Zum Welt-Alzheimertag – Thema wird in Kirche noch oft verdrängt

Leben mit Demenz: Mitten im Vergessen ist der Glaube noch da

Veröffentlicht am 21.09.2025 um 12:00 Uhr – Von Gabriele Höfling – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die Sprache versagt, aber das Kreuzzeichen wird erkannt: Der Glaube kann Menschen mit Demenz im Meer aus Vergessen ein Anker sein. Warum viele Gemeinden im Umgang mit der Krankheit dennoch überfordert sind, erklären die Theologen Sonja Sailer-Pfister und Bernd Trost im katholisch.de-Interview.

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Eine Demenz-Diagnose verändert für Betroffene und ihre Angehörigen alles. Was mit Erinnerungslücken im Kurzzeitgedächtnis beginnt, endet bei vielen Patienten mit dem Verlust der kognitiven Fähigkeiten. Auch der Glaube verändert sich. Theologin Sonja Sailer-Pfister und Diakon Bernd Trost aus dem Bistum Limburg arbeiten in der Seelsorge mit Menschen mit Demenz. Zum Welt-Alzheimertag haben sie mit katholisch.de über Chancen und Grenzen einer Demenz-Seelsorge gesprochen.

Frage: Herr Trost, was macht Demenz mit dem Glauben von betroffenen Menschen?

Trost: Durch die demenzielle Veränderung kommt es unter anderem, beginnend mit dem Kurzzeitgedächtnis, zu einem fortschreitenden Verlust des Erinnerungs- und Orientierungsvermögens. Was aber, bildlich gesprochen, zuerst auf die Festplatte kam, wird zuletzt wieder gelöscht. Religiöse Prägung findet in der Regel schon in der Kindheit statt, der Glaube begleitet Menschen ihr Leben lang. Deshalb bleibt er sehr lange erhalten. Menschen, die aufgrund der demenziellen Veränderung kaum noch sprechen können, reagieren zum Beispiel noch auf ein Kreuzzeichen. Über religiöse Rituale können sie sich also noch lange selbst in ihrem Menschsein erfahren.

Frage: Wie ist der Zusammenhang zwischen Spiritualität und Demenz, Frau Sailer-Pfister?

Sailer-Pfister: Menschen mit demenzieller Erkrankung behalten ihre Spiritualität bei. Nur die Formen und Ausdruckweisen ändern sich. Spiritualität wird über die Sinne zugänglich, über Musik, Gerüche und Symbole. Weihrauchduft oder vertraute Kirchenlieder lösen bei Menschen mit Demenz oft etwas aus.

Diakon Bernd Trost im Portrait
Bild: ©privat

Diakon Bernd Trost leitet das Franziska Schervier Seniorenzentrum in Frankfurt am Main.

Frage: Was bedeutet eine Alzheimer-Diagnose für Betroffene?

Trost: Sie ist wie ein Schlag ins Gesicht. Alle Zukunftspläne sind von einem Moment auf den nächsten verpufft. Freundschaften pflegen, an Gottesdiensten und am Gemeindeleben teilnehmen – all das wird massiv eingeschränkt. Partner und Familien sind ebenfalls betroffen. Sie stellen sich bange Fragen: Was, wenn der kranke Partner sich in der Öffentlichkeit auffällig benimmt? Was, wenn der Moment gekommen ist, an dem er mich nicht mehr erkennt?

Sailer-Pfister: Das größte Bedürfnis gerade von Angehörigen ist, mit den eigenen Ängsten ernstgenommen zu werden. Geschieht das nicht, ist die Gefahr groß, dass sie sich aus Scham zurückziehen. Angehörige sollten auch die Sorge für sich selbst nicht vergessen. Vor ihnen liegt ein langer, steiniger Weg. Es gibt Hilfestellungen bei den Alzheimer-Gesellschaften, der Caritas und anderen Institutionen.

Frage: Wie weit ist die Kirche schon in Bezug auf eine eigene DemenzSeelsorge?

Sailer-Pfister: Auf Ebene von Bischofskonferenz gibt es eine AG Demenz und in den Bistümern gibt es Ansprechpartner. Es gib Leuchtturmprojekte wie etwa die Fachstelle Demenz im Erzbistum München.  Im Rahmen der Nationalen Demenzstrategie, die die Bundesregierung 2020 ins Lebens gerufen hat, wurde auch in den beiden Kirchen das Bewusstsein für diese Thematik geschärft. Zu oft wird das Thema aber verdrängt.

Trost: Dabei sprechen wir von einem zentralen Thema der Seelsorge. Rund 1,8 Millionen Menschen in Deutschland haben eine Demenzdiagnose, hinzu kommt eine große Dunkelziffer. Wenn etwa ein Viertel der Bevölkerung katholisch ist, dann betrifft Demenz in unseren Gemeinden mindestens eine halbe Million Menschen. Diese Relevanz muss an vielen Stellen erst noch ankommen.

Frage: Warum tun sich Kirche und Gemeinden da schwer?

Trost: Sich mit Demenz auseinanderzusetzen, heißt in einen Spiegel zu schauen, der möglicherweise die eigene Zukunft zeigt. Das macht vielen Menschen Angst.

Sailer-Pfister: Wir sind Teil einer Gesellschaft, die auf Unabhängigkeit und Autonomie setzt. Demenz konfrontiert uns mit Verletzlichkeit und Endlichkeit. Eine Demenzerkrankung ist äußerst schambehaftet. Auch das Wissen über Demenz und die Akzeptanz dieser Krankheit ist anders als etwa bei Krebserkrankungen noch nicht sehr ausgeprägt. Deswegen sind Gemeinden häufig überfordert und hilflos im Umgang mit Betroffenen.

Sonja Sailer-Pfister im Portrait
Bild: ©privat

Die promovierte Theologin Sonja Sailer-Pfister ist Referentin für Altenpflegepastoral im Bistum Limburg.

Frage: Wie können Gottesdienste für Menschen mit Demenz gestaltet werden?

Trost: Sie sollten möglichst konkret und plastisch sein. Alle Sinne sollten angesprochen werden: Ein Kräuterstrauß an Mariä Himmelfahrt passt wunderbar. Bei Lesung oder Evangelium genügen kurze Abschnitte, eine Predigt würden den Rahmen sprengen – ein Gedanke genügt. Der Gottesdienst sollte möglichst nicht im Gemeindezentrum, sondern in der Kirche stattfinden: der Sakralraum, liturgische Kleidung, auch gottesdienstliche Formeln, das ist alles vertraut für Menschen, die mit dem katholischen Glauben aufgewachsen sind. Zehn bis zwanzig Minuten reichen. Menschen mit Demenz zeigen sehr klar, wenn ihnen etwas zu lange dauert.

Frage: Was können Kirchengemeinden tun, um noch demenzsensibler zu werden?

Sailer-Pfister: Unsere großen Gemeindestrukturen sind da leider nicht immer gut geeignet. Wenn man sich untereinander nicht mehr kennt, fällt es auch nicht auf, wenn Menschen plötzlich wegbleiben. Ehrenamtliche Besuchsdienste können eine Verbindung schaffen. Die AG Demenz der Bistümer Limburg und Mainz und die Evangelische Kirche in Hessen-Nassau (EKHN) hat eine Toolbox mit Ideen entwickelt, wie in Gemeinden demenzsensible Seelsorge konkret aussehen kann. Ganz wichtig ist, und das ist der schwierigste Schritt, überhaupt erstmal ein Bewusstsein für diese Thematik zu schaffen. Vernetzung hilft: gibt es in der Nähe eine Demenzberatungsstelle oder eine stationäre Pflegeeinrichtung, die man bitten kann, über die Thematik zu informieren. Kontakte dahin aufzunehmen, wäre gar nicht so ein großer Aufwand. Vor allem merkt man dann, man ist mit dieser Herausforderung nicht allein und kann sich gegenseitig unterstützen.

Frage: Welche konkreten Tipps geben Sie mit der Toolbox, wie Gemeinden mit Menschen mit Demenz umgehen können?

Sailer-Pfister: Die Box enthält Vorschläge für einen Themen- oder Filmabend in der Gemeinde, gibt Anregungen für inklusive Veranstaltungen wie einen Projektchor und enthält auch Tipps zur Kommunikation mit Menschen mit Demenz. Auch die Vorlage für eine Postkartenaktion gehört dazu. Die Karten können im Gottesdienst verteilt werden und auf eine inklusive Veranstaltung hinweisen oder mit einem lieben Gruß an Angehörige geschickt werden.

Frage: Müsste das Thema Demenzsensibilität auf andere Ebene stattfinden als in ohnehin schon überforderten Gemeinden?

Trost: Aus meiner Sicht gehört es genau dort hin. Wir leben nun mal in einer sehr stark alternden Kirche. Alte Menschen sind diejenigen, die Sonntag für Sonntag in die Kirche kommen, solange es ihnen nur irgend möglich ist. Sie auszugliedern hieße, das Gemeindeleben aus der Gemeinde auszugliedern. Alter ist kein Randthema, sondern die Folie, auf der Kirche heute stattfindet.

„Sich mit Demenz auseinanderzusetzen, heißt in einen Spiegel zu schauen, der möglicherweise die eigene Zukunft zeigt.“

—  Zitat: Diakon Bernd Trost

Frage: Gibt es theologische Fallstricke etwa bei der Kommunion, die nach kirchlicher Lehre Menschen vorenthalten ist, die verstehen, was da passiert?

Trost: Diese Argumentation um Menschen mit Demenz die Kommunion vorzuenthalten, überzeugt mich nicht. Nochmal: Viele sind ihr Leben lang von der Kirche geprägt. Die Bedeutung der Eucharistie hat sich ihnen seit dem Kindesalter eingeprägt. Bei so manchen jüngeren Menschen erntet man bei der Frage nach ihrem Eucharistieverständnis dagegen nur Stammeln und Stottern.

Sailer-Pfister: Als Christen glauben wir, dass wir die ungeteilte Menschenwürde haben. Wir sind immer Gottes Ebenbilder, ob dement oder nicht. Ich finde diese Diskussion gerade aus theologischer Sicht befremdlich.

Frage: Was sind Ihre Forderungen für die nächsten Schritte hin zu einer demenzsensiblen Kirche?

Trost: Ich wünsche mir, dass es in den Pastoralteams der Gemeinden einen festen Ansprechpartner gibt, der für das Thema zuständig ist. In jeder Gemeinde gibt es jemanden, der zuständig ist für Jugendarbeit, selbst wenn es kaum Jugendliche gibt. Alte und demente Menschen gehören aber auch dazu! Wer lädt sie zum Gemeindefest ein? Wer holt sie ab? Das ist keine Zusatzaufgabe, sondern Kern gemeindlichen Lebens. 

Von Gabriele Höfling

Ideen für einen Gottesdienst für Menschen mit Demenz

Die promovierte Theologin Sonja Sailer-Pfister ist Referentin für Altenpflegepastoral im Bistum Limburg. Diakon Bernd Trost leitet das Franziska Schervier Seniorenzentrum in Frankfurt am Main. Beide engagieren sich in der ökumenischen AG Demenz der Bistümer Limburg und Mainz sowie der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Zum Internationalen Alzheimer-Tag hat die AG eine Arbeitshilfe mit konkreten Vorschlägen für den Ablauf eines Gottesdienstes veröffentlicht: