Die Psalmen – Eine Schule des Betens
Die Psalmen seien der einzige Weg, um die Erfahrung eines wirklich tiefen Gebets zu machen, glaubte der heilige Romuald. Mit dieser auf den ersten Blick übertriebenen Behauptung ist er tief verwurzelt in der christlichen Tradition. Das Buch der Psalmen ist das im Neuen Testament meistzierte Buch des Alten Testaments. Schon in den Anfängen des Christentums war die Bedeutung der jüdischen Psalmen so groß, dass die ersten Christen kein neues, christliches Psalmenbuch verfassten. Seither werden diese alttestamentlichen Texte als Gebet mit Jesus zu Gott dem Vater und als Gebet über Jesus als Sohn Davids und Messias gebetet – und ihre Popularität ist ungebrochen.
Schon im 4. Jahrhundert schrieb Athanasius, der Bischof von Alexandrien an einen Marcellinus, den er dafür lobte, dass er sich mit den Psalmen intensiv beschäftigte: "In der Tat, zusätzlich zu dem, was das Buch der Psalmen mit den übrigen Büchern der Heiligen Schrift teilt und gemeinsam hat, besitzt es auch noch diese erstaunliche Eigenschaft, dass es die Regungen der Seele, ihre jeweilige Veränderung und ihre Hinwendung zu Gott in sich eingeschrieben und eingeprägt hat." In den Psalmen findet der Leser und Beter das gesamte menschliche Spektrum der Gefühle wieder, von der Todesangst bis zur Freude über das Leben, von der Wut bis zur Vergebung: von "mit Leid ist meine Seele gesättigt, mein Leben berührt die Totenwelt" (Psalm 88,4) bis "mit meinem Gott überspringe ich Mauern" (Psalm 18,30). In einem Brief an seinen Verleger schrieb der Dichter Rainer Maria Rilke einst: "Ich habe die Nacht einsam hingebracht und ich habe schließlich die Psalmen gelesen, eines der wenigen Bücher, in denen man sich restlos unterbringt, mag man noch so zerstreut und ungeordnet und angefochten sein." Der Psalter ist sozusagen der Spiegel der menschlichen Seele, wie es Martin Luther in Worte gefasst hat.
Gebete oder Lieder zu Gott oder über Gott
Nüchtern betrachtet sind die Psalmen 150 poetische Texte, die in einem biblischen Buch zusammengefasst sind und die als Gebete oder Lieder zu Gott oder über Gott verfasst und heute gelesen, gebetet und gesungen werden. Die Bezeichnung "Psalmen" geht zurück auf das griechische Wort ψαλμὸς (gesprochen: psalmos), das in der antiken, griechischen Übersetzung über vielen Psalmen steht. Es bedeutet "Saitenspiel", beziehungsweise "ein Lied, das von einem Psalterion [einer Art Leier] begleitet wird". Ein Bibelmanuskript aus dem 4. Jahrhundert überschreibt alle 150 Psalmen als Buch der Psalmen. In einem hundert Jahre jüngeren Manuskript findet sich dann der auch heute bekannte Titel "Psalter", wodurch das Buch der Psalmen sozusagen zu einem Musikinstrument vor Gott geworden ist.
„Alles, was atmet, lobe den HERRN. Halleluja!“
In der jüdischen Tradition trägt das Buch der Psalmen den Namen ספר תהילים (gesprochen: sefer tehillim). Diese Überschrift, die man mit "Buch der Lobpreisungen" übersetzen kann, findet sich bereits im 1. Jahrhundert v. Chr in einer Schriftrolle aus Qumran. Eine noch ältere Bezeichnung scheint die Benennung der Psalmen als תפילות (gesprochen: tefilot), als Bittgebete zu sein. Die Vielzahl der Überschriften zum Buch der Psalmen verdeutlicht zwei bedeutende Aspekte: 1. Das Buch wird sowohl Buch der Lobpreisungen als auch Buch der Bittgebete genannt, wobei das Buch sowohl aus Klagen und Bitten als auch aus Dank und Lobpreis besteht. 2. Das Buch wird als Sammlung von Einzeltexten bezeichnet als auch als eine Einheit betrachtet.
Als Buch sind in den Psalmen Klagen, die in Bitten enden, und der Lobpreis, der aus Dank erwächst, ineinander verschränkt. Doch das letzte Wort am Ende des Psalters hat der Lobpreis – genauer gesagt die zehnfache Aufforderung zum Loben Gottes mit der Schlussaussage: "Alles, was atmet, lobe den HERRN. Halleluja!" Die Aufforderung des Hallelujas durchzieht die letzten Psalmen von Psalm 146 bis zur Kulmination in diesem letzten Vers und verdeutlicht, dass der ganze Psalter sozusagen die Hofmusik für Gott den König ist. Sie sind Ausdruck der Freude über Gottes Gegenwart in der Welt und die Schöpfung der Welt – sie sind das absolute Ja zu Gott.
Im Lobpreis Gottes vollendet sich das Glück des Menschen
So führen bei einer Bahnlesung der Psalmen alle Psalmen schlussendlich zu diesem Lobpreis Gottes. Alle Psalmen lesen sich als Vorbereitung, um in diesen Lobpreis einstimmen zu können, in der Gewissheit, dass die universale Königsherrschaft Gottes im Kommen ist. Noch mehr: Der Mensch selbst, der als "aller Atem" angesprochen ist, soll erkennen, dass er im Beten des Psalters, ausgerichtet auf das Lob, seinen Lebenssinn findet. Im Lobpreis Gottes vollendet sich das Glück des Menschen, das der Psalter an seinem Anfang in Psalm 1 als zu lernenden "Weg der Gerechten" präsentiert. Dieser Psalm bietet das Idealporträt des Psalmenbeters, zu dem das Buch der Psalmen seinen Leser anleitet, der Gefallen haben soll "an der Weisung des HERRN, bei Tag und bei Nacht über seine Weisung nachsinnt".
Der hier in der revidierten Einheitsübersetzung mit "Weisung" wiedergegebene Wort ist תּוֹרָה (gesprochen: torah). Gemeint ist damit nicht nur der Pentateuch, die ersten fünf Bücher des Alten Testaments, die in der jüdischen Tradition ebenso als Tora bezeichnet werden, sondern Psalm 1 verdeutlich, dass mit dieser Tora die Gesamtbekundung des Willens Gottes gemeint ist, wie man sie anhand des Psalters erlernen kann. Psalm 1 verdeutlicht, dass mit dieser Tora, die der Psalter ist, der Mensch auf die Welt blicken kann: dass es viele ungerechte Menschen gibt, die die Gerechten bedrängen; dass im Leben neben der Freude auch viel Klage herrscht: dass das Leben als bedrängtes Leben erlebt wird, dass Strukturen des Bösen und der Sünde das eigene Leben prägen – aber auch dass Gott verzeiht, dass er rettet, dass es eine Gemeinschaft der Gerechten gibt, dass Gott in der Geschichte schon gehandelt hat – und dass letztlich das Lob obsiegen wird. All dies kommt im Psalter zur Sprache.
Und die Worte des Psalters werden im christlichen Glauben sowohl als Menschenwort als auch als Gotteswort gesprochen. Die Aufklärung und in ihrem Gefolge das Entstehen der historisch-kritischen Forschung hat gipfelnd im Zweiten Vatikanischen Konzil die Bibel wieder nicht nur als Gotteswort, sondern auch als Menschenwort betont. Bereits der evangelische Alttestamentler Gerhard von Rad bezeichnete die Psalmen als "Antwort Israels" auf die Heilstaten Gottes: "das Volk hat nicht nur immer neu angesetzt, um sich in geschichtlichen Entwürfen diese Taten Jahwes zu vergegenwärtigen, es hat auch Jahwe ganz persönlich angeredet, es hat ihn gepriesen, es hat ihn gefragt und ihm auch alle seine Leiden geklagt, denn Jahwe hat sich sein Volk nicht als stummes Objekt seines Geschichtswillens, sondern zum Gespräch erwählt."
Die Psalmen sind eine reflektiere Antwort des Volkes Israel und jedes Einzelnen auf die Begegnung mit dem Gott, der sich als JHWH ihnen vorgestellt hat. Es ist aber mehr als die Antwort auf die geschichtlichen Ereignisse, sondern es ist die immer wieder neue Vergewisserung des Gottes, der ohne Kultbild dennoch "greifbar" ist. Der Gott Israels hat mit seiner Namensoffenbarung im Dornbusch sich für das Volk Israel und für den Einzelnen ansprechbar gemacht. Doch nicht in einem magischen Sinne, dass der Name, wie im Märchen von Rumpelstilzchen eine Verfügbarkeit ausdrückt, sondern, der offenbarte Name Gottes ist zugleich Verweigerung und Zusage: "Ich bin, der ich bin", wie er in Exodus 3,14 sagt. Gott stellt Beziehung zwischen sich und dem Menschen her und macht sich für den Menschen anrufbar.
Die Taten Gottes fordern zu einer Antwort der Menschen heraus
Die Gebete im gesamten Alten Testament präsentieren Gott als einen sprechenden und handelnden Gott, der auf die Menschen zugeht. Und gleichzeitig als einen hörenden Gott, der sozusagen zur menschlichen Antwort einlädt. Noch mehr: Die Taten Gottes fordern zu einer Antwort der Menschen heraus. Sie sind unvollständig ohne diese Antwort. Und doch gilt gleichzeitig, dass das Movens immer von Gott ausgeht, der Mensch immer nur auf Gott antworten kann. Die gesamte Anlage der Schöpfung ist dieser Dialog, der sich im Gebet fortsetzt und der als Dialog beide Seiten voraussetzt. Gerade im Verständnis des Bundes zwischen Gott und Mensch heißt dies eben auch, dass Gott in seiner Allmacht nicht nur Lob und Preis verlangt, sondern von seinem Bundespartner auch Klage und Bitte annimmt. Dabei gilt, dass verschiedene Menschen zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Situationen sozusagen einen speziellen Gott benötigen. Das Gottesbild der Gebete ist nicht objektiv, es ist vielmehr eine Darstellung Gottes, die dem Leben abgerungen ist – dem Leben, an dem sich jede Theologie messen muss.
Oscar Wilde schrieb einmal: "Ein Gebet darf niemals beantwortet werden: wenn das geschieht, hört es auf, ein Gebet zu sein und wird eine Korrespondenz." Auch diese Antwort Israels ist keine Letztantwort, sondern ein Ringen und eine Suche nach dem Erfahren der Letztantwort, dass immer wieder in einen Glaubensentscheid des Betenden sein vorläufiges Ende findet. Hierbei gilt, dass der Mensch im Gebet nicht einfach vor Gott steht, sondern sich als ganze Person ihm stellt. Wenn nun der Psalter als ein Gebetsbuch wahrgenommen wird und ein Dialog des Gottesvolks durch die Geschichte hindurch mit Gott ist, was heißt dies dann? Denn die Psalmen sind nicht nur Gebete des Gottesvolkes, sondern sie werden als Teil der Bibel auch als Gotteswort geglaubt: Im kanonischen Psalter gibt Gott selbst die Gebetsworte den Menschen vor und lehrt sie beten. Man betet heute mit von Gott gegebenen Worten zu Gott – so ist Gott selbst der Beter, dessen was wir als Gebet im Psalter vorliegen haben. Gott selbst richtet durch das Menschenwort Klage und Bitte an sich!
„Ein Gebet darf niemals beantwortet werden: wenn das geschieht, hört es auf, ein Gebet zu sein und wird eine Korrespondenz.“
Dietrich Bonhoeffer schreibt in einer kleinen, 1940 erschienen Schrift über den christlichen Umgang mit den Psalmen als Gebetbuch der Bibel: "Wenn also die Bibel auch ein Gebetbuch enthält, so lernen wir daraus, dass zum Worte Gottes nicht nur das Wort gehört, das er uns zu sagen hat, sondern auch das Wort, das er von uns hören will." In diesen Worten bringt er den Doppelcharakter des Psalters als Wort zu Gott und als Wort von Gott zur Sprache. Dies zeichnet den Psalter aus und gibt ihm eine Sonderrolle, denn in keinem anderen Buch der Bibel findet sich diese doppelte Adressierung in derartiger Weise und Dichte. Das Alte Testament als Ganzes ist nicht nur ein Artefakt der Gottesbegegnung Israels als vergangenes Geschehen, sondern setzt diese Begegnungsmöglichkeit gegenwärtig, eröffnet die Gegenwart als Teil der Heilsgeschichte als Raum der Gottesbegegnung. Die Glaubensgemeinschaft empfängt den Psalter als Wort von Gott, als unterweisende Erzählung, die zu nachhaltiger Meditation einlädt (siehe Psalm 1,2). Im Psalter angekommen und aufgehoben, stoßen wir auf eine Vielzahl von Worten zu Gott, die uns als Gebete zum Mitbeten und Mitsingen einladen. Gott kommt im göttlichen Wort zu uns und führt uns mit demselben, das zugleich menschliches Wort ist, zu sich.
Identifizierung, Nachvollzug und Solidarisierung
In den Psalmen sind die Erfahrungen Israels gesammelt. Seither haben sich in langer Geschichte die jüdischen und christlichen Gemeinden und darüber hinaus viele Menschen darin wiedergefunden. Ihr Doppelcharakter als Menschen- und Gotteswort führt dazu, dass menschliche Erfahrung nicht nur aufgenommen, sondern zugleich transportiert und transformiert wird. Als Menschenwort laden die vielen Ich- und Wir-Aussagen der Psalmen zu Identifizierung, Nachvollzug und Solidarisierung ein. Sie steigen mit den Menschen hinab in deren tiefste Nöte, führen aber auch zu höchstem Lob und lassen so die ganze Lebenswirklichkeit darin aufgehoben sein. Sie helfen Menschen, nicht nur über ihr Leid und ihre Freude zu reden, sondern reichen Worte dar, in denen Leid und Freude zu Gott gebracht werden können, weil sich Gott mit diesen Worten in einzigartiger Weise verbindet und solidarisiert. So ist der Psalter das Gespräch verschiedenster Gruppen und Menschen mit Gott und untereinander.
Der heutige Leser und Beter finden sich selbst wieder in diesem Gespräch der Betergemeinschaft von der Entstehung des Psalters bis ins Heute. Er weiß, dass er in diesem Diskurs nicht das erste Wort gesprochen hat, sondern er erkennt, dass Gott selbst schon immer zu ihm spricht und ihm sogar für seine persönliche Antwort auf Gott die passenden Worte gibt – Worte des Klagens, der Bitte, des Dankes und des Lobes, in denen der Mensch sich vollends wiederfinden kann und die zugleich eine Schule des Betens sind.