Knop: Kein Bischof hat mir gesagt, dass meine Diagnose falsch ist
Sie war der heimliche Star der Frühjahrsvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in der vergangenen Woche in Lingen: Professorin Julia Knop. Die Erfurter Dogmatikerin nahm als Gast an einem Studientag der Vollversammlung zu den Folgen des Missbrauchsskandals und Fragen rund um Sexualmoral und Zölibat teil und nutzte dabei die Gelegenheit, den versammelten Bischöfen mit deutlichen Worten ins Gewissen zu reden. Für ihre schonungslose Analyse der Situation der katholischen Kirche bekam Knop in der Öffentlichkeit viel Lob. Doch wie fanden die Bischöfe selbst Knops Vortrag? Und wie bewertet die Professorin den in Lingen beschlossenen "synodalen Weg"? Katholisch.de hat sie dazu befragt.
Frage: Frau Professorin Knop, Sie haben bei der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in der vergangenen Woche deutliche Worte zum aktuellen Zustand der katholischen Kirche und zur Aufarbeitung des kirchlichen Missbrauchsskandals gefunden. Wie war es, den Bischöfen so deutlich die Leviten zu lesen?
Knop: Nun, ich wollte weder eine freundliche Sonntagsrede halten noch emotionalisieren. Ich wollte nüchtern und freimütig benennen, worum es in meinen Augen geht. Ich habe aber niemandem "die Leviten gelesen", das war weder meine Absicht noch meine Aufgabe. Mein Anliegen war es, zu Beginn des Studientags die von den Bischöfen selbst gesetzten Themen – klerikale Macht, Sexualmoral, Zölibat – so anzusprechen, dass sich im Laufe des Tages eine ernsthafte Debatte entwickeln konnte, die diesen Themen gebührt, den Blick für ihren prekären Zusammenhang öffnet und insgesamt der Dramatik der aktuellen Situation gerecht wird.
Frage: Trotzdem sind Sie die Bischöfe in ihrem Vortrag stellenweise hart angegangen. Unter anderem haben Sie Ihren Zuhörern unterstellt, dass manche von ihnen auch nach dem Missbrauchsskandal die – wie Sie es nannten – "Tradition der Tabuisierung" bei zentralen innerkirchlichen Streitfragen gerne fortgeschrieben hätten...
Knop: Das war in der Wortwahl deutlich, das stimmt – aber ich stehe voll und ganz dahinter. In den vergangenen Monaten konnte man auch von einigen Bischöfen immer wieder hören, dass keinerlei Zusammenhang zwischen dem sexuellen Missbrauch und den drei auf dem Studientag behandelten Themenfeldern erkennbar sei. Man solle nicht von typisch katholischen systemischen Gefährdungen sprechen, sondern Sexualdelikte von Klerikern in das große gesellschaftliche Ganze einordnen. Doch wer so argumentiert, arbeitet mit Tabus, um notwendige Debatten und kirchliche Umkehr zu verhindern.
„Ich empfinde die derzeitige Situation der Kirche in Deutschland wirklich als dramatisch; viele sprechen von einem drohenden Kollaps der Kirche.“
Frage: Ein Teilnehmer des Studientages sagte katholisch.de hinterher, dass es durchaus bemerkenswert sei, dass während Ihres Vortrags kein Bischof den Saal verlassen habe. Wie haben Sie selbst die Reaktion der Vollversammlung wahrgenommen?
Knop: Es war eine gespannte Aufmerksamkeit da, das war ganz offensichtlich. Es hat tatsächlich niemand den Saal verlassen – das wäre auch ziemlich ungehörig gewesen –, und es hat auch keiner der Bischöfe mir gegenüber geäußert, dass er meine Diagnose für falsch halte. Inhalt, Wortwahl und Tonfall gelangen offenbar so, dass die Bischöfe sie annehmen oder zumindest anhören konnten. Im Nachgang der Vollversammlung habe ich zahlreiche Zuschriften erhalten, in denen eine ungeheure Dankbarkeit und Erleichterung zum Ausdruck gebracht wurde, dass ich genau in dieser Weise das Wort ergriffen habe.
Frage: Was hat Sie motiviert, in der beschriebenen Deutlichkeit vor den Bischöfen zu sprechen?
Knop: Ich empfinde die derzeitige Situation der Kirche in Deutschland wirklich als dramatisch; viele sprechen von einem drohenden Kollaps der Kirche. Das scheint mir nicht übertrieben zu sein. Die MHG-Studie hat im vergangenen Herbst grundlegende strukturelle Probleme benannt und erste Analysen dazu ermöglicht. Daneben gab es im Jahr 2018 eine Reihe gravierender Konflikte und Probleme in der Kirche, zwischen den Bischöfen, zwischen der deutschen Kirche und römischen Behörden, zwischen Kirchenleitung und Wissenschaft. Die Veröffentlichung der MHG-Studie hat das Fass für viele zum Überlaufen gebracht. Das ist bei der Thematik absolut verständlich. Der Vertrauensverlust ist immens. Ich kenne zahlreiche Katholiken, die sich nach all den Ereignissen und Entdeckungen der vergangenen Monate fragen, ob sie noch in dieser Kirche zu Hause sein können oder ob sie nicht aus Selbstachtung aus der Kirche austreten müssen. Dieses Drama verdient eine ernsthafte Auseinandersetzung. Das war für mich der Impuls, die Dinge vor den Bischöfen so freimütig zur Sprache zu bringen. Es war für mich eine Frage der Wahrhaftigkeit.
Frage: Sie haben in Ihrem Vortrag auch von der DNA der Kirche gesprochen – aber anders als der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer. Im Gegensatz zu dessen bekannter Äußerung vom vergangenen Herbst liegt aus Ihrer Sicht der Missbrauch nicht in der DNA der Kirche begründet. Sie haben stattdessen von einem "ekklesialen Code" gesprochen, in den unter anderem die Tabuisierung von Homosexualität, die geistliche Überhöhung der priesterlichen Lebensform und die religiöse Aufladung von Macht eingeschrieben seien. Sind Änderungen dieses Codes Ihrer Überzeugung nach überhaupt möglich?
Knop: Zunächst: Ich würde in der Tat nicht so weit gehen, den Missbrauch selbst zur kirchlichen DNA zu zählen. Aber ich denke schon, dass einige Grundannahmen unserer "ekklesiologischen Matrix", also des derzeitigen Amts- und Kirchenverständnisses, daraufhin überprüft werden müssen, wo sie eine prekäre Ausübung von Macht begünstigen und womöglich sogar theologisch legitimieren. Das meine ich mit dem "ekklesialen Code": wirksame theologische Konzepte und Haltungen, die ein problematisches Kirchen- und Amtsverständnis prägen und forcieren. Es greift viel zu kurz, Ursachen für Machtmissbrauch nur in der Persönlichkeitsstruktur einzelner Priester zu suchen und individuell zu bearbeiten. Man muss konzeptionelle theologische, spirituelle, habituelle und besonders auch liturgische Verstärker eines prekären Amtsverständnisses wahrnehmen, analysieren und dann auch korrigieren oder kritisch weiterentwickeln. Ob man den "ekklesialen Code" ändern kann? Das geht sicher nicht einfach am Schreibtisch, indem man neue Theorien schreibt; vielmehr muss man alle in Ausbildung, Pastoral, Liturgie, Lehre und Theologie wirksamen Ebenen einbeziehen. Dass sich die Bischöfe auf einen synodalen Weg verpflichtet haben, zeigt mir aber, dass eine Weiterentwicklung des "ekklesialen Codes" auch von bischöflicher Seite gewollt wird.
Frage: Wie haben Sie während des Studientags die Diskussionen der Bischöfe erlebt? Thematisch ging es ja wirklich ans Eingemachte – und das unter einem hohen öffentlichen Erwartungsdruck...
Knop: Der öffentliche und persönliche Druck war geradezu physisch spürbar und wurde auch vielfach und sehr ehrlich thematisiert. Die Bischöfe habe ich in den Debatten insgesamt als ungeheuer engagiert erlebt – in der Sache und als Person. Die Dramatik der Situation ist allen bewusst. Natürlich haben die verschiedenen Redner unterschiedliche Akzente gesetzt und unterschiedlich Position bezogen: manche haben biografisch argumentiert, andere theologisch, wieder andere kulturanthropologisch.
Frage: Glauben Sie denn nach dem, was Sie in Lingen erlebt haben, dass die Bischöfe die Zeichen der Zeit endgültig erkannt haben?
Knop: Ja, das denke ich schon. Bei denjenigen Bischöfen, die sich während des Studientags zu Wort gemeldet haben, war das ganz deutlich. Auch der Wille, ernsthaft an die Fragen heranzugehen und das nicht im inneren Kreis der Bischöfe zu tun, ist ganz klar gegeben. Kardinal Reinhard Marx hat das in der Pressekonferenz zum Abschluss der Vollversammlung mehrfach betont: Es geht so einfach nicht mehr. Wir stehen an einer Zäsur. Nun kommt es darauf an, dass die verschiedenen Gruppen wirklich ins Gespräch kommen und das Gespräche zwischen den Gruppen stattfinden. Dass Bischöfe nicht nur hören, was andere Bischöfe sagen; dass Theologinnen und Theologen sich nicht nur im kollegialen Kreis austauschen; dass Gemeinden nicht nur innerhalb der Gemeinden sprechen. Sonst gibt es lauter Echo-Räume und niemand erfährt wirklich, wie die Situation in den anderen "Milieus" erlebt und interpretiert wird.
Frage: Das konkreteste Ergebnis, das zum Ende der Vollversammlung verkündet wurde, ist der "synodale Weg", den die Bischöfe gemeinsam mit dem ganzen Volk Gottes beschreiten wollen. Wie bewerten Sie das? Kann dieser Weg wirklich erfolgreich sein?
Knop: Eine Erfolgsgarantie gibt es natürlich nicht. Ein gemeinsamer Weg bewährt sich ja im Gehen, nicht schon beim ersten Schritt. Am Beginn eines Weges kann auch das Ziel noch nicht feststehen; es ist ein Prozess. Jeder Versuch, diesen Prozess vorab oder hierarchisch zu steuern – durch thematische Tabus, durch amtliche Reserven von Entscheidungen oder durch asymmetrisch angelegte Gesprächsformate – kann ihn zum Scheitern bringen. Es stimmt: Die Formulierung "synodaler Weg" ist sehr offen. Es wurde innerkirchlich und in den Medien ja sofort kritisch gefragt, ob diese Begrifflichkeit nicht doch wieder nur ein Beschwichtigungsversuch ist. Es gab aber verschiedene gute Gründe, so offen zu formulieren. Ich setze darauf, dass wir die Bischöfe in ihrem Willen zu einem gemeinsamen Weg in der ganzen deutschen Kirche beim Wort nehmen können. Allen ist klar, dass es keinen zweiten Gesprächsprozess wie in den Jahren 2011 bis 2015 geben darf, dessen Format und Ergebnisse bei den Beteiligten verständlicherweise sehr viel Frust erzeugt haben. Entscheidend wird sein, dass der von den Bischöfen skizzierte Prozess professionell und partizipativ vorbereitet und durchgeführt wird und weder thematisch noch operativ rote Linien gezogen werden. Dass Gläubige, Überlebende von klerikalem Missbrauch, Theologinnen und Theologen, Verbände, Orden, Bistumsleitungen, die ganze Kirche eben, sich von Beginn an gemeinsam auf den Weg machen. Die Formel, die während der Vollversammlung gefunden wurde, bringt es hervorragend auf den Punkt: Es geht darum, verbindliche Formen für offene Fragen zu finden. Daran muss sich der "synodale Weg" messen lassen.
„Dass der "synodale Weg" kein Selbstgespräch der Bischöfe unter freundlicher Beteiligung von ein paar ausgewählten Laien in beratender Funktion mit vorab definierten roten Linien sein kann, ist zumindest theoretisch allen klar.“
Frage: Die offenen Fragen – das sind nach allgemeinem Verständnis vor allem Fragen nach der kirchlichen Sexualmoral und dem Zölibat. Sind das auch die entscheidenden Fragen für die Zukunft der Kirche?
Knop: Sie sind jedenfalls von ganz erheblicher Relevanz und sie kommen nicht zur Ruhe. Sie waren schon vor über 40 Jahren auf der Würzburger Synode Thema. Es ist ja auch nicht so, dass die wissenschaftliche Theologie Fragen des kirchlichen Amtes und der Sexualethik nicht durchdenken würde. Für Theologinnen und Theologen war das bisher aber mit einem erheblichen Risiko verbunden, da stets amtliche Maßregelung drohte und akademische Biographien einer Reihe von Kolleginnen und Kollegen, die sich öffentlich und kritisch dieser Themen angenommen haben, erheblich beschädigt worden sind. Ich kann nur hoffen, dass die Vollversammlung in Lingen auch auf dieser Ebene eine Zäsur darstellt und dass künftig niemand eine offene, ernsthafte, auf Argumente bauende Auseinandersetzung fürchtet. Lebensrelevante Themen immer wieder zu tabuisieren und ihre Debatte hierarchisch unterbinden zu wollen, spaltet und schadet der Kirche ganz erheblich. Viele der lehramtlich vorgetragenen Positionen zur kirchlichen Sexualmoral treffen schon lange nicht mehr auf Resonanz, ihr Geltungsanspruch verhallt. In Lingen haben die Bischöfe nun nicht nur respektiert, dass immer noch Diskussions-, Entwicklungs- und Klärungsbedarf besteht. Sie haben auch benannt, dass die anstehenden Themen miteinander in Zusammenhang stehen und in ihrer aktuell gelebten, gedachten und gelehrten Form prekäre, ja zerstörerische Kraft entwickeln können. Das ist in meinen Augen eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Vollversammlung.
Frage: Der "synodale Weg" ist – Sie haben es gesagt – bislang erst vage skizziert. Trotzdem wird schon jetzt gefragt, was eigentlich das Ziel dieses Prozesses sein soll. Immerhin können bei zentralen Fragen Antworten nur gemeinsam mit Rom gefunden werden. Sind Enttäuschungen da nicht zwangsläufig vorprogrammiert?
Knop: Natürlich muss man sich im Klaren darüber sein, was eine Ortskirche allein erreichen kann und wo die Grenzen sind. Es wäre aber doch ein starkes Signal, wenn die Kirche in Deutschland am Ende des nun vorgestellten Prozesses zu mutigen Ergebnissen käme und diese dann in die weltkirchliche Debatte einbringen würde. Es gibt ja auch aus Rom starke Signale, die Weltkirche zu dezentralisieren und die Ortskirchen und ihre Kompetenzen stärken zu wollen. Dies kann aber nicht allein von oben nach unten gelingen. Einzelne Ortskirchen müssen in den Fragen, die vor Ort anstehen, vorangehen und Gedanken und Lösungen vor Ort erproben.
Frage: Sie sind also durchaus optimistisch, was den "synodalen Weg" angeht?
Knop: Ja. Wenn es gelingt, das passende Format für die Debatte zu entwickeln und bereits in der Formatierung des Weges wirklich partizipativ vorzugehen, bin ich zuversichtlich. Dass der "synodale Weg" kein Selbstgespräch der Bischöfe unter freundlicher Beteiligung von ein paar ausgewählten Laien in beratender Funktion mit vorab definierten roten Linien sein kann, ist zumindest theoretisch allen klar. Gelingt es im Laufe des nun begonnenen Prozesses, glaubwürdige Signale für eine wirkliche Erneuerung der Kirche auszusenden, besteht vielleicht doch noch eine Chance, den tiefen Riss, der sich derzeit durch unsere Kirche zieht, zu kitten.