Flüchtlinge, die nach Europa drängten, besucht hatte. Und es endete auch mit der Flüchtlingsthematik: Mit US-Vizepräsident JD Vance empfing er am Sonntag einen Mann, der wesentlich mitverantwortlich ist für die Pushbacks und das Zurückdrängen der Flüchtlinge aus den USA. Das ist schon eine gewisse Ironie der Geschichte.

Frage: Welcher Begriff fällt Ihnen als erster zu Franziskus' Pontifikat ein?

Ernesti: Ein Papst der Überraschungen, ein Papst des Unerwarteten. Von Anfang hat mich die bewusste Durchbrechung des Protokolls und des Zeremoniells sehr überrascht. Aber es sind natürlich auch die großen Entscheidungen gewesen, die so nicht zu erwarten waren. Die Synoden, die er einberufen hat, zuletzt die große Synode zur Synodalität, und natürlich die Kurienreform, die noch sehr viel Sprengstoff für die Zukunft birgt.

Frage: Manche sehen in Papst Franziskus einen Reformer, manchen ging das alles zu weit, und manche waren enttäuscht von ihm. Wer hat Recht?

Ernesti: Das ist eine schwierige Frage, auf die man kaum eine einfache Antwort geben kann. Die katholische Kirche ist ein großer Tanker, der sich nicht leicht bewegt. So kulturell divers die Kirche ist, so unterschiedlich sind auch die Erwartungen. Aber ich glaube schon, dass er in vielen Bereichen eher etwas angestoßen als zu Ende gebracht hat. Das ist aus meiner Sicht auch seine Absicht gewesen. Wenn ich etwa an die zweiteilige Familiensynode und das Thema der wiederverheirateten Geschiedenen denke: Da hat er durch das nachsynodale Schreiben zwar keine Revolution in der Sexualethik ins Werk gesetzt, aber in einer sehr verfahrenen Frage etwas in Bewegung gebracht. Man darf über das Thema wieder freier reden.

Bild: ©picture alliance/Stefano Spaziani (Archivbild)

"So kulturell divers die Kirche ist, so unterschiedlich sind auch die Erwartungen. Aber ich glaube schon, dass er in vielen Bereichen eher etwas angestoßen als zu Ende gebracht hat", sagt Jörg Ernesti.

Frage: Sie sprechen von Sprengstoff bei der Kurienreform. Was meinen Sie damit?

Ernesti: Paul VI. ist der eigentliche Schöpfer der modernen Kurie, der Gestalt der kirchlichen Zentralverwaltung. Das ist sein großes Projekt gewesen, das er über zwölf Jahre verfolgt hat. Das ist im Grunde eine institutionelle Umsetzung der Vorgaben des Zweiten Vatikanischen Konzils. Franziskus ist mit diesem Erbe sehr behutsam umgegangen. Er hat alle Anliegen Pauls VI. und damit des Konzils beibehalten. Er hat aber als ein Mann, der selbst lange Leitungsverantwortung getragen hat, die Anliegen sehr klug fokussiert und zusammengeführt. Zudem hat er an ganz entscheidender Stelle entdeckt, wo man ansetzen muss, um Erneuerung zu bewirken: Er hat die Leitung einer Kurienbehörde getrennt von der bischöflichen potestas und damit die oberste Ebene grundsätzlich für Frauen geöffnet. Das ist, glaube ich, wirklich etwas ganz revolutionär Neues.

Frage: Wie groß war der Unterschied zu seinen unmittelbaren Vorgängern? Manche sprechen ja von einem "Doppelpontifikat" Johannes Paul II./Benedikt XVI.

Ernesti: Ich sehe Benedikt XVI. als einen Übergangspapst. Als solcher ist er gewählt worden und diese Erwartung hat er auch erfüllt nach diesem langen Pontifikat von Johannes Paul II. Franziskus sehe ich als einen Mann, der eine lange Laufbahn hinter sich hat und dabei sehr viele Führungsqualitäten hat entwickeln können – als Novizenmeister, als mehrfacher Jesuitenprovinzial, als Leiter einer kirchlichen Universitätseinrichtung, als Erzbischof. Er ist jemand, der sehr von Strukturen und von Institutionen her denkt. Er wird als Charismatiker wahrgenommen, aber eine seiner großen Stärken war, dass er in strukturellen und in stabilen institutionellen Kategorien gedacht hat. Das zeigen auch andere Entscheidungen, etwa im wirtschaftlichen Bereich.

Frage: Manche sagen aber, er hatte für das Institutionelle nicht viel übrig.

Ernesti: Da bin ich anderer Meinung. Als den einsamen Monarchen und Entscheider sehe ich ihn nicht. Er hat einige tüchtige Leute hochkommen lassen, die eine große Rolle für ihn gespielt haben und von denen er sich auch hat beraten lassen. Ich denke da beispielsweise an die Kardinäle Parolin und Hollerich. Er hat in seiner langen Laufbahn ein Gespür für Menschen und deren Potenzial entwickelt. Und deshalb ist er auch sehr souverän mit seiner Opposition umgegangen und hat gewisse Leute abgemeldet.

Frage: Wo hat er denn bei früheren Päpsten angeknüpft?

Ernesti: Vom Auftreten her, von dem Unkonventionellen her, von der Liebenswürdigkeit, Zugänglichkeit, Volkstümlichkeit her sehe ich in ihm viel von Johannes XXIII. Konzeptionell, institutionell und theologisch sehe ich die stärksten Anknüpfungspunkte an Paul VI. Für ihn haben von Anfang an Fragen von Gerechtigkeit und Entwicklungshilfe eine zentrale Rolle gespielt. Dessen Enzyklika "Populorum progressio" von 1967 muss man zusammen mit "Laudato si‘" und "Fratelli tutti" von Franziskus lesen. Dann hat man den Schlüssel zu diesen beiden Sozialenzykliken.

 Jörg Ernesti
Bild: ©Christopher Beschnitt/KNA (Archivbild)

Jörg Ernesti ist Professor für Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Universität Augsburg und Experte für Papstgeschichte.

Frage: Wie groß waren die Akzente, die er in der Weltpolitik setzen konnte?

Ernesti: Ein eindeutiger diplomatischer Erfolg war die Anbahnung der diplomatischen Beziehungen und der Gesprächskontakte zwischen Kuba und den USA 2014. Weniger Erfolg hatte letztlich im Rückblick das 2018 mit China geschlossene Abkommen. Man hatte im Vatikan gehofft, dass man die Untergrundbischöfe doch legalisieren kann, dass man die vakanten Bistümer besetzen kann, dass man die Untergrundkirche und die staatsnahe "Chinesische Katholisch-Patriotische Vereinigung" zusammenführen kann. Faktisch ist das, was seitdem geschehen ist – das Abkommen ist ja nochmal verlängert worden – weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Und das wird es auch bleiben, solange der Heilige Stuhl volle diplomatische Beziehungen zu Taipeh und nicht zu Peking unterhält.

Frage: Zu manchen Äußerungen über die Ukraine gab es viel Kritik. Zurecht – oder wurde er da missverstanden?

Ernesti: Im Ukraine-Krieg hat man am Anfang sehr hohe Erwartungen verknüpft mit seinem Einsatz für einen möglichen Frieden und auch schon den Heiligen Stuhl als Vermittler ins Gespräch gebracht. Dann hat Franziskus aber die sehr eigenwillige Entscheidung getroffen, nicht nach Kiew zu reisen, weil er überzeugt war, dass das eine einseitige Solidarisierung mit den Ukrainern wäre. Dahinter steht die zentrale Doktrin der vatikanischen Diplomatie der Überparteilichkeit. Man schlägt sich in internationalen Konflikten nicht auf eine Seite. Man verurteilt auch nicht die eine Seite, wenn sie Unrecht gegen die andere begangen hat, sondern man bemüht sich, "supra partes" zu bleiben und so mit beiden Seiten im Gespräch zu sein und möglichst auch eine Vermittlung einzustielen. Die vatikanische Diplomatie hat, ungewöhnlich genug, um eine Einladung nach Moskau gebeten. Diese Einladung ist nicht erfolgt und somit sind eigentlich die Friedensbemühungen ins Leere gelaufen. Mich hat immerhin beeindruckt, dass man sich nicht hat entmutigen lassen und doch noch was erreichte, beispielsweise bei der Rückführung entführter Kinder.

Frage: Und was ist mit dem Gaza-Krieg?

Ernesti: Die beschriebene Haltung war von Anfang an auch in der Palästina-Politik der Päpste seit der Gründung des Staates Israel 1948 leitend. Man hat so eine Art Äquidistanz zwischen Israel und den Palästinensern gepflegt und tut das bis heute – auch im Bewusstsein darum, dass die meisten Christen in der Region Palästinenser sind, nicht wenige davon Katholiken. Das erklärt auch die Haltung jetzt im Gaza-Krieg. Ich glaube aber, man kann dem Papst nicht vorwerfen, dass er die terroristischen Akte vom Oktober 2023 nicht deutlich genug verurteilt hätte. Ich finde, man muss es ihm hoch anrechnen, dass er auch das, was da an der Zivilbevölkerung im Gazastreifen verübt worden ist, deutlich verurteilt hat. Insofern kann ich die Verstimmung der israelischen Politik nicht verstehen. Da hat sich Franziskus als unabhängig und nüchtern urteilender Mensch erwiesen.

Papst Franziskus grüßt Kardinäle am Rande des Gottesdienstes auf dem Petersplatz an Palmsonntag
Bild: ©KNA/Alessia Giuliani/CPP

Viele wären ohne einen Franziskus auch niemals Kardinäle geworden. Das Kardinalskollegium ist sicher nicht völlig 'eingenordet`'. Aber ich sehe auch keine größere Opposition", so Jörg Ernesti über das anstehende Konklave.

Frage: Man könnte den Eindruck bekommen, dass die katholische Kirche gespaltener denn je ist. Gerade in der Debatte um das Segensdokument "Fiducia supplicans" waren komplett konträre Standpunkte zu hören. Hat Franziskus einen Anteil an dieser Spaltung?

Ernesti: Ich würde nicht von gespalten sprechen, aber von kulturell divers. Da stößt schon einiges zusammen in der Weltkirche. Insgesamt hat er diese Diversitäten doch einigermaßen zusammengehalten.

Frage: Franziskus hat die Kirche zu mehr Bescheidenheit verpflichtet, zum unbedingten Einsatz für Migranten und zu einem anderen Entscheidungsstil. Kann man dahinter zurück?

Ernesti: Ich glaube nicht, dass man dahinter zurückkann. Das sind so entscheidende Weichenstellungen, dass man all das gerechterweise eigentlich nicht mehr missen möchte. Ein Konklave ist immer unvorhersehbar, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ein neuer Papst gewählt wird, der eben diese zentralen Anliegen rückgängig macht. Schauen Sie nur mal, wer unter den Kardinälen Gewicht hat. Das sind zum großen Teil alles Leute, die von Franziskus gefördert wurden. Viele wären ohne einen Franziskus auch niemals Kardinäle geworden. Das Kardinalskollegium ist sicher nicht völlig "eingenordet". Aber ich sehe auch keine größere Opposition.

Frage: Was wird dann das Franziskus-Pontifikat überdauern?

Ernesti: Der Zugang von Frauen zu kirchlichen Führungspositionen, das Aufbrechen der Verhärtungen in der Sexualethik und vielleicht ein Anstoß, über eine Neubewertung der Homosexualität ins Gespräch zu kommen. Synodalität ist zwar kein neues Thema, wird aber weiterhin eine große Rolle spielen. Und nicht zuletzt der kirchliche Einsatz für die Umwelt und das Klima. Nach Franziskus kann eigentlich kein Katholik mehr den Klimawandel leugnen.

Von Matthias Altmann