"Ehrlich, mutig und sehr modern"
Von 1984 bis 1989 studierte ich im Collegium Germanicum et Hungaricum in Rom; mindestens einmal im Jahr lud Josef Clemens im Auftrag von Kardinal Ratzinger die Paderborner Priesterstudenten zu einem gemütlich-besinnlichen Sonntagabend im Collegio Teutonico am Campo Santo, im Vatikan direkt neben dem Petersdom, ein. Dort wohnte Josef Clemens, dort hatte auch ganz am Anfang seiner römischen Tätigkeit Kardinal Ratzinger gewohnt und dort feierte er jeden Donnerstag früh um 7 Uhr die Heilige Messe, an der wir Studenten auch manchmal teilnahmen.
An den Abenden mit Kardinal Ratzinger wurden Lieder gesungen und erzählt und er fragte nach unseren Studien, sehr freundlich und völlig unkompliziert. Er kam auch öfters als Gast zu besonderen Anlässen wie Priesterweihe oder Hauskonzert zu uns Studenten ins Germanicum. Später, 1989 bis 1992, wohnte ich selbst für die Zeit des Doktorats im Collegio Teutonico und sah Kardinal Ratzinger oft und immer fragte er nach Paderborn und nach meinen Studien und - typisch für seine aufmerksame Art - wie es den Eltern ginge, die er einige Male in Rom getroffen hatte.
Als er im April 2005 von den Kardinälen nach der langen schweren Krankheit und dem Tod von Johannes Paul II. zum Papst gewählt wurde, war ich überrascht (wegen seines fortgeschrittenen Alters) und froh (wegen seiner Menschlichkeit und Bildung). Und jetzt bin ich wieder überrascht (obwohl über einen altersbedingten Rücktritt im Vatikan schon lange gewispert wurde) und traurig (weil er uns sehr fehlen wird) - aber er hat recht!
Ehrlich, mutig und modern
Denn: Niemand hat wohl besser und aufmerksamer das lange Leiden, die schwere Krankheit und das Sterben von Papst Johannes Paul II. verfolgt, außer seinem Privatsekretär, als Kardinal Ratzinger. Und mehrfach hat er fast beiläufig gesagt, dass er ein solch langes Leiden im Papstamt sich und der Kirche ersparen will. Das ist ehrlich und mutig und sehr modern!
Denn damit und mit dem Rücktritt vom Amt ist die Kirche in der Moderne angekommen. Warum? Weil in Zeiten von Hochleistungsmedizin und künstlicher Lebensverlängerung kein Mensch mehr lebenslang ein Leitungsamt wahrnehmen kann, jeder kommt in der Zukunft an die Grenzen der geistigen und körperlichen Gesundheit und kann dann ohne Zweifel weiter leben, aber eben nicht mehr leitende und verantwortliche Aufgaben wahrnehmen.
Der Tübinger Philosoph Otfried Höffe hat vor Jahren schon ein Büchlein veröffentlicht mit dem zunächst etwas rätselhaften Titel "Moral als Preis der Moderne". Er meinte damit: Die Moderne und die Postmoderne sind so unübersichtlich und so anfordernd, dass man viel mehr Moral und Tugend braucht als früher, in den Zeiten, in denen einem von Gesellschaft, Kaiser und Gewohnheit viele Entscheidungen abgenommen wurden.
Der Preis der Postmoderne
Und so kann man im Blick auf die Entscheidung des Papstes auch sagen: Rücktritt wegen Gesundheit ist der Preis der Postmoderne. Der Papst hat es selbst in seiner Erklärung an die Kardinäle gesagt: Die Leitung der Kirche ist hoch kompliziert und anstrengend und anfordernd und dazu braucht es geistige und körperliche Gesundheit. Und daher ist es richtig, bei Bewusstsein und schwächer werdender Gesundheit den Weg frei zu machen, für die Wahl eines neuen Bischofs von Rom.
Und das ist das, was oft vergessen wird: Eigentlich ist nicht der Papst zurückgetreten, denn Papst ist nur ein Ehrentitel für den Bischof von Rom. Zurückgetreten ist der Bischof von Rom, der von den Kardinälen (anstelle der früher dafür zuständigen Pfarrer der römischen Pfarreien) zum Bischof von Rom gewählt wurde und damit die Weltkirche leitete. Und da jeder Bischof wegen Alters oder Krankheit von der Leitungsaufgabe zurücktreten kann, ohne dass er aufhört, Priester und Bischof (was man durch die Weihe lebenslang ist) zu sein, so kann das auch der Bischof von Rom.
Eine sehr moderne und verantwortete Entscheidung! Und genau so ist er, dieser Joseph Ratzinger: Er denkt an Gott und die Kirche und sagt zum Schluss seiner Ansprache an die Kardinäle, dass er sich wünsche, noch einige Zeit Gott und der Kirche in der Stille und im Gebet zu dienen. Und sicher auch durch Studium und Lesen und Nachdenken.