Warum Papst Leo XIV. enttäuschen muss
In Dostojewskis Roman "Der Idiot" begegnet die Petersburger Gesellschaft einem Heimkehrer, Fürst Myschkin, mit schnellen Urteilen. Weil er nicht in ihre Kategorien von Stärke und Macht passt, gilt er rasch als zu still, zu schwach, zu weltfremd. Man sieht in ihm nur das Defizit, nicht die Möglichkeit einer anderen Form von Präsenz. Doch gerade darin liegt die Pointe des Romans: Was als Schwäche erscheint, entpuppt sich als eine andere, tiefere Weise, auf die Wirklichkeit zu reagieren. Dostojewski zeigt literarisch, wie vorschnelle Urteile entstehen – und wie schwer sie später wieder zu korrigieren sind.
Nicht viel anders steht es im Augenblick mit Papst Leo XIV. Kaum ein halbes Jahr im Amt, scheinen viele bereits zu wissen, wohin die Reise geht: kein Aufbruch, kein Mut, kein Signal. Schlagzeilen, Kommentare, Leitartikel wiederholen das Urteil – als sei das Pontifikat schon zu Ende, noch bevor es überhaupt begonnen hat. In manchen Analysen klingt es, als müsse man den Versuch gar nicht mehr machen, Leo XIV. als Hoffnungsträger ernst zu nehmen. Das Urteil lautet: ein Mann der Kontinuität, ein Bewahrer alter Strukturen, zu wenig kompromisslos in seinen Entscheidungen, zu vorsichtig in seinen Worten.
Doch diese Enttäuschung sagt weniger über den Papst selbst als über jene, die enttäuscht sind. Denn Enttäuschung ist keine neutrale Diagnose, sondern der Moment, in dem eine Illusion zerbricht. Niklas Luhmann hat betont, dass Enttäuschungen "Kommunikationsereignisse" sind: Sie machen sichtbar, welche Erwartungen zuvor aufgebaut wurden. Wer enttäuscht ist, legt damit offen, welche Sehnsüchte und Bilder er projiziert hat – und welche Erwartungen sich nicht erfüllen konnten.
Illusionen und ihre Kehrseiten
Die katholische Kirche ist eine Meisterin darin, solche Projektionen zu erzeugen. Seit Jahrhunderten wird das Papstamt nicht nur als Leitungsfunktion verstanden, sondern symbolisch überhöht – als Verkörperung der Einheit, ja manchmal sogar als Verkörperung der Kirche selbst. Jeder Papst tritt ein Amt an, das bereits durch historische Lasten und kulturelle Zuschreibungen mit Erwartungen überfrachtet ist.
Jeder Papst wird zur Projektionsfläche für Sehnsüchte, die weit über das hinausgehen, was ein Mensch erfüllen kann. Sigmund Freud hätte von Projektion gesprochen – der unbewussten Übertragung eigener Wünsche auf eine fremde Gestalt. Hans Blumenberg wiederum erinnert in seiner "Arbeit am Mythos" daran, dass Illusionen eine anthropologische Funktion haben: Sie bieten Orientierung, geben Halt, strukturieren Hoffnungen. Doch wenn die Realität diese Illusionen nicht einlöst, kippt der Traum in Enttäuschung.
"Die Frage ist nicht, ob der Papst 'scheitert', sondern ob unsere Maßstäbe überhaupt sinnvoll sind", schreibt Andreas G. Weiß in seinem Gastbeitrag. Er ist Religionswissenschaftler und Theologe.
Von Leo XIV. erwartete man gleichsam ein Wunder. Viele hofften, er werde die festgefahrenen Debatten um Sexualmoral, Frauenordination oder den Pflichtzölibat im Handstreich lösen. Andere sahen in ihm den charismatischen Visionär, der die Kirche aus ihrer Glaubwürdigkeitskrise herausführen würde. Wer derart überhöhte Bilder entwirft, muss enttäuscht werden. Reinhold Niebuhr hat dies nüchtern beschrieben: Übersteigerte Erwartungen an Institutionen oder Führungsfiguren führen zwangsläufig ins Scheitern, weil sie menschliche und strukturelle Begrenzungen ignorieren. Enttäuschung ist daher weniger ein Scheitern des Papstes als vielmehr die Rückkehr der Wirklichkeit nach einer Phase kollektiver Selbsttäuschung.
Ist diese Dynamik neu? Keineswegs. Schon Papst Franziskus hat sie erlebt. Der Beginn seines Pontifikats stand unter dem Zeichen der Euphorie: ein "Papst der Armen", ein Hirte, der mit einfachen Gesten – Verzicht auf prunkvolle Gewänder, spontane Begegnungen mit Menschen – eine Kirche der Nähe verkörperte. Manche sprachen von einem neuen Frühling, von einer Revolution, die die Kirche grundlegend verwandeln würde. Doch Jahre später überwogen Stimmen der Ernüchterung: Die Strukturen blieben, die Machtkämpfe in der Kurie blockierten Reformen, die großen Schritte kamen nicht.
Ernüchterung in den ersten Monaten
Im Fall von Leo XIV. zeigt sich ein ähnliches Muster, nur zeitlich verschoben. Statt nach Jahren erleben wir die Ernüchterung schon in den ersten Monaten. Die Mechanik bleibt dieselbe: Projektion – Überhöhung – Enttäuschung. Die Frage ist nicht, ob der Papst "scheitert", sondern ob unsere Maßstäbe überhaupt sinnvoll sind. Charles Taylor hat in seinem Werk "Ein säkulares Zeitalter" darauf hingewiesen, dass moderne Gesellschaften besonders anfällig sind für Authentizitätserwartungen. Wir verlangen von Führungspersonen, dass sie "echt" sind, dass sie unsere Sehnsucht nach Erneuerung verkörpern. Doch gerade dieser Hunger nach dem Authentischen ist selbst eine Projektion, die in der Realität oft nicht eingelöst werden kann.
Die Folge ist vorgezeichnet: Ernüchterung. Und aus der Ernüchterung wird nicht selten Zynismus. Die Gefahr liegt darin, dass man ein Pontifikat abschreibt, bevor es sich überhaupt entfalten kann. Man macht denselben Fehler, den Dostojewski literarisch vorgeführt hat: Man urteilt zu früh, misst an falschen Maßstäben und verwechselt die Projektion mit der Realität.
Psychiater Lütz: Papstamt ist menschlich gesehen Überforderung
Gebildet, vielseitig, fromm: Der Papst soll nicht weniger sein als die sprichwörtliche eierlegende Wollmilchsau. Psychiater Manfred Lütz hält das für eine Überforderung. Doch das Amt könne ungeahnte Kräfte wecken.
Noch stärker wird die Schieflage, wenn man den globalen Horizont der Kirche in den Blick nimmt. In Europa sind die Erwartungen klar: Reformen in Fragen der Sexualmoral, Geschlechtergerechtigkeit, Machtstrukturen. In Afrika hingegen stehen andere Prioritäten im Vordergrund: Stabilität, Treue zur Tradition, die klare Abgrenzung gegenüber wachsendem Protestantismus und Islam. In Lateinamerika wiederum dominiert das soziale Anliegen: die Option für die Armen, die Kirche als Anwältin der Entrechteten.
Eigentlich müsste eine weltumspannende Kirche in der Lage sein, diese Ungleichzeitigkeiten nicht nur zu benennen, sondern in produktive Spannung zu überführen. Doch genau daran scheitert sie immer wieder. Die katholische Universalität, die im Ideal alles in sich vereint, erweist sich im Vollzug als Überforderung. Es fehlt die Fähigkeit, in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, in asynchronen Bewegungen zu denken und zu handeln. Stattdessen dominiert die Erwartung, dass Rom eine einzige, für alle verbindliche Richtung vorgibt.
Die Logik der Schlagzeilen
Damit gerät das Papstamt selbst in eine Zerreißprobe. Der Papst soll zusammenhalten, was auseinanderstrebt, und zugleich vermitteln, was in vielen Fragen unvereinbar wirkt. Er trägt den Druck, Gegensätze zu synchronisieren, die sich vielleicht gar nicht versöhnen lassen. Die Enttäuschung an seiner Person ist damit unausweichlich: Sie ist weniger ein Scheitern des Amtsinhabers als vielmehr ein Symptom für die strukturelle Überforderung eines Amtes, das Einheit garantieren soll, während die Vielfalt längst unüberschaubar geworden ist.
Zu der inneren Überforderung des Papstamtes tritt die Dynamik der Medien, die mit einer beinahe gnadenlosen Geschwindigkeit Urteile produziert. Kaum ist ein Satz gefallen, wird er weltweit kommentiert, in soziale Medien eingespeist, aus dem Zusammenhang gerissen oder überhöht. Die Logik der Schlagzeilen verlangt nach Eindeutigkeit: ein klarer Bruch mit der Vergangenheit, eine große Geste, ein historischer Satz. Erst dann gilt eine Figur als handlungsfähig.
Marshall McLuhan hatte mit seinem Diktum "The medium is the message" eine Einsicht formuliert, die für das Papsttum heute fast schicksalhaft wirkt: Nicht der Inhalt zählt, sondern die Form, in der er verbreitet wird. Und diese Form bevorzugt das Spektakuläre, das Sofortige, das Symbolische. Die katholische Kirche hingegen denkt – zumindest ihrem Selbstverständnis nach – in Jahrhunderten, nicht in Newszyklen. Genau dieser Widerspruch erzeugt ein Spannungsfeld: Was langsam wachsen müsste, soll sofort sichtbar werden.
"Leo XIV. enttäuscht viele, weil er nicht sofort liefert", schreibt Andreas G. Weiß. "Doch vielleicht erinnert er uns damit ungewollt daran, dass in der Kirche keine Quartalsberichte zählen."
So entsteht eine paradoxe Situation: Die Kirche predigt Geduld und Beharrlichkeit, doch sie agiert in einer Welt, die Ungeduld erzwingt. Dieses Auseinanderklaffen verschärft nicht nur die mediale, sondern auch die innerkirchliche Spannung. Denn was im Augenblick nicht sichtbar wird, erscheint den Gläubigen wie ein Nichtereignis – und Nichtereignisse sind im medialen Zeitalter das größte Ärgernis.
Genau hier verdichten sich die Bruchlinien. Das Papsttum ist in seiner Symbolkraft überhöht – als Garant der Einheit, als Verkörperung der katholischen Universalität, als moralische Stimme in einer fragmentierten Welt. Gleichzeitig wird es durch die mediale Beschleunigung und die globalen Ungleichzeitigkeiten in eine Rolle gedrängt, die es strukturell nicht erfüllen kann.
Die Kunst des Wartens
Das Ergebnis ist ein Zerriss. Das Papstamt wird zur Projektionsfläche unvereinbarer Ansprüche: Es soll den Traditionalisten Gewissheit geben und den Reformern Hoffnung, den Globalen Süden stärken und zugleich den Norden beruhigen, prophetisch reden und diplomatisch schweigen. All das zusammen ist schlicht nicht leistbar. Der Papst wird dadurch nicht nur zum Bischof von Rom, sondern zum Blitzableiter einer weltumspannenden Kirche, die ihre eigene Pluralität kaum erträgt.
Damit öffnet sich der Blick auf eine andere Haltung, die jenseits der Kategorien von "Erfolg" und "Scheitern" liegt. Hannah Arendt hat mit dem Begriff der "Natalität" eine Pointe gesetzt, die für die Kirche von großer Bedeutung ist: Das Neue entsteht nicht durch Planung und Kontrolle, sondern durch das Risiko und den Mut zum Anfang. Doch Anfänge brauchen Zeit, um sichtbar zu werden. Sie sind nicht sofort erkennbar, sie offenbaren sich oft erst rückblickend.
„Das Urteil über ihn ist weniger ein Spiegel seines Handelns als ein Spiegel menschlicher Erwartungen.“
Leo XIV. enttäuscht viele, weil er nicht sofort liefert. Doch vielleicht erinnert er uns damit ungewollt daran, dass in der Kirche keine Quartalsberichte zählen. Die Irritation durch ihn könnte so zum geistlichen Memento werden: Sie zeigt, dass Illusionen zerbrechen müssen, damit Hoffnung realistisch werden kann.
Am Ende bleibt die entscheidende Wendung: Das Bild von Papst Leo XIV. muss nicht "gerettet" werden, weil das oftmals hoch gehaltene Bild ihm niemals entsprochen hatte. Das Urteil über ihn ist weniger ein Spiegel seines Handelns als ein Spiegel menschlicher Erwartungen. Die Ungeduld, die Illusionen, die vorschnellen Urteile – sie sagen mehr über die hochkomplexen kirchlichen Realitäten, die unterschiedlichen Geschwindigkeiten ekklesialer Vollzüge und die divergenten religionspolitischen Lagerbildungen aus als über ihn. Möglicherweise erkennt der eine oder die andere in den Rissen verlorener Sehnsüchte einfach nur einen Teil eigener Ohnmacht und Hinfälligkeit.
Einheit meint nicht Synchronität
Vielleicht liegt aber genau darin eine paradoxe Chance. Ein Papst, der die Überforderungen des Amtes offenbart, der keine Illusionen erfüllt, zwingt uns, erwachsener zu werden im Glauben. Er macht sichtbar, dass Katholizität nicht im nahtlosen Zusammenfall von Erwartungen besteht, sondern im Aushalten von Differenzen. Er zeigt, dass Einheit nicht Synchronität meint, sondern die Fähigkeit, Spannungen nicht sofort aufzulösen.
Das ist kein glamouröses Programm. Es ist keine mitreißende Erzählung, die Schlagzeilen füllt. Aber es ist vielleicht genau das, was die Kirche heute am dringendsten braucht: den Mut, nicht alles sofort in eine Erzählung des Gelingens zu verwandeln, sondern die Realität der Ungleichzeitigkeiten auszuhalten – und darin eine Hoffnung zu bewahren, die stärker ist als jede Illusion.
