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GIPS oder wie ich an einem einzigen Tag die Welt rettete

Anna Woltz und Andrea Kluitmann erhalten den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreises 2017.

Video: © katholisch.de

Ein Tag an dem die Welt im Schnee versinkt und stehen zu bleiben scheint – draußen. Drinnen hingegen klaffen Wunden; jene, die offen liegen, aber auch jene, die tief innen bluten, ohne dass jemand von ihnen weiß. Die niederländische Autorin Anna Woltz nutzt für ihren Kinderroman die klassische Einheit von Ort und Zeit und verlegt jenen Tag im Leben der 12-jährigen Felicia, von dem sie erzählt, in ein Krankenhaus. Heute ist die Welt hier heißt es über den in sich geschlossenen Raum, der ein Ort des Unheil-Seins gleichermaßen wie des Heil-Werdens ist.

Hierher geraten Felicia und ihre neunjährige Schwester Bente, weil ihr Vater die Möglichkeiten winterlicher Fahrradtransporte überschätzt und mit dem glätteuntauglichen Fortbewegungsgerät samt Schlitten und Bente auf dem Gepäckträger ausrutscht. Mit der daraus resultierenden Notwendigkeit der Wundversorgung jedoch zeigt sich, dass in Felicias‘ Familie weit mehr in die Brüche gegangen ist als ein Zombiefinger, dem nun eine Kuppe fehlt. Die Fingerkuppe kann wieder angenäht werden; aber wie ist das mit Felicias Familie – kann auch die wiederhergestellt werden? Ist man überhaupt noch eine Familie, wenn die Eltern geschieden sind?

Nur kurze Zeit vorher haben Felicias Eltern ihren Kindern mitgeteilt, dass man einander immer verbunden sein, in Zukunft aber getrennte Wege gehen werde. Daraufhin hat Felicia ihre Eltern per Email informiert, fürderhin Fitz genannt werden zu wollen. In ihrer Erzählhaltung macht sie kein Hehl aus ihrer Wut, aber auch ihrer Enttäuschung und Ratlosigkeit. Eloquent steigt sie in die Schilderung der Ereignisse ein und erzählt unmittelbar aus ihrer Situation heraus. Anna Woltz stattet Fitz als Ich-Erzählerin dafür mit den sprachlichen Mitteln des Präsens ebenso wie mit trockenem Humor aus.

Sie positioniert sie zu Beginn des Romans als scheinbare Unheilbringerin – denn Fitz hat sich ihren Kommentar zur familiären Situation angriffslustig mit Permanentmarker ins Gesicht geschrieben. Ins Krankenhaus darf sie überhaupt nur mit, weil die Nachbarin ihr eine Tigermaske ausgeliehen hat. Während Bente im Krankenhaus als Patientin aufgenommen wird, agiert der Vater leicht panisch und die in ihren nagelneuen Joggingschuhen antrabende Mutter regelt die Dinge außerordentlich souverän. Der wilde Tiger Fitz jedoch streift durchs Krankenhaus und findet gerade hier, an einem Ort zahlreicher anonymisierter Schicksale, auf verschlungenen Wegen neu zu sich selbst.

Anna Woltz inszeniert Rituale des Übergangs und befreit dabei einzelne Biografien aus der Anonymität: Sie lässt Fitz gemeinsam mit dem unwiderstehlichen Adam sowie der schrägen Primula kleine Dummheiten zelebrieren und große Wahrheiten wie nebenbei erkennen. Denn das Gefühl des Zurückgesetzt- und Angenommen-Seins, das in unterschiedliche Varianten aufgefächert wird, birgt gerade für kindliche Leserinnen und Leser großes (emotionales) Identifikationspotential. Dabei werden einzelne Motive und Symbole in sprachlich und situativ immer neuen Variationen aufgegriffen – wie auch der titelgebende Gips. Denn Brüche müssen in Gips gelegt werden; dieser Gips wird hart und schließt sich wie ein Panzer um Wunden; er dient der Selbststärkung gleichermaßen wie der Befriedung der darunterliegenden Irritationen. Brüche heilen; und auch wenn der Knochen nicht mehr seinem Ausgangszustand entspricht, ist er dennoch wieder tragfähig: Ich fühle mich neu. Als hätte ich nicht nur einen neuen Namen, sondern auch ein neues Stück Gehirn. Und ein neues Stück Herz, stellt Fitz gegen Ende des Romans fest. Zum Gefühl des Neubeginns gehört für Fitz auch die Erfahrung, dass Idealbilder von Familie zersplittern, aber auch neue Konstellationen heilbringend sein können. Vor Gott sind 1000 Jahre wie ein Tag und für Fitz verdichtet sich in diesem Tag ein Wegstück des Erwachsenwerdens, das schmerzvoll, aber auch unendlich beglückend ist.