Kardinal Marx: "Mir kann keiner, auch kein Staat, Gott wegnehmen"
Der Münchner Kardinal Reinhard Marx will beim ersten, wieder möglichen öffentlichen Gottesdienst auf jeden Fall "Worte der Ermutigung und der Zuversicht" sprechen. Das sagte der Erzbischof von München und Freising dem "Handelsblatt" (Donnerstag). Er persönlich sei nicht in einer traurigen oder depressiven Stimmung, denn er wisse, dass diese Ausnahmesituation vorübergehen werde. Zugleich sei er sich bewusst, dass sich viele auf den Gottesdienst freuen - "und das macht mir Mut".
Marx erinnerte daran, dass die Kirchen immer offen gewesen seien, nur öffentliche Gottesdienste seien eben nicht möglich gewesen. "Für uns war das eine bittere Situation. Aber es sollte nicht der Eindruck entstehen, dass wir beim Kampf gegen die Pandemie Sonderrechte gegenüber anderen haben wollen - und seien es kleine Läden oder Restaurants, die um ihre Existenz ringen." Es sei darum gegangen, in einer Krisensituation nicht nur an sich zu denken. "Ich kann überall beten, mir kann keiner, auch kein Staat, Gott wegnehmen."
Marx: Müssen Internetangebot weiter ausbauen
Nach den Worten des Kardinals hat die Nachfrage nach neuen Angeboten im Internet, etwa nach Gottesdiensten per Livestream, die Erwartungen übertroffen. "Das ist ein Signal für uns, dass wir in diesem Bereich mehr tun müssen." Generell würden die Menschen in solchen Zeiten mehr über den Sinn des Lebens nachdenken, sie läsen mehr und stellten mehr Fragen. Aber die grundsätzlichen Probleme der Religionen in der modernen Gesellschaft würden sich durch die Kirche nicht lösen.
In der Krise vermisse er eindeutig den gemeinsam mit anderen gefeierten Gottesdienst, räumte Marx ein. Seit über 40 Jahren sei er Priester und feiere jeden Tag die Messe. Oft sei er mit großen und kleinen Gruppen zusammen. Das fehle ihm derzeit, die Begegnung, das Singen, das frohe ermutigende Miteinander. Über das Krisenmanagement der CSU in Bayern meinte Marx: "Wir sind in einem guten Kontakt. Ich habe das Vertrauen, dass - jedenfalls in dieser Frage - die Übereinstimmung sehr groß bleibt."
Weiter sagte Marx, er habe nicht den Eindruck, dass in Deutschland in den vergangenen Wochen die Grundrechte mit Füßen getreten worden sind. Vielmehr sei in der Corona-Krise sehr behutsam vorgegangen und an der einen oder anderen Stelle auch korrigiert worden. Dazu hätten etwa die Gerichte beigetragen: "Unser Gemeinwesen ist robust, die Gesellschaft funktioniert."
Natürlich gebe es Versuche von Politikern weltweit, die Krise als Einfallstor für den politischen Durchmarsch zu nutzen, so der Erzbischof von München und Freising. "Aber für unsere Gesellschaft kann ich das nicht erkennen." Auch in Nicht-Corona-Zeiten schauten Journalisten genau hin; es gebe Diskussionen über Datenschutz, die Befugnisse der Polizei, Pressefreiheit und Selbstbestimmung. Sicher würden Rechte eingeschränkt. "Wir haben noch nie erlebt, dass wir keine öffentlichen Gottesdienste in den Kirchen feiern dürfen. Aber wir leben ja zum Glück nicht in einem Land, in dem der Staat der Religion feindlich gegenübersteht."
Auch zur Aussage von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, dass nicht alles dem Schutz des Lebens untergeordnet werden sollte, äußerte sich der Kardinal. Man müsse genau abwägen, ob der Schutz vor dem Virus in allen Punkten und immer alle anderen Grundrechte einschränken könne. So gebe es immer wieder Situationen, in denen das Leben von Menschen riskiert werde. "Diese Fragen sind nicht neu." Grundsätzlich aber gelte mit Blick auf die Würde des Menschen die Gleichheit und dass das Leben zu schützen sei.
In der Corona-Krise geht es laut Marx darum, ob wirtschaftliche Einbußen und Einschränkungen der Versammlungsfreiheit in Kauf genommen werden sollen, um Menschen zu schützen. Darauf gebe es aber "leider keine ultimative Antwort". Das Dilemma sei nicht aufzulösen, und trotzdem müssten Entscheidungen getroffen werden. Insofern habe Schäuble recht, wenn er sage, die Würde des Menschen sei unantastbar. Aber es könne Situationen geben, wo Leben in Konflikt gerate mit anderen Zielen. In anderen Bereichen gelte dies gleichfalls. So akzeptierten die Menschen in Bezug auf den Schutz des Lebens auch den hohen Preis, der etwa im Straßenverkehr oder der Luftfahrt bezahlt werde.
Warnung vor wachsenden sozialen Ungleichheiten
Marx warnte weiter vor wachsenden sozialen Ungleichheiten durch die Folgen der Corona-Pandemie. Bei Katastrophen und in Krisen gewännen oft Eliten, sagte der Kardinal. Bei solchen radikalen Umwälzungen drohten schnell und beherzt zugreifende Vermögende besser durchzukommen als diejenigen, die auf ein kleines Gehalt angewiesen seien, das womöglich mit Kurzarbeitergeld noch auf 60 Prozent sinkt.
Nach den Worten des Kardinals drohen Spannungen innerhalb einer Gesellschaft, wenn viele Menschen in ihrem Einkommen beschnitten werden und das Gefühl haben, zu Unrecht ein Opfer der Krise zu sein. "Je ungleicher eine Gesellschaft ist, desto instabiler ist sie." Und dann bestehe auch wieder die Gefahr, dass Populisten vermehrt Gehör finden. "Da muss die Politik reagieren, und das tut sie ja auch, zum Beispiel mit Kurzarbeitergeld."
Auch mit Blick auf Europa stellt sich laut Marx die Frage, ob es Krisengewinner und -verlierer gebe. Gerade in Italien meldeten sich viele besorgte Stimmen, die vor einer populistischen Regierung von rechts warnten, wenn Europa jetzt nicht solidarisch sei. "Ich sage schon seit ein, zwei Jahren immer wieder: Die sozialen, politischen und ökologischen Folgen eines ungebremsten Kapitalismus kommen jetzt verstärkt auf die Tagesordnung", so der Erzbischof. "Und ich spüre, wie es unter meinen Füßen brodelt, ich spüre die Unruhe." Die Fragen nach einer neuen Weltordnung mit Blick auf Handels- und wirtschaftliche Beziehungen, Anreizsysteme und ein Gemeinwohl für alle würden nun lauter denn je.
Er sei nicht gegen Kapitalismus und freie Marktwirtschaft, betonte Marx, aber es brauche eine Ordnung. Internetkonzerne etwa seien global tätig, zahlten aber nicht überall Steuern, was sich sehr negativ auswirke. Über Steuern würden Unternehmen schließlich an den sozialen Herausforderungen des jeweiligen Landes beteiligt. "Sie sind ein Ausdruck der Korrektur, der Gerechtigkeit", so der Kardinal. (tmg/KNA)