Über den Verlust religiöser Sprache in der Öffentlichkeit

Auf dem religiösen Auge blind

Veröffentlicht am 12.10.2025 um 12:00 Uhr – Von Andreas G. Weiß – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die Auseinandersetzungen um Herbert Kickls Rede in Salzburg sind symptomatisch für viele Teile Europas und der christlichen Kirchen. Der Religionswissenschaftler und Theologe Andreas G. Weiß blickt in seinem Gastbeitrag hinter die tagespolitischen Debatten.

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Es war eine jener Reden, die sich schwer einordnen lassen: politisch in der Absicht, religiös in der Form. Als FPÖ-Obmann Herbert Kickl Ende September in Salzburg auftrat, wählte er eine Sprache, die unverkennbar mit religiösen Anklängen spielte. Worte wie "Sendung", "Verrat" und "Reinheit" tauchten auf. Schließlich folgten im Zentrum seiner Ansprache jene drei Begriffe, die im Nachklang dieses Auftritts zum Zankapfel wurden: Glaube, Hoffnung, Liebe.

In dieser Parteitagsatmosphäre lag mehr als Wahlkampf: Der Rekurs auf das "christliche Abendland", die rhetorische Selbstvergewisserung als Hüter des Glaubens, die Abgrenzung vom vermeintlich "Fremden" - all das formte eine Inszenierung, die religiöse Symbolik in politische Erregung übersetzte. Die Reaktionen folgten rasch. Salzburgs Erzbischof Franz Lackner warnte öffentlich: "Wenn Religion parteipolitisch vereinnahmt und instrumentalisiert wird, droht aus Glaube Zweifel, aus Hoffnung Angst und aus Liebe Hass zu werden." Er erinnerte an das seit 1952 gültige Leitwort der österreichischen Bischöfe von der "freien Kirche in einem freien Staat" – und mahnte, diese Trennung nicht durch eine religiöse Überhöhung parteipolitischer Ziele zu unterlaufen.

Auch die Präsidentin der Katholischen Aktion Salzburg, Elisabeth Mayer, fand deutliche Worte: "Volkskanzler und Völkerapostel sind nicht unter einen Hut zu bringen." Das Schüren von Ängsten, so Mayer, gehöre ebenso wenig zur frohen Botschaft des Evangeliums wie das Überhöhen der eigenen Position über andere. Was sich hier entzündet, ist mehr als ein Streit zwischen Kirche und Partei. Es ist ein Symptom für eine tiefere Verschiebung: Religion taucht im politischen Raum kaum noch als lebendige Deutungskraft auf – sondern nur noch, wenn sie zum Werkzeug wird.

Europas religiöse Sprachlosigkeit

Max Weber sprach einst von der "religiösen Unmusikalität" moderner Gesellschaften. Was er damit meinte, zeigt sich heute deutlicher denn je: In weiten Teilen Europas hat das religiöse Denken seinen Resonanzraum verloren. Die politische und mediale Öffentlichkeit reagiert auf religiöse Sprache mit Befremden oder Schweigen, als handle es sich um eine fremde Dialektform.

Das Ergebnis ist eine eigentümliche Leerstelle. Religion gilt als Privatsache – und fehlt damit dort, wo sie einst eine gemeinsame kulturelle Grammatik bildete. Was nicht mehr verstanden wird, lässt sich auch nicht mehr hinterfragen. In dieser Sprachlosigkeit liegt die eigentliche Gefahr: Denn wer religiöse Zeichen nicht mehr deuten kann, ist ihrer Instrumentalisierung schutzlos ausgeliefert.

FPÖ-Chef Herbert Kickl
Bild: ©picture alliance / HELMUT FOHRINGER / APA / picturedesk.com | HELMUT FOHRINGER

Als FPÖ-Obmann Herbert Kickl Ende September in Salzburg auftrat, wählte er eine Sprache, die unverkennbar mit religiösen Anklängen spielte.

Im politischen Diskurs Europas sind Begriffe wie "Makel", "Gnade", "Vergebung" oder "Erlösung" längst verschwunden. Je stärker die religiösen Wurzeln dieser Konzepte jedoch verblassen, desto leichter lassen sie sich neu besetzen – mit nationalen, kulturellen oder ideologischen Bedeutungen. Das erklärt, warum bestimmte Bewegungen besonders jene Vokabeln aufgreifen, die andere längst aufgegeben haben. Wer "christliche Werte" beschwört, muss sie nicht mehr theologisch begründen; es genügt, sie als Identitätsmarker zu verwenden. Glaube wird zur Chiffre des Eigenen – und verliert genau dadurch seine geistige Tiefe.

Dies ist kein Zufall. In einer religiös entleerten Öffentlichkeit wirkt die sakrale Geste stärker als das Argument. Je weniger religiöse Bildung vorhanden ist, desto leichter lässt sich die Aura des Heiligen imitieren. Politisch eingesetzte Narrative des Sakralen sollen Wirkung durch Pathos schaffen, nicht durch Argumente oder Plausibilität. So ist die gegenwärtige religiöse Rhetorik nicht Ausdruck eines wiedererwachenden Glaubens, sondern Zeichen seiner Abwesenheit. Sie füllt ein Vakuum, das Gesellschaft, Politik und Kirchen gemeinsam hinterlassen haben. Das ist ein trauriger Befund, aber er beschreibt die Lage ziemlich genau. Was der britische Mathematiker und Philosoph Alfred North Whitehead vor knapp einem Jahrhundert formuliert hat, ist Realität geworden: "Die moderne Welt hat Gott verloren und sucht ihn." (Whitehead, Alfred North, Religion in the Making, New York 1926, 144f.)

Die Leerstelle der Parteienlandschaft

Die vielleicht größte Ironie dieser Entwicklung besteht darin, dass die sakralpolitische Symbolik in der heutigen, säkularen Öffentlichkeit dort besonders laut erklingt, wo sie am wenigsten mit Inhalt gefüllt ist. Die etablierten Parteien Europas, auch in Österreich, haben sich längst auf eine pragmatische Sprachordnung geeinigt, die religiöse Bezüge vermeidet. Doch genau dieses Schweigen bereitet den Boden für jene, die diese Sprache wiederentdecken – nicht aus Glauben, sondern aus Kalkül. Wenn die politischen Akteure der Mitte religiöse Begriffe meiden, verlieren sie nicht nur sprachliche Ausdruckskraft, sondern auch symbolische Tiefe. Der Rückzug aus dem Religiösen ist daher kein neutraler Akt. Er bedeutet den Verzicht auf kulturelle Selbstbeschreibung.

Dabei geht es nicht darum, Religion zu "verstaatlichen" oder Glaubensfragen politisch aufzuladen. Es ginge darum, zu erkennen, dass religiöse Fragehorizonte immer auch zutiefst menschliche Perspektiven beinhalten und gesellschaftliche Deutungen ermöglichen. Eine säkulare Gesellschaft, die Religion nur als Relikt betrachtet, droht sich selbst eines wesentlichen Reflexionsinstruments über Sinn, Schuld, Mitmenschlichkeit, Hoffnung und Zuversicht zu berauben. Je stiller dieser Diskurs wird, desto lauter werden jene, die ihn für sich beanspruchen. Und so geschieht das Paradoxe: Religion wird in die Privatsphäre verbannt, etablierte Parteien schweigen aus Toleranz – und verlieren dadurch das Wort. Es geht nicht darum, dass Parteien religiös auftreten, sondern in der Gesellschaft eine Sensibilität für religiöse Fragehorizonte zu entwickeln.

Kirchen im Dilemma

Auch die Kirchen stehen in diesem Spannungsfeld. Ihre Stimme klingt – doch sie hallt kaum noch wider. Zwischen dem moralischen Anspruch, prophetisch zu reden, und dem institutionellen Zwang zur Neutralität entsteht eine Sprachlosigkeit eigener Art. Lange galt es als Tugend, sich aus parteipolitischen Debatten herauszuhalten. Heute wird genau das zum Problem: Die Religion verliert nicht an Einfluss, weil sie zu laut, sondern weil sie zu leise ist. Wenn kirchliche Verantwortungsträger auf politische Instrumentalisierung reagieren, wie zuletzt Erzbischof Lackner oder Elisabeth Mayer, trifft dies auf eine Öffentlichkeit, die religiöse Semantik nicht mehr versteht – oder sie reflexartig als Einmischung empfindet. 

Andreas Weiß
Bild: ©Privat

Andreas G. Weiß ist Religionswissenschaftler und Theologe. Er schreibt: "Je weniger religiöse Bildung vorhanden ist, desto leichter lässt sich die Aura des Heiligen imitieren."

Das Dilemma ist offenkundig: Wer schweigt, überlässt die Deutungshoheit anderen; wer spricht, riskiert, missverstanden zu werden. Doch Neutralität ist keine Lösung. Es braucht eine neue Art kirchlicher Öffentlichkeit, die nicht moralisierend auftritt. Eine Kirche, die nicht mehr davon ausgeht, dass ihre Sprache verstanden wird, sondern sie immer wieder neu übersetzt – in politische, kulturelle und menschliche Zusammenhänge hinein. Nur so kann sie verhindern, dass das Christentum zur politischen Folklore wird: zu einer Hülle, die jeder füllen darf, der gerade ein Wahlplakat drucken lässt.

Eine neue Religionskompetenz

Wenn religiöse Symbole leer werden, liegt die Verantwortung nicht nur bei denen, die sie missbrauchen, sondern auch bei jenen, die sie nicht mehr zu deuten wissen. Eine demokratische Gesellschaft, die sich ihrer eigenen religiösen Wurzeln schämt, wird anfällig für ihre Parodien. Was also tun? Sicherlich keine Rückkehr zu konfessioneller Politik und auch kein hypermoralisches Aufrüsten gegen Populismen aller coleur. Vielmehr braucht es eine neue religionspolitische Sensibilität als Fähigkeit, religiöse Sprache zu erkennen, zu kontextualisieren und von ihren Missbräuchen zu unterscheiden.

Das wäre keine Privatsache der Theologie, sondern eine Aufgabe politischer Bildung: zu lernen, dass Begriffe wie Gnade, Schuld, Erlösung oder Opfer nicht bloß rhetorische Figuren sind, sondern Formen menschlicher Identitätsdeutung. Wer dies kennt, durchschaut auch, wenn sie verdreht werden. Eine solche Kompetenz könnte auch einer weltanschaulich neutralen Gesellschaft ihre Tiefenschärfe zurückgeben. Denn Religion ist nicht verschwunden – sie ist nur heimatlos geworden. Sie wandert durch politische Reden, durch Medienbilder, durch Schlagworte. Und könnte manchmal als Gespenst gesehen werden. Vielleicht beginnt Religionspolitik im 21. Jahrhundert genau dort: im Wiedererlernen der religiösen Sprache, nicht um zu glauben, sondern um zu begreifen, was andere mit ihr tun. Nur so lässt sich verhindern, dass aus "heiligen Worten" endgültig "leere Hülsen" werden.

Whiteheads Lösungsvorschlag

Was also nun? Eine gottverlorene Welt, die in der Orientierungslosigkeit endet? Nein. Whiteheads Ergänzung klingt wie ein leiser Widerspruch gegen den Lärm der Gegenwart: "Will die moderne Welt zu Gott finden, dann muss sie ihn durch Liebe und nicht durch Angst finden." (4) Diese Wendung benennt nicht nur ein theologisches, sondern auch ein kulturelles Programm. Angst ordnet, grenzt ab, kontrolliert – sie ist die Versuchung der Macht. Liebe dagegen schafft Raum und Beziehung. Sie lässt das Andere gelten, ohne es zu vereinnahmen. Dieser jesuanisch-paulinische Kernbegriff ist so verstanden keine Emotion, sondern eine Form der Verständigung – eine hermeneutische Geste, die selbst am Ort der Zwietracht, des Streits, im Scheitern, im Verstummen, den Funken Hoffnung nicht aufgibt. Sie ist die Sprache, in der das Geheimnis des Glaubens human wird: die Sprache der Menschwerdung, der Mitmenschlichkeit, des "Gott mit uns". 

Vielleicht wird Religion erst dann wieder politisch bedeutsam, wenn sie diese Sprache spricht – nicht als Rückkehr des Sakralen, sondern als Wiederentdeckung des Menschlichen. Denn dort, wo Menschen einander mit Zuversicht begegnen, wird Glaube erkennbar, auch ohne seinen Namen zu nennen. Und dort, wo Liebe stärker ist als Angst, beginnt Gott – mitten in der Welt – von Neuem zu sprechen. 

Von Andreas G. Weiß