Ein Gastbeitrag von Theologe Daniel Bogner

Menschenrechte nach der Zeitenwende – eine Aufgabe der Kirche?

Veröffentlicht am 19.07.2025 um 12:00 Uhr – Von Daniel Bogner – Lesedauer: 

Freiburg ‐ Das Recht des Stärkeren scheint die regelbasierte Weltordnung zu verdrängen, schreibt Moraltheologe Daniel Bogner. Das löse bei vielen Menschen große Sorgen aus – und die Frage, woran man sich jetzt halten kann. In dieser Lage komme auf den Katholizismus eine besondere Verantwortung zu.

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Als ich 1991 das Abitur ablegte und die Schule in Richtung Uni verließ, hatte ich – wie viele Angehörige meiner Generation – das Gefühl: Die Welt liegt uns zu Füßen, wir brauchen nur vorangehen, alles wird möglich sein. Der Fall der Berliner Mauer und das Ende des Ost-West-Konfliktes haben dafür gesorgt, dass Lebenszeit und historische Zeit für einen Moment übereinkamen. Es stellte sich das Empfinden ein: Wir gehen gemeinsam auf ein Ziel zu und dem sind wir gerade einen riesigen Sprung nähergekommen. Francis Fukuyama brachte das in seinem berühmten Essay vom "Ende der Geschichte" auf den Begriff. Er meinte damit den Durchbruch des freiheitlichen, auf den Menschenrechten aufbauenden Gesellschafts- und Politikmodells, zu dem es nach 1989/90 keine ernsthafte Konkurrenz mehr geben würde.

Heute müssen wir realisieren: Diese Annahme hat sich als illusionär erwiesen. Über lange Zeit wurde angenommen, die Menschenrechte setzten sich weltweit durch, weil es keine plausible Alternative zu ihrer Rolle als normativem Ordnungsgerüst einer gemeinsamen Weltordnung gebe. Die Regionen, wo das "noch nicht" der Fall sei, hätten schwierigere Ausgangsbedingungen, kämen aber auch noch dorthin. Die Rhetorik des "noch nicht so weit" verfängt heute nicht mehr. Vielmehr etablieren sich autoritäre Alternativen zu einer menschenrechtlichen Grundordnung.

Es zeichnet sich ein Perspektivwechsel ab. Von den Potentaten weltweit (Putin, Trump u.a.) werden Menschenrechte schlicht ignoriert und niedergewalzt, von anderen werden sie als "anstrengend" und als überzogene Forderungen dargestellt, vermeintlich ungeeignet für eine Welt des 21. Jahrhunderts. Wäre es nicht naheliegend, von den hehren menschenrechtlichen Ansprüchen, die sich ja sowieso niemals gänzlich realisieren lassen, abzusehen und dafür auf kleinere Formate zu setzen: das eigene Land, den lokalen Lebensraum, "gesunden" Menschenverstand, Gewohnheit und Tradition, vielleicht auch einfach das zu verfolgen, was mir und den Meinen einen jetzt spürbaren Nutzen bringt?

"Global denken – lokal handeln?" Pustekuchen!

Wir befinden uns mitten in einer doppelten Gefährdung – durch die Aushöhlung von innen sowie die Infragestellung von außen (Putin, Trump u.a.). So geht es heute nicht mehr in erster Linie darum zu schauen, wie die Menschenrechte am besten umgesetzt werden können. Hierüber wird gestritten, seit es sie gibt. Heute geht um das "Ob", nicht mehr nur um das "Wie". Also um die Frage, ob die Menschenrechte überhaupt eine Zukunft haben.

Damit droht aber viel mehr verloren zu gehen, als nur ein bestimmtes Rechtsinstrument. Auf dem Spiel steht ein wichtiges Prinzip, nach dem sich unser Handeln orientiert. Menschen sind geschichtliche Wesen. Sie leben aus einer Vergangenheit, den darin gemachten Erfahrungen und Erlebnissen. Sie haben eine Gegenwart zu gestalten und sie fragen sich, was morgen sein wird. Der Vorgriff auf die Zukunft ist eine wesentliche Ressource, die es Menschen ermöglicht, in der Gegenwart Motivation zum Handeln frei zu machen. Wo ein Zielpunkt oder ein größerer Horizont sichtbar ist, stiftet dieser zum Handeln heute an, auch wenn seine Verwirklichung noch aussteht und eben ein Ideal bleibt. Aber als solches ist der Horizont in der Gegenwart wirksam. In den religiösen Traditionen wird ein solches Modell geschichtlicher Identität mit dem Begriff der "Hoffnung" beschrieben.

Moraltheologe Daniel Bogner
Bild: ©Privat

"Die Menschenrechte sind in Verruf geraten", schreibt Moraltheologe Daniel Bogner. Dabei werde oft vergessen, dass sie gerade aus der Erfahrung einer Krise geboren wurden.

Löst sich aber das Woraufhin auf, verliert die Gegenwart ihren Richtungspfeil. So lässt sich beschreiben, was gegenwärtig stattfindet. Ich möchte es mit einem Beispiel veranschaulichen. Viele kennen aus Jugendzeit oder verbandlichen Engagements das Motto: "Global denken, lokal handeln." Es war in den neuen sozialen Bewegungen, in entwicklungspolitischen Kreisen und Eine-Welt-Gruppen verbreitet, und darüber hinaus. Die Idee lautete: Auch wenn wir mit unserem Handeln nicht direkt die Welt verändern können, so trägt es doch dazu bei, auf längere Sicht genau das zu bewirken: die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Man war zum konkreten Handeln in der eigenen Lebenswelt motiviert, weil man wusste, dass dies ein kleiner Schritt sein würde auf ein größeres Ziel hin. Das größere Ziel stand zwar noch aus, aber es bildete den ideellen Fixpunkt und trug verschiedene Namen: weltweite Gerechtigkeit, faire Nord-Süd-Beziehungen, Gleichberechtigung, umfassende Teilhabe... Die Menschenrechte konnten als die säkulare, rechtlich konkret werdende Übersetzung dieser Werte und Ideale gelten.

Die Menschenrechte sind in Verruf geraten. Sie werden lächerlich gemacht als ein Schönwetter-Projekt, gut für konfliktfreie Zeiten, aber ungeeignet in Zeiten der Krise. Wer die Probleme der Gegenwart wirklich ernst nehmen wolle, der müsse sich sogar über sie hinwegsetzen – so etwa die Position der "imperial presidency", mit der amerikanische Verfassungsjuristen die Durchsetzung des MAGA-Staates von Donald Trump rechtfertigen. Wenn in der amerikanischen Demokratie mittlerweile so argumentiert wird, hat das Auswirkungen weltweit. Die Währung der Menschenrechte ist im freien Fall.

"Unterboden" der Zivilisation

Eines gerät dabei aus dem Blick: Als die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen –unter der Leitung von Eleanor Roosevelt, vormalige First Lady der USA – ausgearbeitet und dann 1948 verabschiedet wurde, befand sich die Welt in einer vielleicht noch größeren Krise als dies heute der Fall ist. Die Menschenrechte sollten eben dieser Krise begegnen. Nach dem Zivilisationsbruch der Schoah und als Antwort auf Schrecken und Terror des Zweiten Weltkrieges setzte sich die Einsicht durch: Wir brauchen so etwas wie einen "Unterboden" der Zivilisation, der unabhängig von Ethnie, Weltanschauung und sonstigen Unterschieden der Gesellschaften weltweit definiert, was allen gemeinsam ist und woran man sich minimal zu halten hat.

Die Menschenrechte sind also aus der Erfahrung der Krise geboren. Sie haben den Anspruch, inmitten von Konflikt und unterschiedlichen Interessen ein zwar grobmaschiges, aber eben existierendes Netz der Verständigung zu erhalten, mit dem verhindert werden kann, dass die Welt noch einmal so in sich zusammenstürzt und ganze Bevölkerungsgruppen den Preis dafür bezahlen müssen, wie dies in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Fall war. In den diversen Menschenrechtsdokumenten ist auch für den Fall vorgesorgt, dass es Staaten im extremen Fall, wenn es etwa um ihr eigenes Fortbestehen geht, gestattet ist, diese Rechte einzuschränken oder sogar zeitweise aufzuheben (so etwa Artikel 4 des wichtigen UN-Paktes über die bürgerlichen und politischen Rechte von 1966, sowie Artikel 29 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948).

Bild: ©Vatican Media/Romano Siciliani/KNA (Archivbild)

Der Papstwechsel in diesem Jahr hat für weltweites Aufsehen gesorgt, schreibt Daniel Bogner. "Es gab eine Erwartung und eine Hoffnung, dass diese Persönlichkeit eine Instanz der Einheit und des Zusammenhaltens sein könnte – inmitten einer Welt, die immer mehr auseinandertreibt."

Die Menschenrechte haben ihre eigenen Grenzen also bereits mitgedacht. Es ist ein Trugschluss, in ihnen das Instrument eines uferlosen Weltverbesserungsidealismus auszumachen. Sie sind aus der Krise geboren und wollen sich in der Krise bewähren. Genau das wird ihnen heute bewusst abgesprochen. Es ist deshalb notwendig, mit aller Deutlichkeit darauf hinzuweisen, dass jeweils Interessen von Beherrschung und Dominanz hinter einer solchen Brandmarkung der Menschenrechte stehen.

Der Papstwechsel in diesem Jahr hat neben der religiös-spirituellen eine weitere Dynamik offenbart. Weltweit war großes Interesse daran zu spüren, wen die Katholische Kirche für ihr höchstes Amt bestimmen würde. Es gab eine Erwartung und eine Hoffnung, dass diese Persönlichkeit eine Instanz der Einheit und des Zusammenhaltens sein könnte – inmitten einer Welt, die immer mehr auseinandertreibt. Dahinter steht wohl der Wunsch, der Katholizismus mit seinem Papstamt möge einen Dienst an der Einheit der Menschheitsfamilie erbringen, wie er heute von kaum einem Akteur ähnlich erbracht werden kann und doch so nötig ist. Spaltung, Konflikt und Krieg beherrschen eine Welt, die Unterschiede nicht als Reichtum begreift, sondern als Grund für immer weitergehende Abgrenzungen. Der Papst möge, so durfte man die Hoffnung interpretieren, als eine Stimme wirksam werden, die mitten in Krieg, Konflikt und Krise festhält an dem, was verbindet, was allen Menschen gemeinsam ist, was das Menschsein ausmacht.

Der besondere Wert des römisch-katholischen Kirche-Seins

Ohne jeden Triumphalismus könnte man hierin eine Chance des katholischen Christentums ausmachen: Dass es eine Instanz ist, die zu Gehör bringt, was gesagt werden muss; die daran erinnert, was gilt. Der besondere Wert des römisch-katholischen Kirche-Seins liegt vielleicht auf sozialethischem Gebiet: In einer Lage, in der durch Populismus und Fake-News-Ideologie die Wahrheitsrede und damit der Blick auf die Wirklichkeit verabschiedet wird, existiert eine Instanz, die über den Partisanenkämpfen der Einzelinteressen und Machtansprüche steht. Eben weil es die Stimme einer wirklichen Welt-Kirche ist. Die Spannungen dieser Welt und ihre Vielfalt werden von einer solchen Stimme aufgenommen und integriert. Sie kann, wenn sie ihre Rolle verantwortlich wahrnimmt, gerade deswegen Glaubwürdigkeit und auch Gehör von unterschiedlichen Seiten gewinnen.

Hinter dieser Beobachtung steht ein Grundzug des Christentums. Es ist der Anspruch, das Christentum spreche nicht einfach nur als Lobbyist in eigener Sache, für die Anliegen der eigenen Organisation, sondern für ein universales Anliegen, dem es verpflichtet ist und das weit über die Interessen der eigenen Institution hinausgeht. Dieses Anliegen ist Wert und Würde jedes einzelnen Menschen. Hier ist Vorsicht angesagt, denn oft wurde solche Anwaltschaft enggeführt und vermengt mit zeitbedingten Interpretationen dieses Anliegens. Die Prinzipien, die man verteidigen wollte, wurden über-konkret ausgelegt und damit neue Ausgrenzungen bewirkt. Vor allem aber ging man lange Zeit davon aus, den exklusiven Zugang zu den universalen Werten zu haben, die man vertritt.

In der Welt von heute kann der universalistische Ansatz von Katholizismus und Christentum aber auch eine Chance sein. Der Kursverlust der Leitwährung, welche die Menschenrechte bislang waren, zeigt dies an. Dringend braucht es Kräfte, die verteidigen und mit neuer Kraft ausstatten, was alle angeht und allen gemeinsam ist. Hierfür eine Stimme zu sein, ist die Aufgabe, der sich eine universale Kirche widmen sollte. Auch wenn sie nach ihrem eigenen Versagen (Missbrauch, Ausgrenzungen und Herrschsucht) ihre Rolle für diese Aufgabe nochmals neu justieren muss. Man hat den Eindruck, Papst Leo ist gerade schon dabei.

Von Daniel Bogner

Buchtipp

Heiner Bielefeldt, Daniel Bogner: Menschenrechte nach der Zeitenwende. Gründe für mehr Selbstbewusstsein. Verlag Herder, Freiburg 2025, 176 Seiten, 22 Euro. ISBN: 978-3-451-10275-2