Ehrenamtliche über Fragen und Nöte am Corona-Seelsorgetelefon

Seelsorgerin: Viele Menschen sind durch Corona total vereinsamt

Veröffentlicht am 25.10.2020 um 12:00 Uhr – Lesedauer: 

Berlin ‐ Mitte März haben die Kirchen in Berlin ein Corona-Seelsorgetelefon gestartet. Im Interview erzählt Seelsorgerin Uta Bolze von den häufigsten Fragen und Sorgen der Anrufer. Außerdem berichtet sie, wie sie mit Corona-Leugnern am Telefon umgeht und welche Gespräche sie besonders berühren.

  • Teilen:

Bereits kurz nach der Ankunft der Corona-Pandemie in Deutschland reagierten die beiden großen Kirchen in Berlin mit einem besonderen Angebot: dem Corona-Seelsorgetelefon. Seit Mitte März stehen Ehrenamtliche täglich von 8 bis 24 Uhr unter der Telefonnummer (030) 403 665 885 bereit, um Menschen bei ihren Sorgen und Nöten beizustehen. Dass der Bedarf für ein solches Angebot während der Pandemie da ist, zeigen die Anruferzahlen: Bislang führten die Seelsorger rund 2.500 Gespräche. Eine der beteiligten Seeslorgerinnen ist Uta Bolze. Im Interview mit katholisch.de spricht sie über ihre bisherigen Erfahrungen am Seelsorgetelefon, die häufigsten Fragen und Sorgen der Anrufer und den herausfordernden Umgang mit Corona-Leugnern.

Frage: Frau Bolze, Sie sind seit dem Start des Corona-Seelsorgetelefons als Ehrenamtliche dabei. Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Anruf?

Bolze: Ja, sehr genau sogar. Das war kurz nach dem Start des Angebots: Der Anrufer war ein türkischstämmiger Mann, der sehr verzweifelt war, weil seine Frau und seine Tochter in der Türkei waren und wegen der kurz zuvor erlassenen Reisebeschränkungen nicht nach Deutschland zurückkehren konnten. Der Mann war traurig und gestresst und fragte mich: "Was kann ich tun? Wer kann mir helfen?" Das waren die ersten Fragen, mit denen ich am Corona-Seelsorgetelefon konfrontiert war.

Frage: Was haben Sie dem Mann geantwortet? Eine konkrete Lösung für sein Problem konnten Sie ihm ja sicher nicht anbieten ...

Bolze: Nein, aber darum geht es beim Seelsorgetelefon auch nicht – jedenfalls nicht prioritär. Meisten sind die Anrufer einfach froh, dass sie ihre Sorgen und Nöte mit jemandem besprechen können. So auch in diesem Fall: Natürlich konnte ich an dem eigentlichen Problem des Mannes nichts ändern. Aber indem er mit mir gesprochen hat, ist er merklich ruhiger geworden, und wir haben gemeinsam überlegt, wie er mit der Situation umgehen und was er tun kann.

Frage: Jenseits dieses konkreten Falls: Was sind die häufigsten Themen bei den Gesprächen? Welche Sorgen und Nöte bringen die Anrufer vor?

Bolze: Die Themen sind natürlich ein Spiegelbild der Pandemie und ihrer Auswirkungen auf das Leben der Menschen. Viele Anrufer machen sich zum Beispiel Sorgen um ihre eigene Gesundheit oder die Gesundheit von Angehörigen und Freunden. Sie beschreiben teilweise konkrete Krankheitssymptome und möchten dann wissen, wie sie damit umgehen sollen. Andere Anrufer wiederum berichten von existentiellen Nöten, weil sie zum Beispiel im Zuge der Pandemie ihre Arbeit verloren haben oder seit Monaten in Kurzarbeit sind – mit den entsprechenden finanziellen und sozialen Konsequenzen.

Eine Frau ist traurig und verzweifelt.
Bild: ©stokkete/Fotolia.com

"Ich erlebe am Telefon viele Menschen, die angesichts der Kontaktbeschränkungen total vereinsamt sind und heftig unter dem Abbruch fast aller Sozialkontakte leiden", so Seelsorgerin Bolze.

Frage: Welche Rolle spielt das Thema Einsamkeit?

Bolze: Eine sehr große. Ich erlebe am Telefon viele Menschen, die angesichts der Kontaktbeschränkungen total vereinsamt sind und heftig unter dem Abbruch fast aller Sozialkontakte leiden. Eine Anruferin hat mir etwa gesagt: "Ich lebe allein. Mein Chor trifft sich nicht mehr und auch mein Sport findet nicht statt. Ich bin so traurig." Das sind Gespräche, die mich sehr berühren, weil sie mir zeigen, dass viele Menschen kein Umfeld haben, in dem sie ihre Sorgen und Nöte besprechen und sich gegenseitig beruhigen und stärken können.

Frage: Dieses Problem dürfte angesichts der inzwischen wieder stark ansteigenden Infektionszahlen und der nun beginnenden dunklen Jahreszeit weiter zunehmen, oder?

Bolze: Ja, ganz sicher – und das bereitet mir Sorgen. Im Sommer konnte man trotz der Kontaktbeschränkungen zwischendurch immerhin mal an die frische Luft gehen und die Sonne genießen. Das geht im Herbst und Winter so nicht, und das ist für viele Menschen eine zusätzliche Belastung. Wir erleben am Seelsorgetelefon auch, dass der Alltag von Menschen mit psychischen Erkrankungen durch das Virus massiv belastet ist, weil wichtige Unterstützungsangebote seit Monaten nur noch per Telefon oder digital erreichbar sind. Das ist vor allem für Suchterkrankte ein Problem, deren Selbsthilfegruppen sich nicht treffen können. Das kann zu Rückfällen und stark depressiven Phasen mit Suizidgedanken führen.

Frage: Sind davon viele Anrufer betroffen?

Bolze: Das kann ich im Augenblick nur für meine Dienste genauer beziffern: Ich habe seit März insgesamt etwa 90 Gespräche am Seelsorgetelefon geführt, darunter waren sechs oder sieben, bei denen die Anrufer tatsächlich suizidgefährdet waren. Solche Gespräche sind natürlich eine enorme Herausforderung – aber sie sind auch eine große Chance, denn solange die Betroffenen am Telefon mit mir reden, tun sie sich nichts an.

„Wer davon überzeugt ist, dass das Virus in Wahrheit gar nicht existiert, sondern die Pandemie eine Verschwörung der politischen Eliten ist, ist nach meiner Erfahrung mit Argumenten meist nicht mehr zu erreichen.“

—  Zitat: Uta Bolze

Frage: Rufen auch Corona-Leugner an?

Bolze: Ja, aber das ist eher die Ausnahme.

Frage: Wie gehen Sie mit solchen Anrufern um?

Bolze: Natürlich versuche ich, auch mit diesen Menschen ein Gespräch zu führen und mich ihnen sachlich anzunähern. Aber das ist meist sehr schwierig. Wer etwa davon überzeugt ist, dass das Virus in Wahrheit gar nicht existiert, sondern die Pandemie eine Verschwörung der politischen Eliten ist, ist nach meiner Erfahrung mit Argumenten meist nicht mehr zu erreichen. In einzelnen Fällen – vor allem dann, wenn die Anrufer mir gegenüber aggressiv wurden – habe ich solche Gespräche auch schon mal vorzeitig beendet.

Frage: Der Streit um das Virus und seine Gefährlichkeit hat in den vergangenen Monaten auch Familien und Freundeskreise entzweit. Merken Sie das am Telefon?

Bolze: Ja, wir haben tatsächlich viele Anrufer, bei denen der Konflikt um Corona in der Familie aufgebrochen ist. Bei mir rief vor Kurzem zum Beispiel eine junge Frau an, die mir schilderte, dass sie ihren Partner inzwischen kaum noch wiedererkenne. Der glaube nicht an die Gefahr durch das Virus, weigere sich, eine Maske zu tragen und gerate wegen der geltenden Schutzmaßnahmen auch in Gegenwart ihres gemeinsamen Kindes schnell mit anderen Menschen aneinander. Die Frau war wirklich verzweifelt, weil sie überhaupt nicht wusste, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte. Speziell für solche Fälle haben wir beim Seelsorgetelefon inzwischen eine Liste mit Anlaufstellen, an die wir die Betroffenen bei Bedarf verweisen können.

Frage: Was schätzen Sie: Wie lange wird das Corona-Seesorgetelefon noch gebraucht?

Bolze: Das kann niemand sagen. Klar ist aber: Die vergangenen Monate haben deutlich gezeigt, wie wichtig dieses Angebot ist. Zumal das Seelsorgetelefon für uns Kirchen eine große Chance ist zu zeigen, dass wir den Menschen in dieser Pandemie zur Seite stehen und unsere Unterstützung anbieten.

Von Steffen Zimmermann

Zur Person

Uta Bolze (*1971) arbeitet hauptamtlich im Erzbischöflichen Ordinariat des Erzbistums Berlin. Ehrenamtlich engagiert sie sich seit vielen Jahren in der Notfallseelsorge.