Papst Leo XIV. reist an den Ort des Konzils von Nizäa

Dogmatiker: Eine Papstreise gegen die Polarisierung der Christenheit

Veröffentlicht am 27.11.2025 um 00:01 Uhr – Von Felix Neumann – Lesedauer: 

Paderborn ‐ Der Papst reist auf den Spuren der Ökumene in die Türkei. Was ist wichtig für Leo XIV. im ökumenischen Dialog? Der Paderborner Dogmatiker Christian Stoll erklärt im katholisch.de-Interview, wo es in der Ökumene hakt – und wo es aus seiner Sicht Chancen gibt.

  • Teilen:

Das erste Jahr des Pontifikats von Papst Leo XIV. ist zugleich das Jahr des 1.700-jährigen Jubiläums des Konzils von Nizäa, das sich auf das Glaubensbekenntnis verständigt hat, das heute noch gebetet wird. Das führt dazu, dass die erste größere Reise des neuen Papstes in die Türkei führt – den Ort des historischen Nizäa. Dort stehen Begegnungen unter anderem mit dem Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel an. Wie Papst Leo Ökumene versteht und wo er seine Schwerpunkte im Dialog sieht, hat er mit einem Apostolischen Schreiben dargelegt. Im Interview mit katholisch.de erläutert der Paderborner Dogmatiker und Leitende Direktor des des Johann-Adam-Möhler-Instituts für Ökumenik Christian Stoll, wie es heute um die Ökumene steht – und worauf er hofft, wenn der Papst zu den Wurzeln des gemeinsam bekannten Glaubens reist.

Frage: Professor Stoll, wo steht die Ökumene 1.700 Jahre nach dem Konzil von Nizäa?

Stoll: Die ökumenische Bewegung ist erst eine Frucht des 20. Jahrhunderts. In kurzer Zeit ist sehr viel erreicht worden. Auch deshalb stellt sich oft der Eindruck ein, dass die Ökumene danach ins Stocken geraten ist. Zweifellos wünschen sich viele Menschen heute weitere Schritte. Aber man sollte sich immer bewusst machen, dass es heute einen ganz anderen Umgang der Kirchen miteinander gibt als vor 100 Jahren. Der Unterschied ist enorm, und es ist keineswegs selbstverständlich, dass dieses ökumenische Miteinander dauerhaft besteht.

Frage: Am Sonntag hat Papst Leo XIV. das Apostolische Schreiben "In unitate fidei" veröffentlicht. Das ist einladend formuliert, aber in den Konsequenzen klingt es reichlich vage: Ein Bekenntnis zum Ziel der Einheit, aber keine konkreten Angebote, wie man dieser Einheit näherkommt. Täuscht der Eindruck?

Stoll: Das Konzilsjubiläum ist kaum geeignet, um konkrete Schritte mit Blick auf Kircheneinheit oder Sakramentengemeinschaft zu gehen. Es ist zunächst einmal die Chance, das gemeinsame Fundament, auf dem die christliche Ökumene ruht, in Erinnerung zu rufen. Und das tut dieses Schreiben in theologisch fundierter Weise. Es ruft die christologische Grundentscheidung von Nizäa als Grundlage aller heute bestehenden christlichen Konfessionen in Erinnerung und zeigt, wie viel Einheit schon da ist. Das scheint mir ein Anliegen dieses Schreibens wie der Reise des Papstes überhaupt zu sein.

Porträtfoto von Christian Stoll
Bild: ©Erzbistum Paderborn (Archivbild)

"Die Reise des Papstes ersetzt keinen theologischen Dialog und hat unterschiedliche diplomatische Facetten", sagt Christian Stoll. "Aber man sieht durch das Apostolisches Schreiben jetzt erste Konturen, wie Papst Leo XIV. Ökumene versteht." Stoll ist Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Theologischen Fakultät Paderborn und Leitender Direktor des Johann-Adam-Möhler-Instituts für Ökumenik. Im Sommer 2025 wurde er von Papst Leo XIV. zum Berater des vatikanischen Ökumene-Dikasteriums ernannt.

Frage: Hat der Papst für seine Reise noch mehr im Gepäck?

Stoll: Lassen wir uns überraschen. Nicht einmal alle Teilnehmer der Begegnungen sind bestätigt. Gemeinsam mit dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios soll am Ort des antiken Nizäa eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet werden. Der Inhalt ist noch nicht bekannt, aber diese Erklärung wird mit Blick auf konkrete Erfolge wahrscheinlich der interessanteste Teil sein. Ein weiteres Ziel der Reise ist es, andere ökumenische Partner zu treffen, etwa die Armenisch-Apostolische Kirche. Das ist eine Kirche, die die Beschlüsse des Konzils von Chalcedon (451) nicht mitgetragen hat – aber mit der wir eben durch das Konzil von Nizäa und seinem Glaubensbekenntnis verbunden sind. Danach trifft der Papst im Libanon vor allem die Maroniten, eine mit Rom unierte Ostkirche. Die Reise des Papstes umfasst also ganze Spektrum der Christen im Nahen Osten. Der Papst will den Christen im Nahen Osten insgesamt den Rücken stärken, die in vielen Ländern unter schweren Bedingungen leben.

Frage: Also eher so eine Ökumene der Praxis und der Solidarität als eine der dogmatischen Einigungen?

Stoll: Die Reise des Papstes ersetzt keinen theologischen Dialog und hat unterschiedliche diplomatische Facetten. Aber man sieht durch das Apostolisches Schreiben jetzt erste Konturen, wie Papst Leo XIV. Ökumene versteht. So hebt er etwa die Bedeutung der geistlichen Ökumene hervor. Das Schreiben endet mit einem Gebet. Zugleich betont Leo, dass der weitere Weg der Einheit über den theologischen Dialog führt, mit dem bestehende Dissense ausgeräumt werden sollen: Wenn wir auf dem Weg der Ökumene vorankommen wollen, dann müssen auch die theologischen Fragen bearbeitet werden. Das ist ein klares Bekenntnis zum ökumenischen Dialog über Lehrfragen.

Frage: Was bedeutet geistliche Ökumene für den Papst?

Stoll: Papst Leo richtet in seinem Schreiben an jeden einzelnen die Frage nach der inneren Rezeption des Glaubens, der in Nizäa formuliert wurde und in jedem Sonntagsgottesdienst bekannt wird. Er fragt, ob wir diesen Glauben an Jesus Christus verstehen, spüren und leben. Hier zeigt sich, dass der Papst nicht nur eine christozentrische Theologie verficht, sondern der Kirche und auch der Ökumene eine christozentrische Spiritualität ans Herz legt, die uns einander näherbringt. "Wenn Gott uns mit seinem ganzen Wesen liebt, dann müssen auch wir einander lieben", heißt es in dem Text.

Historische Mauerreste der frühchristlichen "Unterwasserkirche" am Iznik-See
Bild: ©Andrea Krogmann/KNA (Archivbild)

Das historische Nizäa heißt heute Iznik. Am Iznik-See sind Mauerreste der frühchristlichen "Unterwasserkirche". Fand hier das Konzil von Nizäa statt?

Frage: Bei den alten theologischen Fragen gab es gute Dialogerfolge: Bei der Frage nach dem Filioque im Glaubensbekenntnis und in der Christologie wurden tragfähige gemeinsame Positionen gefunden. Die eigentliche Schwierigkeit liegt aber doch auf den neueren Stolpersteinen, den neuzeitlichen Papst- und den Mariendogmen.

Stoll: Ja, das ist in der Tat so. Die Papstdogmen sind Gegenstand des Dokuments "Der Bischof von Rom", das im vergangenen Jahr vom Einheitsdikasterium vorgestellt worden ist. Darin hat das Dikasterium zum einen die Ergebnisse des ökumenischen Dialogs in dieser Frage zusammengestellt, zum anderen den Papst als Stifter der Einheit in der christlichen Ökumene neu ins Spiel gebracht. Das stößt bei vielen Kirchen auf Interesse. Außerdem schlägt das Dokument einen anderen hermeneutischen Umgang mit den Papstdogmen des Ersten Vatikanischen Konzils vor, eine kontextualisierende Lesart.

Frage: Die Papstdogmen sind sehr klar. Wie kann man die intellektuell redlich kontextualisieren?

Stoll: Das hat natürlich Grenzen. Das Zweite Vatikanum hält bekanntlich am Jurisdiktionsprimat und am Unfehlbarkeitsdogma fest, tariert diese Dogmen mit der Lehre vom Bischofskollegium aber neu aus. Damit wurde die Tür geöffnet, um zu überlegen, wie der päpstliche Primat konkret ausgeübt wird, ohne das Dogma an sich in Frage zu stellen. Diese Frage begleitet auch die gegenwärtigen Suchprozesse, die unter dem Stichwort "Synodalität" laufen. Und bemerkenswert ist noch etwas anderes: Das Dokument "Der Bischof von Rom" hält fest, dass das Wort Unfehlbarkeit im ökumenischen Gespräch oft Missverständnisse produziert und man daher damit behutsam umgehen soll. Hier zeigt sich eine Sensibilität für die Bedeutung von Sprache im ökumenischen Dialog, an der es bislang oft fehlte.

Player wird geladen ...

Unser heutiges Bild der Dreifaltigkeit ist ohne das Konzil von Nizäa nicht denkbar. Aber nicht nur die festgelegten Glaubenssätze beeinflussen die Kirche bis heute. Darüber spricht Host Christoph Brüwer mit dem Kirchenhistoriker Notker Baumann.

Audio: © Brüwer, Christoph

Frage: Zu den Herausforderungen für die Ökumene gehört heute, dass die Dialogpartner in sich zerrissen sind. Die anglikanische Gemeinschaft scheint gerade an der Personalie einer Frau als Erzbischöfin von Canterbury zu zerbrechen, die Orthodoxie am Streit um die Kirche in der Ukraine. Wie wirken sich denn diese Spannungen auf den ökumenischen Dialog aus?

Stoll: Fliehkräfte und Polarisierungen sind ein Signum unserer Zeit – im Politischen, in der Gesellschaft, in der katholischen Kirche und auch in der Ökumene. Das macht das ökumenische Gespräch schwieriger, als es einmal war: Jetzt schon mit der Orthodoxie, und bald möglicherweise mit der anglikanischen Gemeinschaft, wenn der Bruch dort nicht geheilt werden kann.

Frage: Ökumene ist auch ein Spagat zwischen Ost und West. Die theologische Nähe ist zu den Ostkirchen viel größer, dafür ist gerade in Deutschland die alltägliche Nähe zur evangelischen Kirche viel bedeutender trotz größerer Lehrunterschiede. Wie geht man damit um?

Stoll: Das, was wir gemeinhin evangelische Kirche nennen, ist ein sehr vielfältiges Gebilde. Die EKD ist eine Dachorganisation einzelner Landeskirchen mit unterschiedlichen Bekenntnisständen: lutherisch, uniert, reformiert. Für den Lehrdialog sind diese Bekenntnisstände grundlegend. 2030 steht das Jubiläum der Confessio Augustana an, der zentralen lutherischen Bekenntnisschrift, und es ist aus römisch-katholischer Sicht gar nicht leicht auszumachen, welche Bedeutung diese Bekenntnisschrift in den evangelischen Kirchen in Deutschland heute tatsächlich hat.

Papst Leo XIV. und Patriarch Bartholomaios I. geben sich die Hand
Bild: ©KNA/Vatican Media/Romano Siciliani

Die beiden kennen sich schon: Ende Mai hat Papst Leo XIV. Bartholomaios I., den Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel und Ehrenoberhaupt der Weltorthodoxie im Vatikan getroffen. Jetzt begegnen sie sich erneut.

Frage: Wo sind da in Bezug auf die evangelischen Kirchen noch realistisch neue Durchbrüche zu erwarten? Bei der Taufe konnte ein Konsens erzielt werden, andere Fragen wie das Abendmahlverständnis und die Amtstheologie scheinen weit schwieriger in einen Konsens zu überführen sein.

Stoll: Die Frage nach der Abendmahlsgemeinschaft stellt sich weiterhin, auch wenn die jüngsten Vorstöße mit dem Papier "Gemeinsam am Tisch des Herrn" nicht zum Erfolg geführt haben. Hier sehe ich gerade zwar keine konkreten neuen Initiativen. Gegen alle Unkenrufe kann man dennoch sagen: Niemand möchte diese Frage dauerhaft zu den Akten legen. Dass für generelle Lösungen eine Verständigung in der Amtsfrage vorausgehen muss, hat die katholische Kirche allerdings immer betont.

Frage: Aber beide Fragen, Weihe und Abendmahl, sind dogmatisch sehr klar abgesteckt in der katholischen Kirche, und beide Fragen sind auch von Luther an sehr scharf und identitätsstiftend vom katholischen Lehrbestand abgegrenzt worden. Kann man da dogmatisch weiterkommen? Oder braucht es da nicht vielmehr eine Lösung der versöhnten Verschiedenheit: Wir glauben zwar unterschiedliche Dinge darüber, was das Abendmahl ausmacht und bedeutet, aber wir erkennen die andere Seite zumindest so weit an, dass die Teilhabe am jeweils anderen Mahl zumindest vertretbar ist?

Stoll: Die Position, dass man mit verschiedenen Auffassungen des Abendmahls oder von Kirche in eine Feier geht, gibt es natürlich im ökumenischen Gespräch. Die Position der katholischen und noch mehr der orthodoxen Kirchen war aber immer, dass erst die ekklesiologischen Fragen geklärt werden müssen, bevor es zu einer Eucharistiegemeinschaft kommen kann. Aus katholischer Sicht gibt es immerhin dadurch einen gewissen Spielraum, dass als Kriterium des Eucharistieempfangs immer auch das individuelle Seelenheil in Betracht gezogen werden muss, so dass pastorale Lösungen in Einzelfällen denkbar bleiben.

Frage: Zurück zur Reise des Papstes: Was wäre für Sie ein gutes Ergebnis?

Stoll: Ein gutes Ergebnis wäre, wenn der Papst tatsächlich das einlösen könnte, was er sich mit seinem Motto auf die Fahnen geschrieben hat, nämlich Einheit zu stiften in Christus. Das hat eine dreifache Dimension: eine politische, eine innerkirchliche und eine ökumenische. Wenn diese Einheitsbotschaft von der Reise ausgeht, dann hat das abseits aller konkreten Einzelergebnisse einen großen Wert.

Von Felix Neumann