Kolumne: Römische Notizen

Beten gegen Corona – systemrelevant über Religionsgrenzen hinweg

Veröffentlicht am 14.05.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Rom ‐ Gläubige, egal welcher Religion, sind an diesem Donnerstag weltweit eingeladen, für ein Ende der Corona-Pandemie zu beten, zu fasten und Solidarität zu zeigen. Es ist eine bemerkenswerte muslimisch-christliche Initiative, der sich der Papst angeschlossen hat, findet unsere Kolumnistin Gudrun Sailer.

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Es soll ja katholische Christen geben, die einen Papst wünschen, der nichts tut als beten und Heilige Messen zelebrieren. Dazu würde ein Papst halt praktisch keine Kurie brauchen, was schade wäre, also, ich arbeite gerne hier. Andererseits lässt sich nach diesen Wochen des Corona-Lockdown im Vatikan und in der Welt eines nicht leugnen: Ein betender und Messe feiernder Papst wird gebraucht wie lange nicht. Wir können das belegen. Wenn wir bei Vatican News morgens um sieben die Frühmesse mit Franziskus übertragen, die er seit 9. März täglich von A bis Z livestreamen lässt statt wie sonst nur ein paarmal wöchentlich im Nachhinein mit drei schlanken Predigt-Häppchen verbreiten, dann haben wir unerreichte, nie erträumte Zuschauerzahlen. Ganz zu schweigen von dem eindringlichen Gebet mit Segen auf dem leeren Petersplatz vom 27. März. Das ging durch die Decke, und wer es gesehen hat, weiß warum. Ist Gebet der wichtigste Dienst des Papstes in der Coronakrise? Für viele ja. Es gibt eben in Seuchenzeiten auch eine spirituelle Systemrelevanz - nicht nur eine materielle und technische. Der Mensch lebt nicht von Brot und W-LAN allein.

An diesem Donnerstag nun nimmt Papst Franziskus an einem Gebetstag teil, den er sich nicht selber ausgedacht hat. Die Idee kommt aus einem kleinen muslimisch-christlichen Kreis, bei dessen Entstehung Franziskus freilich die Finger im Spiel hatte. Das "Hohe Komitee der menschlichen Brüderlichkeit" ist ein vor kaum einem Jahr gegründetes Grüppchen mit dem Ziel, ein wegweisendes religionsübergreifendes Dokument bekannter zu machen, als es ist. 

Es soll geschwisterlich unter den Menschen zugehen

Das Papier von Abu Dhabi hat Papst Franziskus am 4. Februar 2019 ebendort, in den Vereinigten Arabischen Emiraten, unterzeichnet, gemeinsam mit dem Großimam von Al-Azhar, Ahmad Al-Tayyeb. Es war die erste Reise eines Papstes auf die Arabische Halbinsel. "Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt": Der Titel ist sperrig, die Sprache schwer, der Inhalt aufsehenerregend. Halt, nein: Christlich-muslimische Dialogdokumente ähnlichen Zuschnitts gibt es schon seit ein paar Jahren. Aber noch nie trug eines von diesem Kaliber die Unterschrift des Papstes plus eines hochrangigen Muslimführers. Medienleute wissen, der Nachrichtenwert einer Aussage bemisst sich daran, was gesagt wird – aber mehr noch daran, von wem es gesagt wird.

Franziskus und der sunnitische Scheich, so analysiert der Islamwissenschaftler Felix Körner SJ, wollen im Abu-Dhabi-Dokument gemeinsame Lehraussagen treffen. Sie schreiben nicht auf, wie es ist, sondern sie schreiben vor, wie es sein soll bei Menschen, die ihren Glauben ernst nehmen und der Welt eine Zukunft sichern möchten. Und wie soll es sein? Geschwisterlich. Wer Einfluss auf das Weltgeschehen hat, muss sich darauf besinnen, dass alle Menschen Kinder desselben Gottes und damit Geschwister sind. Deshalb muss alles Morden, Zerstören und Ausbeuten aufhören. Wer im Namen Gottes Gewalt ausübt, irrt. Moscheen, Kirchen, Synagogen sind zu schützen. Jeder Mensch genießt Bekenntnisfreiheit, erzwungener Religionswechsel gilt nicht. Frauen haben Rechte, und Gesetze, die Frauen um ihre Rechte bringen, sind zu ändern. Aussagen wie diese klingen für unsereins altbacken, im Säkularen sowieso, im Katholischen auch. Neu ist, wie gesagt, die Form, wie man plötzlich über Religionsgrenzen hinweg mit geeinter Stimme sprechen kann: dass der Papst und der Großimam so etwas gemeinsam unterschrieben haben. Dialog als einziger Weg. Verständnis als Methode und Maßstab.

gemeinsame Erklärung von Papst Franziskus und Großimam Ahmad Mohammad Al-Tayyeb
Bild: ©picture alliance/AP Photo/Andrew Medichini (Archivbild)

Papst Franziskus und Großimam Ahmad Mohammad Al-Tayyeb unterzeichnen am 4. Februar 2019 eine gemeinsame Erklärung zum Thema "Menschliche Brüderlichkeit".

In einer Zeit also, in der in unseren Gesellschaften die Zahl rassistischer Straftaten steigt und die Toleranz füreinander schwindet, werben der Papst und der Scheich nicht etwa für Toleranz – das wäre zu wenig. Sie wollen Geschwisterlichkeit. Sie laden alle Gläubigen und auch die Nichtglaubenden ein, eine Kultur gegenseitiger Wertschätzung zu schaffen, eine Kultur, in der alle wie Brüder und Schwestern zueinander stehen. Blauäugig? Gutmenschig? "Es gibt keine Alternative", erklärte Franziskus den Scheichs in Abu Dhabi. "Entweder wir bauen die Zukunft gemeinsam oder es gibt keine Zukunft." Auch weil es eilt, wollten Franziskus und der Großimam sicherstellen, dass ihr Dokument, das erste religionsübergreifende Papier dieser Bedeutung, nicht gleich wieder untergeht im Sog der Zeit. Hier trat das "Hohe Komitee der menschlichen Brüderlichkeit" auf den Plan.

Es entstand im August 2019 mit finanzieller und ideeller Geburtshilfe des Kronprinzen von Abu Dhabi, der den Papst in die Emirate eingeladen hatte. Die Gründungssitzung war in der Papstresidenz Santa Marta am 11. September. Nach der Arbeit beteten die Komitee-Mitglieder an jenem Tag im Vatikan für die Opfer der islamistischen Terroranschläge in den USA. Zwei Leute des Papstes sind im Komitee vertreten: sein Verantwortlicher für den interreligiösen Dialog, Kardinal Miguel Ángel Ayuso Guixot, und sein Sekretär, der junge Kurienpriester Yoannis Lahzi Gaid aus Kairo. Die übrigen kommen von der Kairoer Universität Al-Azhar, der höchsten Lehrautorität des sunnitischen Islam, und aus den Emiraten. Später stießen der US-Rabbiner Bruce Lustig und die frühere Unesco-Direktorin Irina Bokova dazu. Das Abu-Dhabi-Dokument wie auch das Hohe Komitee sind offen für alle Religionen.

Eines der Anliegen ist es, via Uno den 4. Februar als Welttag der Geschwisterlichkeit auszurufen. Papst und Großimam richteten dazu an UN-Generalsekretär António Guterres einen gemeinsamen Brief, den das Komitee im Dezember überbrachte, Guterres soll an Ort und Stelle seine Billigung signalisiert haben. Dann brach die Corona-Pandemie aus, und internationale Organisationen bekamen Anderes zu tun als neue Welttage zu planen.

Das Virus schmilzt die Unterschiede weg

Indessen legt die Krise, die seit Monaten die Welt beutelt, das Trostpotential von Religionen frei. Aufrufe zum Gebet erheben sich überall. Auf einmal ist da eine breiter als bisher geteilte Sehnsucht nach dem Unendlichen, das Gläubige Gott, Allah oder anders nennen. In religiös vielfältigen Ländern entdecken sie, wie schwach, anfällig und gleichmäßig bedroht alle sind. Oft ist dieser Effekt beschrieben worden: Das Virus schmilzt die Unterschiede weg. Ob jemand Kippa trägt oder Kopftuch, ist für Corona Jacke wie Hose. So konnte vielleicht – ich gebe zu, es ist eine vage Wahrnehmung von Rom aus – der Wunsch nach einem Vereintsein im Religiösen, im Gebet, wachsen. Über die Grenzen der eigenen Religion hinaus.

Am Donnerstag ist es soweit: Gebet, Fasten und Werke der Barmherzigkeit für ein Ende der Corona-Pandemie. Der interreligiöse Welttag fällt in die letzten, als besonders heilig erachteten zehn Tage des Ramadan. Der Papst ist dabei und hat die Einladung an die katholische Universalkirche weitergegeben, der Großimam an die sunnitischen Gläubigen, der Weltkirchenrat an seine 350 protestantischen, anglikanischen und orthodoxen Mitgliedskirchen. Auch UN-Generalsekretär Guterres will mitbeten. Magische Effekte gegen das Virus werden nicht angepeilt. Die Einladung des Komitees hebt die "hochrelevante Rolle der Medizin und der wissenschaftlichen Forschung im Kampf gegen diese Epidemie" hervor und stellt doch klar, dass Beten hilft. Aus welchem Winkel der Welt und in welcher Tradition auch immer: Hinwendung zu Gott ist systemrelevant.

Von Gudrun Sailer

Kolumne "Römische Notizen"

In der Kolumne "Römische Notizen" berichtet die "Vatikan News"-Redakteurin Gudrun Sailer aus ihrem Alltag in Rom und dem Vatikan.