"Knallharte Machtpolitik unter religiösem Deckmantel"

Neo-Integralismus: Wie katholische Hardliner die Demokratie bekämpfen

Veröffentlicht am 01.07.2025 um 00:01 Uhr – Von Steffen Zimmermann – Lesedauer: 

Ave Maria ‐ Sie verachten den Liberalismus und träumen von autoritär-katholischen Regimen: Neo-Integralisten planen den antidemokratischen Umbau ganzer Staaten. Im Interview spricht der Politologe James M. Patterson über die Bewegung, ihren wichtigsten Vordenker und dessen Nähe zu US-Vizepräsident J. D. Vance.

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In Debatten über rechtskonservative oder rechtsextreme Tendenzen in Kirche und Politik ist in letzter Zeit häufiger vom katholischen Neo-Integralismus als einer wichtigen Bewegung innerhalb dieser Szene die Rede. Doch was genau hat es mit dem Neo-Integralismus auf sich? Welche historischen und ideologischen Wurzeln hat die Bewegung? Welche politischen Ziele verfolgt sie? Und wer sind ihrer führenden Vertreter und politischen Vorbilder? Das erläutert im Interview mit katholisch.de der US-amerikanische Politikwissenschaftler James M. Patterson von der University of Tennessee.

Frage: Professor Patterson, wenn von rechtskonservativen oder gar rechtsextremen Tendenzen in der katholischen Kirche die Rede ist, fällt in jüngster Zeit häufiger der Begriff Neo-Integralismus. Was hat es mit diesem Begriff auf sich?

Patterson: Der Begriff bezeichnet eine radikale politische Theologie, die darauf abzielt, die katholische Kirche wieder als oberste Autorität über die weltliche Ordnung zu etablieren. Neo-Integralisten fordern, dass die Kirche nicht nur für das Seelenheil, sondern auch für das Gemeinwohl der Staaten zuständig sein müsse – und daraus leiten sie das Recht ab, weltlichen Regierungen Pflichten aufzuerlegen. Ihr Ziel ist eine katholisch geprägte Gesellschaft, in der der Staat den "rechten Glauben" aktiv fördert. Für Neo-Integralisten ist ziviler Friede nur dann möglich, wenn alle Bürger katholisch sind.

Frage: Das klingt ziemlich theoretisch ...

Patterson: Das stimmt. Führende Vertreter des Neo-Integralismus haben aber längst konkrete politische Programme verfasst. In ihrem Buch "Integralism: A Manual of Political Philosophy" schreiben Alan Fimister und Thomas Crean etwa, ein christliches Gemeinwesen müsse Ungetaufte aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens ausschließen. Nur Getaufte, die sich zum katholischen Glauben bekennen, könnten Bürger mit vollen Rechten sein. Für Andersgläubige würde das in der Praxis unter anderem bedeuten: keine politische Teilhabe, keine Bewegungsfreiheit. Im Grunde würde dies eine Rückkehr zu den religiösen Ghettos des Mittelalters bedeuten. Selbst getaufte Christen wie Protestanten oder Orthodoxe wären betroffen, weil sie nicht in Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen.

Frage: Das ist schwer vereinbar mit den Grundwerten moderner Demokratien ...

Patterson: Genau. Und das ist auch kein Zufall. Neo-Integralisten treten ganz bewusst gegen die Prinzipien liberaler Demokratien an. Vertreter wie Patrick Deneen oder Chad Pecknold argumentieren, der Liberalismus habe seine Versprechen gebrochen, weil er den Menschen von Religion, Familie und Gemeinschaft entfremdet habe. Freiheit ohne Bindung an Wahrheit führe in eine Gesellschaft der Isolation, Vereinzelung und Orientierungslosigkeit. Zwar fordern Dennen und Pecknold – anders als Fimister und Crean – öffentlich keine Diskriminierung Andersgläubiger. Aber sie haben deren Positionen auch nie entschieden zurückgewiesen.

„Der unangefochtene Held vieler Neo-Integralisten ist Viktor Orbán. Dass er Protestant ist, stört sie kaum – was zählt, ist seine Politik: Ausbau der Exekutivgewalt, Förderung traditioneller Familien, Einschränkung von Pressefreiheit und Opposition.“

—  Zitat: James Patterson

Frage: Wo liegen die geistigen Wurzeln des Neo-Integralismus?

Patterson: Der Neo-Integralismus steht in einer langen Tradition katholischer Herrschaftsideen. Schon im Mittelalter erhoben Papsttreue den Anspruch, der Papst stehe über weltlichen Herrschern, gerade wenn es um die Ernennung von Bischöfen ging. Im 19. Jahrhundert forderten Ultramontanisten eine Art päpstliches Monopol in katholischen Staaten – besonders mit Blick auf Bildung, Wohlfahrt und das öffentliche Leben. Noch direkter knüpft der Neo-Integralismus an die katholischen Reaktionäre des 19. und frühen 20. Jahrhunderts an: Joseph de Maistre, Juan Donoso Cortés oder Charles Maurras werden bis heute zitiert. Viele dieser Autoren waren erklärte Antisemiten, Verschwörungstheoretiker und erbitterte Feinde demokratischer Bewegungen. Neo-Integralisten meiden zwar diese dunklen Kapitel ihrer Ideengeschichte, aber die Parallelen sind offensichtlich.

Frage: An welchen historischen Vorbildern orientieren sich Neo-Integralisten konkret?

Patterson: Innerhalb der Bewegung gibt es zwei Richtungen. Die eine nenne ich die "Antiquarier". Diese Gruppe sitzt vor allem in den USA, etwa rund um die kleine katholische Franciscan University in Steubenville. Ihr Vorbild ist das mittelalterliche Frankreich unter dem heiligen Ludwig IX. – eine Zeit, in der Kirche und Staat eng verflochten waren. Für diese Gruppe ist die moderne Bürokratie der Kern des Übels. Ihr Traum ist eine Rückkehr zu persönlichen, hierarchischen Herrschaftsmodellen – eine Art katholischer Feudalismus. Die zweite Strömung ist politisch weitaus bedeutender: das, was ich "klerikalen Faschismus" nenne. Ihre Vertreter bewundern offen die katholisch geprägten Diktaturen des 20. Jahrhunderts, zum Beispiel den Austrofaschismus unter Engelbert Dollfuß, Francos Spanien oder Salazars Portugal. Autoren wie Adrian Vermeule, Gladden Pappin oder Nathan Pinkoski argumentieren, die liberale Demokratie sei gescheitert, der Westen brauche eine postliberale Neuordnung. Ihre Lösung: ein starker, kaum kontrollierter Staat, der im Namen des katholischen Glaubens regiert.

Frage: Welche gegenwärtigen Politiker dienen den Neo-Integralisten als Vorbilder?

Patterson: Der unangefochtene Held vieler Neo-Integralisten ist Viktor Orbán. Dass er Protestant ist, stört sie kaum – was zählt, ist seine Politik: Ausbau der Exekutivgewalt, Förderung traditioneller Familien, Einschränkung von Pressefreiheit und Opposition. Autoren wie Pappin, Pecknold oder Sohrab Ahmari loben ihn regelmäßig. Auch rechtspopulistische Politiker wie Matteo Salvini in Italien oder Marion Maréchal in Frankreich finden bei ihnen Anklang. Besonders bezeichnend ist zudem die Haltung einiger Neo-Integralisten zur Volksrepublik China. Adrian Vermeule etwa bewundert die chinesische Regierung für ihre effektive Nutzung staatlicher Macht. Ahmari schrieb einmal auf X, er habe "Frieden damit gefunden", dass China zur führenden Weltmacht werde – weil dort, so sein Argument, noch familiäre Loyalität existiere. Der politisch wichtigste Verbündete der Neo-Integralisten aber ist US-Vizepräsident J.D. Vance. Er bewegt sich im direkten Umfeld von Denkern wie Deneen, Vermeule und Pecknold. Vance fällt immer wieder durch Äußerungen auf, die einen katholisch geprägten Autoritarismus durchblicken lassen. Er steht für eine neue Rechte in den USA, die nicht mehr klassisch konservativ, sondern radikal postliberal denkt.

Bild: ©privat

James M. Patterson ist seit Juni 2025 Associate Professor of Public Affairs an der University of Tennessee. Zuvor war er sechs Jahre als Associate Professor of Politics an der Ave Maria University in Florida tätig.

Frage: Wie schätzen Neo-Integralisten den Zustand westlicher Demokratien ein?

Patterson: Für sie ist der Liberalismus tot. Sie argumentieren, liberale Demokratien seien nur möglich gewesen, weil es früher starke Familien, lokale Gemeinschaften und lebendige Kirchen gegeben habe. Doch der Liberalismus selbst habe diese Grundlagen zerstört. Zurück bleibe eine individualistische, kinderarme Gesellschaft ohne Zusammenhalt. Deshalb müsse eine neue Ordnung her – eine katholisch geprägte Gesellschaft mit klaren religiösen Vorgaben, autoritär organisiert.

Frage: Wie groß ist die Gefahr, die vom Neo-Integralismus ausgeht?

Patterson: Numerisch ist die Bewegung klein, aber sie ist strategisch hoch gefährlich. Ihr Ziel ist nicht, Mehrheiten bei Wahlen zu gewinnen. Ihr Ziel ist es, Schlüsselpositionen in Politik, Verwaltung, Universitäten und Kirche zu besetzen – schleichend, langfristig, systematisch. Vermeule etwa ist Professor an der Harvard Law School, Deneen an der renommierten University of Notre Dame. Viele weitere Akteure sind an katholischen Hochschulen aktiv. Vermeule spricht gerne von einem "neuen Ralliement" – in Anlehnung an Papst Leo XIII., der im 19. Jahrhundert Katholiken in Frankreich aufforderte, sich aktiv an der Politik zu beteiligen. Heute meint Vermeule damit den gezielten Einstieg in Verwaltungen, in Ministerien, in Think Tanks, um die Staaten von innen heraus umzubauen. Es ist ein Plan mit langer Laufzeit – und gerade deshalb so gefährlich.

Frage: Einen Namen, den man im Zusammenhang mit dem Neo-Integralismus immer wieder hört, ist Edmund Waldstein. Welche Rolle spielt der Zisterzienserpater aus dem österreichischen Stift Heiligenkreuz für die Bewegung?

Patterson: Waldstein war die zentrale Figur bei der Entstehung der Bewegung. Ohne ihn gäbe es den Neo-Integralismus in seiner heutigen Form nicht. Mit seinem Online-Projekt "The Josias" und seinen Beiträgen in konservativen katholischen Medien wurde er zur intellektuellen Leitfigur. Er war es, der Theologen wie Vermeule oder Publizisten wie Ahmari überhaupt erst mit den Ideen des Neo-Integralismus vertraut gemacht hat. Heute tritt Waldstein weniger öffentlich auf, aber sein Einfluss bleibt spürbar. Besonders in den USA haben seine Texte viele junge Konservative geprägt. Auch seine Bücher werden in diesen Kreisen immer noch gelesen.

„Die Kirche muss Neo-Integralismus klar benennen und verurteilen. Papst Franziskus hat das bereits 2019 getan, als er den Integralismus als "Pest" bezeichnete.“

—  Zitat: James Patterson

Frage: Medienberichten zufolge soll Waldstein auch eine Inspirationsquelle für J.D. Vance gewesen sein. Was wissen Sie darüber?

Patterson: Vance bewegte sich in denselben Online-Debattenräumen wie Waldstein und dessen Mitstreiter, er kam über Personen wie Vermeule und Pecknold mit den Ideen des Neo-Integralismus in Kontakt. In konservativen Kreisen gilt es als offenes Geheimnis, dass Mitarbeiter von Vance sich intensiv mit Texten Waldsteins beschäftigt haben sollen. So ergibt sich ein indirektes, aber klares Einflussnetz. Kurz gesagt: Waldstein ist sehr wichtig, um Vance zu verstehen, insbesondere in seinem politischen Wandel von einem gemäßigten Konservativen zu einem Trump-nahen Postliberalen.

Aufgrund der Medienberichte über Pater Waldstein hat ihm die Universität Innsbruck zuletzt empfohlen, seine Habilitationsschrift nicht an der Universität einzureichen. Wie beurteilen Sie diesen Vorgang?

Patterson: Aus meiner Sicht ist es gut, wenn Institutionen frühzeitig klare Grenzen setzen. Je länger man Bewegungen wie dem Neo-Integralismus freie Bahn lässt, desto schwieriger wird es, ihre Ideen einzudämmen. Ich bedaure es für Waldstein persönlich, dass es so weit kommen musste. Gleichzeitig ist dies eine Gelegenheit für ihn, sich von dieser Ideologien zu lösen. Ob er diesen Schritt gehen wird, bleibt abzuwarten.

Frage: Wie sollte die katholische Kirche auf den Neo-Integralismus reagieren?

Patterson: Die Kirche muss Neo-Integralismus klar benennen und verurteilen. Papst Franziskus hat das bereits 2019 getan, als er den Integralismus als "Pest" bezeichnete. Auch demokratische Staaten müssen wachsam sein. Ein Verbot solcher Gruppen könnte allerdings kontraproduktiv sein, weil es sie interessanter wirken lässt. Viel wichtiger ist es, die manipulativen Versprechen dieser Ideologie zu entlarven: Es geht nicht um den Schutz des Glaubens, sondern um knallharte Machtpolitik unter religiösem Deckmantel.

Von Steffen Zimmermann