Verrat oder Friedensinstrument: Die zwei Gesichter der Heuchelei
Heuchler haben keinen guten Leumund. Auch in der Bibel kommen sie nicht gut weg, immerhin sagt Jesus in der Bergpredigt: "Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Heuchler! Sie stellen sich beim Gebet gern in die Synagogen und an die Straßenecken, damit sie von den Leuten gesehen werden. Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten." (Mt 6,5) Immer wieder trifft die Anklage von Heuchelei auch die Pharisäer, wie – ebenfalls bei Matthäus – im 23. Kapitel: "Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr verschließt den Menschen das Himmelreich. Denn ihr selbst geht nicht hinein und lasst die nicht hinein, die hineingehen wollen." (Mt 23,13) Ganz schön harte Worte für ein vielleicht unredliches, aber oft scheinbar wenig schadhaftes Verhalten. Denn den eigenen Glaubenseifer etwas zu übertreiben ist eine sehr menschliche Verhaltensweise.
Doch wenn die Bibel von Heuchelei spricht, dann tut sie das mit einem etwas anderen Fokus als es das heutige Verständnis des Begriffs nahelegen würde. Bezeichnet "Heuchler" heute jemanden, der eine kognitive Dissonanz lebt, also andere Dinge sagt als er tut (Heinrich Heine bezeichnete das als "Wasser predigen und Wein trinken"), ist für die Bibel (in der jüdischen Tradition) ein Heuchler ganz prinzipiell auf dem Holzweg. "Den Pharisäern wird keine Schauspielerei vorgeworfen, sondern falsche Prioritäten. Damit stehen Sie der Wahrheit des Evangeliums entgegen", sagt der Erfurter Exeget Thomas Johann Bauer.
Der zentrale Vorwurf gegen sie ist eine "Veräußerlichung" der Religion: Ihnen würde es nur um die Befolgung von Regeln und den Vollzug von Ritualen gehen, das Streben nach einer größeren Gerechtigkeit gehöre nicht dazu. Mit der Realität der damaligen Pharisäer hat das nichts zu tun. Sie waren die religiösen Intellektuellen ihrer Zeit. Anstatt – wie die alte und zunehmend korrumpierte Tempel-Elite, die Sadduzäer – den Schwerpunkt des Glaubenslebens auf die Tempel- und Opferkulte zu legen und die Thora wortwörtlich zu nehmen, wollten sie auch überlieferte Traditionen wertschätzen und die in der Thora niedergeschriebenen Gesetze interpretieren. Sie dachten also auch aus heutiger Sicht modern, die Ansichten Jesu waren den ihren oft nicht so fern.
Pharisäer als Ziel von Angriffen
Warum werden sie dann in den Evangelien das Ziel von Angriffen? Dafür hilft ein Blick nicht auf die Zeit Jesus, sondern auf die Entstehung des Matthäusevangeliums einige Jahrzehnte später: "Hier wird von der Jesusbewegung ein bewusstes Gegenbild erschaffen, um sich zu profilieren", sagt Bauer. Nach und nach löst sich die Gruppe vom Judentum und baut ihre eigene Identität auf, dazu will sie sich bewusst von ihrem Ursprung absetzen. Das Judentum hat sich seit dem Wirken Jesu allerdings stark gewandelt: Nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels sind zahlreiche Spielarten des Judentums verschwunden, überlebt hat bis zum heutigen Tag das rabbinische Judentum, das auf die Pharisäer zurückgeht. Daher das schiefe Bild. Matthäus lebt und wirkt in einem Umfeld, in dem Vertreter des beginnenden Christentums mit Juden eng aneinander leben. Deshalb kommen die Pharisäer bei ihm am schlechtesten weg. Auch auf der anderen Seite ist seine Gegenüberstellung nicht unbedingt belastbar: "Es ist nicht belegt, dass die Jesusbewegung so wenig äußerlich ihre Religion gefeiert hat wie sie es darstellt. Denn es gab zumindest gemeinschaftliche Gebete", so Bauer. Der Heucheleivorwurf ist also ein Schattenspiel zur Selbstbekräftigung – und selbst etwas geheuchelt.
Der Evangelist begegnet einer von ihm bei anderen angekreideten kognitiven Dissonanz also mit einer eigenen. Das ist die zweite Geschichte der Heuchelei, die die Bibel erzählt. Denn auch unter den Aposteln war man über die praktische Umsetzung von Glaubenssätzen unterschiedlicher Ansicht. Ein Beispiel dafür findet sich im zweiten Kapitel des Galaterbriefs. Im Zentrum steht die Frage, ob Nicht-Juden erst Juden werden müssen (und sich dafür etwa beschneiden lassen und die jüdischen Speiseregeln befolgen müssen), um Teil der Jesusbewegung werden zu können. Paulus reist zu einem Treffen nach Antiochia: Trotz unterschiedlicher Praxis hatten sich die Gemeinden in Antiochia und Jerusalem um eine grundsätzliche Einigung bemüht, die jedoch erneute Konflikte nicht verhindern konnte. Paulus berichtet von einem Konflikt mit dem der Gemeinde in Jerusalem angehörenden Petrus in Antiochia. Dabei stellt er Petrus zur Rede: "Bevor nämlich einige von Jakobus eintrafen, hatte er mit den Heiden zusammen gegessen. Nach ihrer Ankunft aber zog er sich zurück und sonderte sich ab, weil er die aus der Beschneidung fürchtete. Und mit ihm heuchelten die anderen Juden, sodass auch Barnabas durch ihre Heuchelei mitgerissen wurde." (Gal 2,12-13) Petrus hatte sich also zunächst dem ortsüblichen gemeinsamen Mahl von Judenchristen und Heidenchristen angeschlossen. Erst, als andere Mitglieder aus der Gemeinde von Jerusalem nach Antiochia kamen, sonderte er sich zusammen mit anderen Gemeindemitgliedern ab. Er hatte sich also zunächst der Praxis der Gemeinde von Antiochia angeschlossen. Dass er dann aber aus Rücksicht auf die Leute aus Jerusalem die Mahlgemeinschaft mit den unbeschnittenen Heiden in der Gemeinde aufgibt, brandmarkt Paulus als Heuchelei des Petrus und Verrat an seiner zuvor praktizierten Überzeugung.
Verschiedene Überzeugungen
Was eine kognitive Dissonanz ist und was nicht, hängt also auch nur von der eigenen Überzeugung ab und wie wichtig Einzelnen Aspekte ihres Welt- und damit Glaubensbildes sind. Das friedliche Zusammenleben und die Konfliktfreudigkeit spielen ebenso eine Rolle. War Paulus sehr konfliktfreudig, hat sich Petrus im Galaterbrief für den Wert der Gemeinschaft aller und damit gegen die Austragung des Konflikts entschieden. Was Paulus hier Heuchelei nennt, könnte in modernen Worten als Abwägung oder Kompromiss verstanden werden.
Diese Hintanstellung der eigenen Überzeugung spielt vor allem in Zusammenhängen eine Rolle, in den Menschen verschiedener Überzeugungen nah aneinander wohnen oder im Alltag miteinander zu tun haben. Ein Beispiel schildert der Historiker Thomas Weller: Im Spanien der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts verstand sich das Königshaus als Verfechter des Katholizismus, die Verfolgung etwa von Protestanten und Juden durch die Inquisition war an der Tagesordnung. Dort lebten allerdings aus beruflichen Gründen auch Hamburger Kaufmannsgesellen, die Protestanten waren. Sie wurden nicht behelligt, vorausgesetzt, dass sie sich in der Öffentlichkeit nicht als Protestanten zu erkennen gaben. Das war für die Gesellen nicht immer einfach. Sie berichteten zum Beispiel, dass sie Prozessionen gezielt aus dem Weg gingen, um der Eucharistie nicht die Ehre erweisen zu müssen – für sie als Protestanten wäre das ein Unding gewesen. Außerdem kauften sie sich Dispensen, um in der Fastenzeit Fleisch essen zu dürfen und nicht zur Beichte oder Kommunion gehen zu müssen.
Verstellung als Grundlage der Duldung
Dieses Verhalten, dieser "Deal", ist aus damaliger wie heutiger Sicht eine kognitive Dissonanz aus dem Bilderbuch – aber sie hat funktioniert. Die katholische Kirche in Spanien und die protestantische in Deutschland duldeten die Praxis zumindest – und veränderten ihr eigenes Handeln: "Wechselseitig akzeptierte Praktiken der Dissimulation und Verstellung bildeten gleichsam die Grundlage für die Duldung der Angehörigen fremder Konfession, die immer seltener zum Opfer von Nachstellungen und Verfolgung durch die spanische Inquisition wurden", schreibt Weller.
Eine kognitive Dissonanz kann also auch hilfreich sein und zu einem friedlichen Zusammenleben beitragen. Dabei kommt es zum einen auf die Motivation dieser Dissonanz an, ob es sich also um eine Verschleierung der wirklichen eigenen Motive oder um ein Zugeständnis an die Allgemeinheit handelt. Außerdem spielt eine Rolle, wie weitreichend die Dissonanz ist, also wie grundlegend die Überzeugungen sind, die aufs Spiel gesetzt werden. Zuletzt bleibt zu beachten, dass Einzelne immer unterschiedliche Überzeugungen haben und diese mit sehr individueller Entschiedenheit vertreten. Richtig reflektiert und eingesetzt kann aus der Schmähung der Heuchelei also auch eine Geschichte der Toleranz werden.