Schützt das Kirchenrecht auch Frauen vor Missbrauch?

Nicht nur Kinder, auch Erwachsene – Frauen vor allem, aber auch Männer sowie nicht nur besonders schutzbedürftige Personen – haben im kirchlichen Umfeld Missbrauch erlitten. Statistisch valide Erhebungen gibt es nicht, aber Berichte, Erzählungen von Betroffenen sowie erste Studien. Dabei geht es nicht nur um sexuellen Missbrauch, sondern auch den von Amtsvollmacht und den bei geistlicher Begleitung.
Über eine Pionierstudie der Freisinger Theologin Barbara Haslbeck über Fälle von Ordensfrauen wurde in der vergangenen Ausgabe des "KNA-Hintergrunds" berichtet. An der Universität Münster wird seit einiger Zeit zu geistlichem Missbrauch geforscht. Mit einer besonderen Konstellation von Missbrauch an Frauen befasst sich ein aktuell erschienener Aufsatz in der "Zeitschrift für Kanonisches Recht", die ebenfalls in Münster erscheint.
Kaum erforscht
Die Autorin Katja Zimmermann geht darin der Frage nach, "wie wirksam das kirchliche Strafrecht erwachsene Frauen schützt, die in der römisch-katholischen Kirche von Priestern sexuell und reproduktiv missbraucht wurden". Denn oftmals wurden Frauen, die von einem Priester sexuell missbraucht oder vergewaltigt wurden, in der Folge schwanger – und dann zu einer Abtreibung gezwungen. International bekannter wurden der Skandal durch die Namen prominenter Beschuldigter wie Marko Rupnik, Jean Vanier, Thomas Philippe oder Marie-Dominique Philippe.
Auch wenn, so Zimmermann, die Prävalenz sexuellen und reproduktiven Missbrauchs von Frauen in der Kirche bislang kaum erforscht sei, könnten vorhandene Studien und Erfahrungsberichte jedoch vier Risikofaktoren benennen, die dazu beitrügen, "dass Frauen Opfer sexueller und reproduktiver Gewalt in der Kirche werden: ein Mangel an ausreichenden finanziellen Mitteln und Unterstützung, Machtasymmetrien, und die HIV/AIDS-Pandemie". Die Autorin erinnert daran, dass vatikanische Stellen bereits in den 1990er Jahren zu drei verschiedenen Anlässen von Ordensfrauen öffentlich auf den Missbrauch an Frauen in der Kirche hingewiesen wurden. Nachdem im Jahr 2019 eine Ausgabe des vatikanischen Magazins "Donne, Chiesa, Mondo" dem Thema einen großen Beitrag gewidmet hatte, räumte Papst Franziskus ein, dass es das Problem gebe. Aber die Kirche stelle sich dem.
s sei nicht ganz ersichtlich, so Zimmermann, warum hier sexuelle Gewalt gegen Erwachsene zu einer "reinen Frage der kirchlichen Disziplin" gemacht werde.
Ein Mittel war die 2022 erfolgte Verschärfung des kirchlichen Strafrechts im Codex Iuris Canonici (CIC). Genau dem widmet sich Zimmermann in ihrem Aufsatz eingehender. Sexueller Missbrauch von Erwachsenen ist Codes gemäß den Canones 1395 §3 und 1398 §1 unter Strafe gestellt. Dabei betrifft Canon 1398 nur erwachsene Personen, "deren Vernunftgebrauch habituell eingeschränkt ist oder der das Recht einen gleichen Schutz zuerkennt". Während das erste Kriterium klar sei, besteht laut der Autorin Unklarheit "hinsichtlich der korrekten Einstufung von Erwachsenen, denen 'das Recht einen gleichen Schutz zuerkennt'".
Canon 1395 §3 hingegen gelte für alle erwachsenen Betroffenen, "sofern der Priester den Missbrauch durch 'Gewalt oder durch Drohungen oder Missbrauch seiner Autorität' ermöglicht hat". Es ist laut Zimmermann positiv zu bewerten, "dass die einschlägigen Canones wahrscheinlich alle Fälle abdecken können, in denen ein Erwachsener von sexuellem Missbrauch betroffen ist. Allerdings klassifiziere das kanonische Recht sexuellen Missbrauch unterschiedlich.
Rechtlicher Umweg
Laut Canon 1398 §1 ist es eine "Straftat gegen Leben, Würde und Freiheit des Menschen", unter Canon 1395 §3 hingegen nur eine "Straftat gegen besondere Verpflichtungen" - und keine Verletzung menschlicher Würde. Es sei nicht ganz ersichtlich, so Zimmermann, warum hier sexuelle Gewalt gegen Erwachsene zu einer "reinen Frage der kirchlichen Disziplin" gemacht werde. Den Ausdruck "reproduktiver Missbrauch" verwendet Zimmermann auch, weil sie das kirchliche Strafrecht, wie sie eingangs schreibt, "durch die Linse der europäischen Menschenrechte analysiert". Diese Form von Missbrauch, bei dem die betroffene Frau nicht selbst entscheiden kann bzw. gezwungen wird abzutreiben, ist im kanonischen Recht nicht direkt unter Strafe gestellt. Eine Ausnahme sei die Verfolgung von Zwangsabtreibungen auf der Grundlage von Canones 1397 §2 und 1329 §2. Ansonsten müsse ein rechtlicher Umweg konstruiert werden.
Dabei werde der Missbrauch nicht direkt bestraft, sondern das missbräuchliche Verhalten des Priesters, der die Frau unter Druck setzt. Dies könne geschehen durch sexuellen Missbrauch (bestraft laut Canones 1395 §3 und 1398), körperlichen Zwang (Canones 1378 §1 und 1397 §1) oder als eine nicht-körperliche Form von Zwang (Canon 1378 §1). Zimmermanns Fazit solcher rechtlichen Umwege: "Es scheint, dass in den meisten, wenn nicht sogar in allen Fällen von reproduktivem Missbrauch ein solcher rechtlicher Umweg gefunden werden kann."
Angesichts möglicher Forderungen, reproduktiven und geistlichen Missbrauch im Kirchenrecht eigens und ausdrücklich unter Strafe zu stellen, rät die Autorin zum Abwarten. Zwar könne derzeit der Anschein entstehen, das Kirchenrecht messe solchem Vergehen nicht die gleiche Bedeutung zu wie sexuellem Missbrauch, obschon die Folgen für die Opfer ähnlich sein könnten. Um die Formen aber rechtlich gleichberechtigt zu behandeln, so Zimmermann, "müssen diese anderen Arten von Missbrauch noch besser erforscht werden, damit wir ein klares Verständnis davon erlangen, was reproduktiver oder spiritueller Missbrauch (nicht) ist".