Die Messe ohne Volk ist legitim – nicht nur in der Corona-Krise
Die Corona-Pandemie zwingt die Ortskirchen, ihr gottesdienstliches Leben herunter zu fahren. Doch nicht jede Diözese ist bereit, alle liturgischen Feiern einzustellen. Nur zwei Beispiele: Die Erzdiözese Freiburg überträgt jeden Tag Messfeiern aus der Kathedralkirche im Livestream; das Erzbistum Hamburg bittet die Priester, die Heilige Messe, wenn nötig, allein zu feiern, stellvertretend für die Gläubigen, die daran nicht mehr teilnehmen können.
Drei Liturgiewissenschaftler üben nun scharfe Kritik an Messfeiern, die von Priestern in verschlossenen Kirchen gefeiert werden. Sogar von "Geistermessen", die nicht zum heutigen Verständnis von Liturgie passen würden, ist die Rede. Dazu berufen sich die Autoren auf Nr. 7 der Konstitution "Sacrosanctum Concilium" über die heilige Liturgie. Dort heißt es, dass "vom mystischen Leib Christi, d.h. dem Haupt und seinen Gliedern, der gesamte öffentliche Kult vollzogen" (Sacrosanctum Concilium, Art. 7) wird. Von den Autoren wird dies so ausgedrückt: Die Liturgie wird "von allen Getauften gemeinsam und öffentlich vollzogen".
Die von den Autoren inkriminierte "missa sine populo" (Messe ohne Volk) ist natürlich nicht die Grundform der Messfeier, sie ist für das Konzil aber eine legitime Form. Denn alle liturgischen Handlungen der Kirche "sind nicht privater Natur, sondern Feiern der Kirche" (Sacrosanctum Concilium, Art. 26), auch wenn "die Feier in Gemeinschaft der vom Einzelnen vollzogenen vorzuziehen ist" (Art. 27). Da sich in der Darbringung der Eucharistie "das Werk der Erlösung fortwährend vollzieht" (Codex Iuris Canonici, Canon 904), empfiehlt die katholische Kirche den Priestern täglich zu zelebrieren, denn die Feier der Eucharistie ist, "auch wenn eine Teilnahme von Gläubigen nicht möglich ist, eine Handlung Christi und der Kirche" (ebd.).
Die Autoren sehen darin ein nicht mehr zeitgemäßes Liturgieverständnis. Für die Einzelzelebration des Priesters verwenden sie den abfälligen Begriff der "Privatmesse" bzw. der "Privatzelebration", den weder das Konzil noch das Kirchenrecht kennt. Eine Messfeier im Livestream, die ein Priester angesichts der Corona-Pandemie allein oder mit einem Messdiener und einem Kantor feiert, kann man aber nicht mit einer Winkelmesse vergleichen, die Priester im Mittelalter an Seitenaltären etwa für die armen Seelen im Fegefeuer feierten. Heute davon zu sprechen, dass Priester die Eucharistie als ihren "ureigenen Besitzstand" betrachten, wäre deshalb mehr als unangebracht.
Der von den Autoren für ihr Liturgieverständnis herangezogene Text der Liturgiekonstitution zitiert Mt 18,20: "Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen." Also kommt es auf die Größe der gottesdienstlichen Versammlung für eine gemeinschaftliche Feier nicht an. Bei der Feier der Eucharistie am Sonntag, dem Tag des Herrn, an dem sich die Gemeinde üblicherweise zur Feier der Eucharistie versammelt, sollten im Ausnahmezustand, in den uns die Corona-Pandemie zwingt, wenn möglich, zwei oder drei Gläubige mitfeiern.
Natürlich gilt Mt 18,20 auch und zuvorderst für das Gebet und das Hören auf Gottes Wort, etwa in der Familie, oder wenn zwei oder drei Personen in einer Kirche die Vesper beten, ob medial übertragen oder nicht. Niemand behauptet, dass Stellvertretung in der "Ecclesia orans" nur durch den Priester geschieht. Auffällig ist aber die Aversion der Autoren gegen Messfeiern, die Priester für andere angesichts der Corona-Pandemie feiern. Am Ende läuft ihr Vorschlag darauf hinaus, alle Messfeiern einzustellen und sich als Volk Gottes im Gebet und Hören auf Gottes Wort miteinander zu verbinden. Für eine Kirche, die ihr Lebenszentrum in der Feier der Eucharistie besitzt, ist dies ein zutiefst irritierender Vorschlag, da er an der Identität der katholischen Kirche rührt.
Ganz bei den Autoren bin ich, wenn sie dazu aufrufen, angesichts der Corona-Pandemie "spirituelle Potenziale in den Familien und sozialen Netzwerken zu wecken und zu fördern" sowie "digitale Medien" kreativ einzusetzen. Neu ist das Phänomen einer "Digital Church" nicht. Gläubige, denen es unmöglich ist, an einem Gottesdienst physisch teilzunehmen, können schon seit längerem mit spirituellem Gewinn an Fernsehgottesdiensten oder im Internet teilnehmen (Church on the Screen). Die Möglichkeiten für eine weltumspannende "Ecclesia orans" sind hier sicherlich noch nicht ausgeschöpft, mag die Feier der Eucharistie – das Sakrament leiblicher Präsenz schlechthin – in der "Digital Church" auch an ihre Grenzen stoßen.
Doch schon immer wurde die Eucharistie auch für jene gefeiert, die daran nicht physisch teilnehmen können. Die Corona-Pandemie verlangt unkonventionelle Lösungen. Natürlich wäre es wünschenswert, nicht nur Messfeiern, sondern auch einmal eine Vesper oder eine andere Form eines Wortgottesdienstes medial zu übertragen. Wort-Gottes-Feiern im jetzigen Ausnahmezustand gegen gestreamte Eucharistiefeiern aus geschlossenen Kirchen und gegen die Einzelzelebration von Priestern auszuspielen, ist allerdings erkennbar motiviert durch eine allseits bekannte Kritik am katholischen Verständnis der Kirche, der Eucharistie und des Priesteramtes, wie es sich in den Texten des Konzils, wenn man sie nicht selektiv liest, niederschlägt. Doch die Corona-Pandemie eignet sich nicht dafür, um daraus theologisches Kapitel zu schlagen.