Moraltheologe zur Widerspruchslösung bei Organspende

"Der Mensch ist kein Ersatzteillager für andere"

Veröffentlicht am 19.09.2018 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Aktuell wird erneut über die Widerspruchslösung bei der Organspende debattiert. Der Moraltheologe Franz-Josef Bormann hält diesen Weg für problematisch und spricht sich für die Entscheidungslösung aus. Dennoch schlägt er im Interview eine Veränderung bei der derzeitigen Lösung vor.

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Frage: Herr Professor Bormann, haben Sie einen Organspendeausweis?

Bormann: Ja, ich trage meinen Organspendeausweis immer bei mir. Ich würde aber niemanden vorschreiben, es mir gleichzutun. Eine Organspende ist ein bewusster, freiwilliger und wohl überlegter Akt. Es ist eine sehr wichtige Thematik, mit der sich jeder Einzelne ganz persönlich auseinandersetzen sollte. Es kann nicht sein, dass ein Dritter oder der Staat über meine Organe wie über öffentliche Güter verfügt, das wäre anthropologisch höchst fragwürdig.   

Frage: Was halten Sie von der Widerspruchslösung, die der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn fordert?

Bormann: Diese Lösung ist in mehrfacher Hinsicht problematisch: Sie stellt nicht nur einen schweren Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Bürgers dar, welches in der modernen Medizinethik zurecht einen wichtigen Platz einnimmt. Die Widerspruchslösung ist auch kaum geeignet, das Vertrauen der Bevölkerung in die moderne Transplantationsmedizin zu stärken. Sie bedient sich eines psychologischen Mechanismus, der in utilitaristischer Manier gezielt die menschliche Trägheit ausnutzt. Stattdessen sollte sie durch eine bessere Aufklärung dafür sorgen, dass die latent vorhandene hohe Spendenbereitschaft auch zu einer ausreichenden Zahl von tatsächlichen Organspenden führt.

Frage: Welche Lösung schlagen Sie daher vor?

Bormann: Momentan haben wir in Deutschland eine bestimmte Spielart der sogenannten Entscheidungslösung, bei der die volljährigen Krankenversicherten von ihrer Krankenversicherung angeschrieben werden, um ein Nachdenken über die eigene Spendebereitschaft anzuregen. Bei diesem Modell kann ich mich entweder für oder gegen die Organgspende entscheiden oder gar keine Entscheidung treffen. Die darin zum Ausdruck gebrachte Achtung der Selbstbestimmung finde ich gut. Noch besser fände ich allerdings eine verpflichtende Entscheidungslösung einzuführen. Das bedeutet, dass jeder Bürger sich zu einem gewissen Zeitpunkt für oder gegen eine Organspende entscheiden muss. Ich habe also nur zwei Wahlmöglichkeiten: Entweder ja, ich spende bestimmte Organe oder nein, ich möchte das nicht. Es gibt bereits Länder, in denen das so gehandhabt wird. In den USA zum Beispiel ist jeder, der einen Führerschein erwirbt, verpflichtet, diese Angabe zur Organspende zu machen. So eine Regelung könnte man in Deutschland auch verpflichtend einführen. Wichtig ist dabei allerdings darüber zu informieren, dass eine solche Entscheidung jederzeit revidiert werden kann.

Professor Franz-Josef Bormann ist Moraltheologe an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Tübingen.
Bild: ©KNA

Der Tübinger Moraltheologe Franz-Josef Bormann wurde 2016 in den Deutschen Ethikrat berufen.

Frage: Wie könnte das konkret in Deutschland umgesetzt werden?

Bormann: Entweder man bindet ein solches Entscheidungsmodell an den Erwerb des Führerscheins oder an die Volljährigkeit eines Menschen. Auch die Krankenkassen könnten eine solche Entscheidung von allen Versicherten routinemäßig abfragen. Wichtig wäre es, dass dadurch eine eindeutige Entscheidung getroffen wird und diese in einer zentralen Datenbank registriert wird, so dass im Notfall alle relevanten Akteure darauf zugreifen können. Das würde auch für Angehörige des Spenders eine große Entlastung bedeuten, weil sie so in psychologisch heiklen Situationen nicht mehr stellvertretend entscheiden müssten.  

Frage: Warum denken Sie, können sich so viele Menschen in Deutschland trotzdem nicht entscheiden?

Bormann: Die meisten tun es nicht, weil es die bequemere Position ist. Auch wollen sich viele nicht mit der Begrenztheit ihres Lebens auseinandersetzen. Der Tod fordert von jedem von uns ein gewisses Maß an Nachdenklichkeit und Reflexion auf das eigene Lebensende hin. Das ist nicht angenehm, weil die meisten gerne den Tod verdrängen. Aber wir werden alle sterben. Als Christen glauben wir zwar an ein ewiges Leben bei Gott, aber unsere irdische Existenz ist begrenzt. Zwar finden in Deutschland viele Menschen die Organspende gut und bekennen auch ihre Bereitschaft dazu, aber sehr wenige dokumentieren das tatsächlich in einem Dokument. Auch die Skandale um die Transplantationen in den letzten Jahren haben dazu beigetragen, dass die Zahlen an Organspendern zurückgegangen sind. Zudem gibt es bislang auch noch einige organisatorische Hürden in den Kliniken und finanzielle Hindernisse. Es ist richtig, dass der Bundesgesundheitsmister diese Probleme jetzt gesetzlich lösen möchte. Anders als die von ihm angedachte Widerspruchslösung hätte eine Weiterentwicklung unseres bisherigen Modells im Sinne einer Entscheidungspflicht aber den großen Vorteil, dass mir keiner vorschreibt, wie ich mich zu entscheiden habe. Entscheiden muss ich selbst. Das kann man heutzutage in einer für so viele Menschen lebensrettenden Frage auch von jedem einfordern.

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Video: © katholisch.de

Möchte ich meine Organe spenden? Weiß ich für den Ernstfall, wie meine Familie darüber denkt? Und wie sieht es mit den Organen meines Kindes aus?

Frage: Sollte man als Christ aus Nächstenliebe ein Ersatzteillager für andere sein?

Bormann: Ich bin als Mensch kein Ersatzteillager für einen anderen Menschen, das wäre eine Karikatur der Organspende. Egal ob ich Christ bin oder nicht, meine Organe gehören mir und nicht der Allgemeinheit oder einer bestimmten erkrankten Person. Es gibt auch keine Pflicht zur Organspende. Sehr viele Menschen warten in Deutschland auf ein Spenderorgan. Trotzdem hat kein Mensch das Recht auf das Organ eines anderen. Meine Organe sind Teil meiner leib-seelischen Einheit. Wenn ein Mensch sagt, ich will nach meinem Tod mit einem Teil des Leichnams jemand anderem etwas Gutes tun, verdient diese Haltung den höchsten Respekt. Das ist altruistisch und ein freiwilliger Akt. Als Christ kann ich überlegen, ob ich für eine sinnvolle Transplantation bestimmte Organe zur Verfügung stelle. Aber es gibt keine Pflicht zu einer solchen Tat der Nächstenliebe. Ich kann es tun, muss es aber nicht. Die Selbstbestimmung der Person muss in einer so sensiblen Frage gewahrt bleiben. Ich brauche also auch kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn ich mich aus bestimmten Gründen gegen die Organspende entscheide.

Frage: Aber wenn ich jemanden so liebe, dass ich ihm mein Herz spenden will, weil er schwer erkrankt ist?

Bormann: Das würde auf eine Selbsttötung hinauslaufen und ist nicht erlaubt. Sie brauchen Ihr Herz selbst, denn das ist für Sie lebensnotwendig. Sie könnten allenfalls eine Niere spenden, denn das ist ein paariges Organ. Aber Sie haben nur ein Herz. Auch wenn so eine Organspende aus Liebe motiviert wäre, heiligt der Zweck nicht die Mittel. Sie können ihr Herz zwar aus Liebe verschenken, aber nicht im Sinne einer sogenannten Lebendspende transplantieren lassen.

Frage: Wann ist der Mensch tot?

Bormann: Ein Mensch ist tot, wenn er hirntot ist, das bedeutet, wenn es zu einem irreversiblen Funktionsverlust des Gehirns gekommen ist. Wegen der Unanschaulichkeit des Hirntodes wäre hier eine Aufklärung der Bürger zu verbessern. Manche Laien glauben nämlich, wenn sich der Brustkorb eines hirntoten Patienten hebt und senkt und die Wangen noch durchblutet sind, er schlafe nur. Aber das ist nicht so. Wenn ein Mensch lege artis für hirntot erklärt wurde, ist das ein valides Todeskriterium. Seelsorglich muss man da sehr behutsam sein, was die seelische Belastung der Angehörigen betrifft. Auch muss man genau darüber aufklären, was eine Organspende genau bedeutet. Man muss vorab klären, ob man etwa eine Verabschiedung des Toten will oder den Toten vor und nach der Organspende noch einmal sehen möchte. So etwas wird leider oft vergessen. Auch muss darüber aufgeklärt werden, dass nicht jede Organverpflanzung erfolgreich verläuft. Hier ist insgesamt noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten.

Eine Transportbox für Organe und ein Arzt am Computer
Bild: ©dpa/Soeren Stache

In solchen Transportboxen werden Organe transportiert (Symbolbild).

Frage: Christen glauben an die leibliche Auferstehung nach dem Tod. Sollte man dafür nicht komplett und unversehrt sein?

Bormann: Auferstehung meint nicht, dass meine irdische Existenz einfach weitergeht oder mein Körper unverwandelt ins ewige Leben eingeht. So eine Vorstellung hat die Kirche nie gelehrt. Das traditionelle Verstümmelungsverbot dient dem Schutz der leiblichen Integrität während unseres irdischen Lebens. Eine altruistisch motivierte Organspende ist keine Selbstverstümmelung. Christen glauben an die Auferstehung des Leibes, der verwandelt wird. Wenn meinem Körper etwa im Laufe meines Lebens eine Wunde zugefügt wurde oder wenn mir der Blinddarm, die Mandeln oder eine Niere aus medizinischen Gründen entnommen wurde oder ich durch einen Unfall Körperteile verloren habe, dann erstehe ich trotzdem als personale Selbigkeit nach meinem Tod vollkommen auf. Ich werde als der auferstehen, der ich bin, heißt es in der Bibel. Der Apostel Paulus spricht aus guten Gründen von einem vergeistigten Auferstehungsleib. So eine Vorstellung kann ungemein tröstlich sein.

Von Madeleine Spendier

Zur Person

Franz-Josef Bormann wurde 2005 in Hildesheim zum Priester geweiht und ist seit 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Moraltheologie an der Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen. 2016 wurde er in den Deutschen Ethikrat berufen.