Leo XIII. – Prototyp des modernen Papsttums
25, 86, 93: Das sind die Zahlen, die das Pontifikat Leos XIII. (1878 bis 1903), bürgerlich Gioacchino Pecci, beschreiben. Seine Amtszeit dauerte 25 Jahre, was ihm in der Rangliste der am längsten regierenden Päpste Platz drei beschert. In dieser Zeit verfasste er insgesamt 86 Rundschreiben, sogenannte Enzykliken – bis heute Rekord. Und er starb im gesegneten Alter von 93 Jahren: Kein Papst war zum Zeitpunkt seines Todes älter. Zu seinen Lebzeiten erfreute er sich großer Beliebtheit. Seine Ausstrahlung, seine Liebenswürdigkeit sowie seine Neugier für Neues kamen sowohl bei einfachen Gläubigen als auch bei Staatsgästen gut an.
Dennoch wird Leo XIII. sowohl in der Forschung als auch in der kirchlichen Öffentlichkeit bislang kaum Beachtung geschenkt. Man kennt vielleicht noch seine Enzyklika "Rerum novarum", in der er die Arbeiterfrage aufgreift – ansonsten ist über sein Leben und Wirken nicht allzu viel bekannt. Dabei war seine Regierungszeit ein "Schlüsselpontifikat", betont der Augsburger Kirchenhistoriker Jörg Ernesti. Er hat vor kurzem eine Biografie Leos XIII. vorgelegt. Darin beschreibt er ihn als Mann der kirchlichen Überlieferung, der allerdings auch viele Akzente setzte, auf die sich seine Nachfolger stützten. "Leo XIII. stellte viele Weichen, die bis heute erkennbar bleiben", so Ernesti.
Eine neue Rolle für den Vatikan
Ein Punkt seines bleibenden Vermächtnisses ist die Außenpolitik des Heiligen Stuhls: 1870 hatte der Kirchenstaat sein Territorium an das Königreich Italien verloren, seitdem war der Papst sozusagen ein "König ohne Land". Pro forma war er italienischer Bürger, der Staat sicherte ihm lediglich die Unverletzlichkeit seiner Räumlichkeiten zu. Diese "römische Frage" erbte Leo XIII. von seinem Vorgänger Pius IX. (1846 bis 1878). Auch Leo sehnte sich den Kirchenstaat zurück: Aus Protest verließ er den Vatikan nie mehr. Doch trotz – oder gerade wegen – des Fehlens der Souveränität war er ein wichtiger Akteur der zeitgenössischen europäischen Politik. "Leo XIII. hat es geschafft, den Heiligen Stuhl neu zu positionieren. Er profilierte die Rolle des Vatikan als neutraler Vermittler bei internationalen Konflikten", sagt der Kirchenhistoriker Ernesti. Insgesamt elf Mal ist das während der Regentschaft Leos XIII. geschehen.
"Der Heilige Stuhl bekommt eine Rolle als internationale Schiedsinstanz, die er vorher als Träger einer staatlichen Souveränität mit dem Papst als Staatsoberhaupt nicht haben konnte", betont Ernesti. Die Nachfolger Leos haben ebenfalls versucht, diese Rolle einzunehmen. Im Ersten Weltkrieg ist dies mit der Friedensnote Benedikts XV. im Jahr 1917 gescheitert, insofern päpstliche Interventionen nicht zur Beendigung des Krieges beitragen konnten. Auch im Zweiten Weltkrieg ist dieses Vorhaben laut Ernesti nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Doch in jüngster Zeit konnte etwa Papst Franziskus Gesprächskontakte zwischen Kuba und den USA vermitteln. "Das steht in dieser diplomatischen Tradition, die mit Leo XIII. beginnt. Er ist dadurch der Schöpfer der modernen Außenpolitik des Vatikan."
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Auch vom Vatikan organisierte humanitäre Aktionen gibt es erst seit dem Pecci-Papst. Eine vatikanische Almosenverwaltung hatte es zwar immer gegeben, auch einzelne päpstliche Gesten der Wohltätigkeit. Neu war allerdings, dass so etwas im großen Stil organisiert und die Weltöffentlichkeit dafür mobilisiert wurde. In den 1880er Jahren kam zum Beispiel auf Initiative des Missionsbischofs Charles Martial Lavigerie, der in Afrika wirkte, eine Anti-Sklaverei-Kampagne zustande. Bis dahin hatte der Sklavenhandel vor allem in Schwarzafrika überlebt. "Leo XIII. stellt sich an die Spitze dieser Bewegung, solidarisiert sich immer wieder öffentlich mit Lavigerie. Das ist das erste große Beispiel für humanitäres Wirken des Heiligen Stuhls", findet Ernesti. Das habe sich bis in die Gegenwart hinein gehalten. "Man denke an den Ersten Weltkrieg, als Benedikt XV. den Vermisstensuchdienst und den Gefangenenaustausch organisiert." Für Ernesti steht auch Papst Franziskus mit seinem Einsatz für Flüchtlinge in dieser Linie. "Der Heilige Stuhl profiliert sich unter Leo XIII. erstmals als eine Art moralisches Weltgewissen."
Leo XIII. verstand, dass ihm die Entwicklung der Massenmedien für die Verbreitung seiner Botschaften und die Positionierung seines Amtes in der Weltöffentlichkeit nützlich sein konnte. Er schätzte die technologischen Errungenschaften: So ist er der erste Papst, dessen Stimme auf Tonband existiert – und der sich hat filmen lassen. Auf den Bewegtbildern aus dem Jahr 1896 sieht man den greisen, gegenüber der Kamera unsicher wirkenden Leo XIII. bei einer Kutschfahrt in den Vatikanischen Gärten mit seiner Entourage, die ihn immer wieder auffordert, Segenszeichen in Richtung der Kamera zu machen. Leo XIII. ist auch der erste Papst, der einer Journalistin – Madame Severine, eine nichtkatholische, französische Feministin – ein Interview gab. Dabei hielt er keinen Monolog, sondern ging auf die Fragen der Frau ein. Ernesti bezeichnet ihn daher als ersten "Medienpapst".
Nicht nur für die technologischen Errungenschaften seiner Zeit zeigte sich der Papst offen – er war auch sensibel für die gesellschaftlichen Probleme. In der Frage, wie man die Arbeiterschicht, die durch die Industrialisierung entstanden ist, aus ihrem Elend befreien kann, setzte er in der Kirche bleibende Maßstäbe: Mit seiner Enzyklika "Rerum novarum" beantwortete er die Soziale Frage und erfand die katholische Soziallehre. "Die großen Prinzipien, also Gemeinwohl als oberstes Gut, die Solidarität und die Subsidiarität gelten in der katholischen Soziallehre nach wie vor", sagt Jörg Ernesti.
Sensibilisiert für dieses Thema haben Leo XIII. seine vorherigen Berufsstationen, weiß der Kirchenhistoriker: "Während seiner Zeit als Nuntius in Belgien hat er ein hochindustrialisiertes Land kennengelernt, und während seiner Zeit in Perugia nahm er das Elend der Arbeiterschicht sehr wohl war." Viele Päpste haben mit Dokumenten zu den Jahrestagen der Veröffentlichung auf "Rerum novarum" Bezug genommen, etwa Pius XI., Paul VI. und Johannes Paul II. Auch für die Gründungsväter und -mütter der Bundesrepublik war die katholische Soziallehre, die auf Leo XIII. zurückgeht, prägend.
Auch in Sachen Ökumene gabt Leo XIII. die Linie für die folgenden Jahrzehnte vor. Gegenüber den Kirchen der Reformation war er skeptisch. So fällt in sein Pontifikat die Frage nach der Gültigkeit der Weihe, wenn ein anglikanischer Priester zur katholischen Kirche konvertiert. Leo spricht der Weihe ihre Gültigkeit ab. Andererseits öffnet er die katholische Kirche für den christlichen Osten: Über orthodoxe Christen spricht er nicht mehr als Schismatiker, sondern als "getrennte Brüder". Es kommt zu einer Aufwertung der mit Rom unierten Ostkirchen – diese seien "Brückenbauer" hin zur Orthodoxie. Das werden auch die Folgepäpste stark aufnehmen: Benedikt XV. gründet später etwa die katholische Orientalenkongregation. "Leos Weichenstellungen bestimmen die katholische Position zur Ökumene bis zum Zweiten Vatikanum", sagt Ernesti.
Entwicklung zur Weltkirche
In Leos Amtszeit entwickelte sich die katholische Kirche immer mehr zur Weltkirche. "In diesen 25 Jahren ist die katholische Christenheit stark angewachsen", so Ernesti. Der Papst gründete zahlreiche Bistümer und Apostolische Vikariate. Die damalige Zeit zeichnete sich durch eine große missionarische Aufbruchsstimmung aus: Zahlreiche Missionsorden, etwa die Steyler Missionare, gründeten sich. "Missionar zu werden, ist zu damals beinahe Mode." Allerdings hinterfragt Leo XIII. noch nicht den unmittelbaren Zusammenhang von Kolonisation und Mission. Erst Papst Benedikt XV. wird hier eine Trennlinie ziehen.
Für Jörg Ernesti steht fest: "Leo XIII. war ein Mann, der der Tradition verpflichtet war, aber in vielen Bereichen Öffnungstendenzen zeigte, die weit in die Zukunft weisen." Er war so etwas wie der Prototyp des modernen Papsttums, ein Pontifex an der Schwelle zur modernen Welt. Übertreten haben diese allerdings erst seine (späteren) Nachfolger.