Enzyklika "Fratelli tutti": Papst ruft zu neuer Weltordnung auf
Mit einem eindringlichen Plädoyer für Geschwisterlichkeit und Freundschaft über alle Grenzen hinweg hat Papst Franziskus sich an die Menschheit gewandt. In der am Sonntag veröffentlichten Enzyklika "Fratelli tutti" mahnt er zu einer Abkehr von Egoismus auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Nur so ließen sich die Folgen der Corona-Pandemie und globale Herausforderungen wie soziale Ungleichheit und Migration bewältigen.
Anregungen auch von Nichtkatholiken
Sein Schreiben, das Züge einer Sozialutopie trägt, richtet der 83-Jährige ausdrücklich an "alle Menschen guten Willens" unabhängig von ihrem Glauben. Die Anregung zu dem Text erhielt Franziskus nach eigenem Bekunden auch durch den ägyptischen Großimam Ahmad Al-Tayyeb, einem führenden Islam-Gelehrten. Er ließ sich auch durch weitere Nichtkatholiken wie den US-Bürgerrechtler Martin Luther King, den südafrikanischen Anglikaner Desmond Tutu und Mahatma Gandhi inspirieren. Als päpstliches Grundsatzdokument hat die Enzyklika hohe Verbindlichkeit für 1,3 Milliarden Katholiken weltweit.
Während des sonntäglichen Angelus-Gebets auf dem Petersplatz sagte Franziksus, mit seiner Enzyklika wolle er den Weg der Brüderlichkeit aufzeigen zwischen allen Religionen und auch allen Völkern. Die Zeichen der Zeit sagten eindeutig, dass Geschwisterlichkeit und die Sorge für Gottes Schöpfung "der einzige Weg für eine ganzheitliche Entwicklung und für Frieden" sein könnten.
In dem 287 Artikel umfassenden Text wirbt der Papst dafür, nach dem Vorbild des heiligen Franziskus andere Menschen unabhängig von Herkunft oder sozialer Zugehörigkeit in freundschaftlicher Offenheit "anzuerkennen, wertzuschätzen und zu lieben". Wer meine, die globalen Probleme nach der Corona-Krise mit den alten Systemen lösen zu können, sei "auf dem Holzweg".
Beim Umgang mit Konflikten mahnt der Papst eine Stärkung der Vereinten Nationen an und fordert die Unterordnung nationaler Interessen unter das globale Gemeinwohl. Erneut verurteilt er Krieg und Rüstung als Mittel der Politik. Auch wendet er sich gegen einen zu großen Einfluss der Wirtschaft. Er verlangt die Einbeziehung aller gesellschaftlicher Gruppen, auch der Schwächsten, in Entscheidungs- und Entwicklungsprozesse. Dabei stellt er sich hinter eine "Option für die Armen" und das Recht auf kulturelle Identität gegen eine globale Gleichmacherei; diese verurteilt er als Kolonialismus.
Zum Thema Migration betont Franziskus, solange in den Herkunftsländern die Bedingungen für ein Leben in Würde fehlten, gelte es "das Recht eines jeden Menschen zu respektieren, einen Ort zu finden, an dem er nicht nur seinen Grundbedürfnissen und denen seiner Familie nachkommen, sondern sich auch als Person voll verwirklichen kann". Jedes Land sei "auch ein Land des Ausländers"; die Güter eines Territoriums dürften "einer bedürftigen Person, die von einem anderen Ort kommt, nicht vorenthalten werden".
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Am Samstag war der Papst nach Assisi gereist, um die Enzyklika am Grab des heiligen Franziskus (1181/82-1226) zu unterschreiben. Der mittelalterliche Bettelbruder gilt als Vorbild für eine radikale Zuwendung zu allen Menschen und Geschöpfen. "Fratelli tutti" ist seine dritte Enzyklika und folgt auf "Laudato si" von 2015. Auch dieses Schreiben zu Umwelt und sozialer Gerechtigkeit verwies auf Franz von Assisi.
Die anwesenden Pilger auf dem Petersplatz bekamen am Sonntag im Anschluss an das Mittagsgebet ein Exemplar der neuen Enzyklika geschenkt, in Form einer Sonderausgabe der Vatikanzeitung "L'Osservatore Romano". (gho/KNA)