Warum Filoni den Kürzeren zieht und andere knifflige Konklavefragen

Die Regeln für die Papstwahl kann man schwarz auf weiß nachlesen: Mit der Apostolischen Konstitution "Universi Dominici gregis" hat Papst Johannes Paul II. 1996 die Bestimmungen für die Wahl seiner Nachfolger aufgeschrieben. Das ist aber nicht alles, was es zu beachten gilt: Wenn die Kardinäle richtig vorgehen wollen (und dazu sind sie verpflichtet) müssen sie zwei Änderungen an der Apostolischen Konstitution von Benedikt XVI. aus den Jahren 2007 und 2013 daneben legen. Die wichtigste Änderung: Während Johannes Paul II. das Verfahren nicht hinauszögern wollte und nach einigen erfolglosen Wahlgängen die Wahl mit absoluter Mehrheit statt einer Zweidrittelmehrheit gestattete, hat Benedikt XVI. das wieder zurückgedreht: Eine Papstwahl per absoluter Mehrheit wurde damit wieder ausgeschlossen.
Mit der Kurienreform wurde die Sedisvakanz-Ordnung geändert
Die Kardinäle dürfen auch nicht übersehen, dass Papst Franziskus bei seiner Kurienreform nebenbei noch weitere Kleinigkeiten geändert hat – das hatten bis Montag wohl die wenigsten auf dem Zettel, als der Vatikan mitteilte, dass der Münchener Kardinal Reinhard Marx als Mitglied der Sonderkongregationen nicht ausgelost, sondern bestätigt wurde. In der eigentlichen Papstwahlordnung steht das nämlich anders: Dort werden die drei Assistenten des Kardinalkämmerers, die mit ihm eine Art geschäftsführende Regierung der Kirche bilden, alle drei Tage ausgelost. Aus jeder Kardinalsklasse, also Kardinaldiakonen, Kardinalpriestern und Kardinalbischöfen wird einer per Los gezogen.
In der neuen Kurienordnung von 2022 steht dagegen, dass einer der drei Assistenten immer gesetzt ist: nämlich der Kardinal-Koordinator des Wirtschaftsrats, also Kardinal Marx. Was das für die anderen beiden bedeutet, ist nicht ausdrücklich geregelt. Man hat sich aber anscheinend auf die pragmatische Auslegung festgelegt, dass sonst alles so bleibt: Weil Marx der Klasse der Kardinalpriester angehört, wurden je ein Kardinalbischof und ein Kardinaldiakon ausgelost. Die Kardinalpriester haben damit keine Chance mehr auf Losglück – und damit die meisten Kardinäle. Von 252 lebenden Kardinälen sind 205 Kardinalpriester.
120 kann auch 135 bedeuten
Das Konklave, in dem Kardinal Joseph Ratzinger zum Papst gewählt wurde, war mit 117 wahlberechtigten und 115 teilnehmenden Kardinälen das größte überhaupt – bis jetzt: Zum Stichtag – der Tag vor dem Tod des Papstes – sind 135 Kardinäle unter 80 Jahren und damit wahlberechtigt. (Oder sind es doch 136? Dazu gleich mehr.) In der Konklave-Ordnung steht dagegen klipp und klar: "Die Höchstzahl der wahlberechtigten Kardinäle darf nicht mehr als 120 betragen" – nicht "soll", sondern "darf". Im maßgeblichen lateinischen Text steht dort "ne excedat" – grammatikalisch ein Konjunktiv, der als Jussiv einen Befehl ausdrückt.

Kardinal Marx ist als Koordinator des Wirtschaftsrats qua Amt während der Sedisvakanz einer von vier Kardinälen, die so etwas wie eine Interims-Regierung der Kirche bilden: Neben dem Kardinalkämmerer ist er der einzige Kardinal, der für die Sonderkongregationen gesetzt ist.
Steht beim Konklave also ein Türsteher mit einer Strichliste, und Kardinal Nr. 121 wird die Tür der Sixtinischen Kapelle vor der Nase zugeschlagen? Natürlich nicht. Denn zum einen steht in der Konklave-Ordnung, dass kein wahlberechtigter Kardinal von der Wahl "aus irgendeinem Grund oder Vorwand ausgeschlossen werden", und wer wahlberechtigt ist, ist klar definiert: Nämlich alle, die zum Stichtag noch nicht 80 sind und weder rechtmäßig abgesetzt sind noch mit Zustimmung des Papstes auf die Kardinalswürde verzichtet haben – selbst exkommunizierte Kardinäle wären also wahlberechtigt. Das Kardinalskollegium dagegen kann niemanden aus seinen Reihen ausschließen; es fehlt also schon an Mechanismen und Kriterien, wie "überzählige" Kardinäle aussortiert werden.
Noch wichtiger als die Wahlordnung ist der höchste Stich im Kirchenrecht: c. 331 CIC. Dieser Kanon im kirchlichen Gesetzbuch hält fest, dass der Papst "kraft seines Amtes in der Kirche über höchste, volle, unmittelbare und universale ordentliche Gewalt" verfügt, "die er immer frei ausüben kann". Das ist nach katholischem Verständnis keine willkürliche Regelung eines weltlichen Gesetzgebers, sondern die rechtliche Formulierung des Dogmas vom Jurisdiktionsprimat, das das Erste Vatikanische Konzil (1869–1870) unfehlbar gelehrt hat. Das bedeutet: Der Papst ist an keine kirchlichen Gesetze gebunden, weder an die seiner Vorgänger noch an seine eigenen. Wenn der Papst mehr als 120 Papstwähler ernennt, dann ist das so, und faktisch ist die Muss-Regelung zur Höchstzahl aus der Konklave-Ordnung ausgesetzt, Wortlaut hin oder her.
Beccius Verzicht hat die Verfassungskrise abgewendet
Die Konklave-Ordnung geht davon aus, dass das Wahlrecht eines Kardinals sehr einfach festzustellen ist: Sie legt die Altersgrenze fest und genau drei Gründe, aus denen ein Kardinal unter 80 das Wahlrecht verliert. Zwei wurden bereits genannt: Nicht wählbar sind rechtmäßig (also durch den Papst) abgesetzte Kardinäle und Kardinäle, die mit Zustimmung des Papstes auf die Kardinalswürde verzichtet haben. Der dritte Fall ist spezieller: Sollte das Konklave so lange gehen, dass es zu einer Stichwahl zwischen den beiden Männern mit den meisten Stimmen kommt, sind diese beiden verbliebenen Kandidaten in der Stichwahl nicht aktiv wahlberechtigt.

Ein Kardinal ohne Rechte – oder doch wieder mit dem Recht auf Papstwahl? Angelo Becciu hat nach seinem Fall für viel Wirbel gesorgt.
Der Fall von Kardinal Angelo Becciu war komplizierter: 2020 teilte der Vatikan mit, dass Becciu als Präfekt der Heiligsprechungskongregation und "von den mit dem Kardinalat verbundenen Rechten" zurückgetreten ist. Anscheinend hielt man diese Formulierung für ausreichend, obwohl Becciu offensichtlich nicht von allen Rechten aus der Kardinalswürde zurückgetreten ist: Weiterhin führte er den Titel und trug das Kardinalspurpur. Hintergrund des Rücktritts waren Vorwürfe finanzieller Unregelmäßigkeiten in der Amtszeit Beccius als Substitut des Staatssekretariats, wegen der der Kardinal 2023 auch strafrechtlich verurteilt wurde.
In der Woche nach dem Tod des Papstes hatte Becciu darauf beharrt, wahlberechtigt zu sein. Dass Franziskus ihn zum Konsistorium, dem Treffen der Kardinäle, eingeladen hat, zeige seine Rehabilitierung. Indes: Offiziell rehabilitiert wurde er nie. Mittlerweile hat Becciu aber, so sagt er, "zum Wohl der Kirche" entschieden, nicht auf einer Teilnahme am Konklave zu bestehen. Das entspreche dem Willen des verstorbenen Papstes – es soll wohl zwei Schreiben geben, in denen Papst Franziskus noch kurz vor seinem Tod bestätigt hat, dass Becciu nicht teilnehmen darf. Damit sicher, dass es 135 wahlberechtigte Kardinäle gibt, nicht 136.
Kardinäle ohne Rechte kennt das Kirchenrecht eigentlich nicht
Mit dem Rückzug Beccius dürfte er dem Kardinalskollegium einiges Kopfzerbrechen erspart haben. Denn auch für solche Fälle sieht die Wahlordnung keine Verfahren vor, wie die Wahlberechtigung eines zweifelhaften Papstwählers überprüft wird. Der Wortlaut ist keine Hilfe: Die regelt zwar den Rücktritt, aber eben nur den Verzicht auf die Kardinalswürde insgesamt, nicht auf den Fall eines Rücktritts "von den mit dem Kardinalat verbundenen Rechten".
Der Fall eines Kardinals ohne Rechte ist im Kirchenrecht nicht geregelt. Einen Präzedenzfall gibt es lediglich mit dem schottischen Kardinal Keith O'Brien, der 2015 nach Missbrauchsvorwürfen seinen Rücktritt von seinen Rechten angeboten hatte. Anders als bei Becciu wurden die Rechte, auf die O'Brien verzichtet hat, einschließlich des Rechts zur Papstwahl, in der Mitteilung ausdrücklich benannt.
Warum darf Parolin das Konklave leiten?
Wer leitet eigentlich das Konklave? Auch das regelt die Wahlordnung: der Kardinaldekan. Das gilt aber nur, wenn er wahlberechtigt ist. Der aktuelle Kardinaldekan Giovanni Battista Re ist aber schon 91. In diesem Fall sieht die Ordnung vor, dass der "ranghöchste und älteste Kardinal" seine Aufgaben im Konklave übernimmt. Nur: Wer ist das?
Dass es sich um Kardinal Pietro Parolin handelt, scheint im Kardinalskollegium unumstritten zu sein. Wenn man aber überlegt, warum Parolin der "ranghöchste und älteste" im Konklave ist, wird es schon schwieriger. Der älteste ist er jedenfalls nicht: Mit 70 Jahren ist er im Mittelfeld der Altersspanne. Aufs Alter kommt es in der Regel auch nicht an.

Kurienkardinal Fernando Filoni ist schon länger Kardinal als Pietro Parolin – und trotzdem steht er in der offiziellen Rangfolge hinter dem ehemaligen Staatssekretär von Franziskus.
Was genau der "ranghöchste und älteste" bedeutet, wird nicht ausgeführt. Erschwert wird die Auslegung dadurch, dass diese Formulierung zwar in der Wahlordnung vorkommt, im Kodex des kanonischen Rechts steht in der deutschen Übersetzung zwar in ähnlichem Kontext "rangältester Kardinal", im maßgeblichen lateinischen Text aber "antiquior", wörtlich "älter", statt "Cardinalis ordine et aetate primus" wie in der Wahlordnung. Gibt es also für den Spezialfall der Konklave-Leitung ein anderes Kriterium für die Rangordnung? Aus dem Umfeld des Dikasteriums für die Gesetzestexte, der Kurienbehörde, die für die Auslegung von Kirchenrecht zuständig ist, hat katholisch.de erfahren: nein. Beide Formulierungen beziehen sich auf dieselbe Rangordnung.
Keine Regeln für den Ehrenvorrang der Kardinalbischöfe
Problem gelöst? Immer noch nicht. Denn für die Klasse der Kardinalbischöfe ist im Kirchenrecht nicht eindeutig geregelt, wie die Rangordnung ermittelt wird. Klar ist, dass ganz oben der Kardinaldekan steht. Klar ist auch, dass alle Kardinalbischöfe vor allen Kardinalpriestern stehen, die wiederum vor allen Kardinaldiakonen stehen. Ansonsten bemisst sich die Ehrenreihenfolge im Kardinalskollegium nach dem Zeitpunkt der Erhebung zum Kardinal: Später ernannte kommen nach früher ernannten.
Wenn ein Kardinaldiakon zum Kardinalpriester wird, also das sogenannte Optionsrecht ausübt – das dürfen Kardinäle nach zehn Jahren beantragen –, zählt in seiner neuen Klasse das Datum der Erhebung zum Kardinal, nicht das Datum der Aufnahme in die priesterliche Kardinalsklasse. Ein früher zum Kardinal ernannter neuer Kardinalpriester wird also vor einem Kardinalpriester eingereiht, der schon länger in dieser Klasse ist, aber später zum Kardinal erhoben wurde.

Kardinal Pietro Parolin hat nicht nur bei der Beerdigung des Papstes eine wichtige Rolle – im Konklave hat er die Leitung.
Ein Optionsrecht auf die Klasse der Kardinalbischöfe hat Papst Johannes XXIII. abgeschafft, daher schien dem Gesetzgeber des CIC wohl eine Regelung verzichtbar: Im Gesetz steht nicht, dass dasselbe Verfahren zur Feststellung der Rangfolge auch bei einer Aufnahme in die Klasse der Kardinalbischöfe greift. Wo neue Kardinalbischöfe eingereiht werden, ist daher nicht geregelt. Würde man das Verfahren des Wechsels von den Kardinaldiakonen zu den Kardinalpriestern anwenden, dann würde nicht Parolin, sondern Kardinal Fernando Filoni das Konklave leiten. Parolin wurde 2014 zum Kardinal erhoben, Filoni schon 2012. Filoni wurde als Kardinaldiakon zum Kardinal ernannt, Parolin schon als Kardinalpriester. Wären beide nicht Kardinalbischöfe geworden, sondern Filoni zum Kardinalpriester aufgestiegen, wäre er in der Rangfolge unter den Kardinalpriestern aufgrund seiner Ernennung vor Parolin gerückt.
Rom findet einen Weg
Was also ist passiert, dass Parolin plötzlich unangefochten in der Rangfolge vor Filoni steht? Anscheinend geht man im Vatikan davon aus, dass beim Eintritt in die Klasse der Kardinalbischöfe die Karten neu gemischt werden und der Zeitpunkt der Aufnahme in diese Klasse für die Rangfolge zählt. An einem Gesetzestext nachweisen kann man das nicht – aber es ist konsistent mit der nach Rang sortieren Liste des Kardinalskollegiums, die der Vatikan jedes Jahr im "Annuario Pontifico" veröffentlicht: Die dort veröffentlichte Rangfolge der Kardinalbischöfe ergibt sich eindeutig aus der Reihenfolge der Ernennung. Parolin wird dort, seit er in der Ausgabe 2019 als Kardinalbischof geführt wird, vor Filoni einsortiert – und auch vor Kardinalbischof Antonio Tagle, der seit 2012 Kardinal, aber erst seit 2020 Kardinalbischof ist.
Bei Parolin und Filoni kommt es für die Bestimmung der Rangfolge zur denkbar knappsten Entscheidung: Beide wurden mit demselben Reskript am 26. Juni 2018 von Papst Franziskus zu Kardinalbischöfen ernannt – aber Parolin wird in der Liste von vier Kardinälen als erster genannt und gilt damit als ranghöher als die drei folgenden, darunter Filoni.
Viele dieser Grenz- und Zweifelsfälle, von der Zahl der Papstwähler bis zur Rangfolge, könnten durch eine stringentere und klarere päpstliche Gesetzgebung ausgeräumt werden. In Rom scheint es aber auch so zu funktionieren – solange nicht einmal doch ein Fall Becciu eskalieren wird.
Zum Nachlesen: Die Regeln für Sedisvakanz und Konklave
Papst Johannes Paul II. hat 1996 mit der Apostolischen Konstitution Universi Dominici gregis die Regeln für die ohne Papst und für die Wahl eines neuen Papstes neu gefasst. Die Regeln wurden in dieser Form nur einmal angewandt: 2005 bei dem Konklave, aus dem Kardinal Joseph Ratzinger als Papst Benedikt XVI. hervorging. Der damals neue Papst änderte die Ordnung noch zweimal. Auf der Webseite des Vatikans ist die ursprüngliche Fassung mit Verweisen auf die Änderungen abrufbar.