Serie: Mit den Psalmen das Beten lernen – Teil 3

Mit den Psalmen das Bitten lernen

Veröffentlicht am 24.04.2021 um 12:19 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die Psalmen lehren, dass man Gott bitten kann, nahezu muss. Schließlich wäre der Glaube an seine Barmherzigkeit sinnlos, wenn man ihn in tiefster Not nicht rufen könnte. Dennoch steht in den Bittpsalmen die Beziehung der Betenden zu Gott auf dem Spiel, erklärt unser Autor.

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Die Not lehrt nicht das Gebet, sondern das Bitten. Keine der verschiedenen Arten des Gebets ist selbstverständlicher in der Glaubenspraxis als das Bittgebet – und zugleich häufen sich gegen diese Art des Sprechens zu Gott die kritischen Anfragen aus der Theologie, Philosophie und den Naturwissenschaften. Denn wer zu Gott ruft, schreit, weint, stöhnt, und ihn so bittet, geht davon aus, dass dieser mit "Du" angeredete Gott schöpfungs- und geschichtsmächtig ist – und dies nicht nur in einer abstrakten Heilsgeschichte, sondern in der persönlichen Erfahrung: "Ich habe laut zum HERRN gerufen; da gab er mir Antwort von seinem heiligen Berg. Ich legte mich nieder und schlief, ich erwachte, denn der HERR stützt mich", bekennt der Beter in Psalm 3,5-6.

Und Gott selbst verheißt in den Psalmen demjenigen, der an ihn glaubt und auf ihn vertraut: "Ruft er zu mir, gebe ich ihm Antwort. In der Bedrängnis bin ich bei ihm, ich reiße ihn heraus und bring ihn zu Ehren" (Psalm 91,15). Gott lässt mit sich reden, er lässt sich bitten. Die Psalmen und weitere Teile des Alten Testaments lehren einen Gott, der nicht nur die Umkehr der Menschen verlangt, sondern auch selbst zur Umkehr und zum Handeln bereit ist; so spricht Gott im Buch Hosea: "Gegen mich selbst wendet sich mein Herz, heftig entbrannt ist mein Mitleid. Ich will meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken" (Hosea 11,8-9).

Aus der Klage erwächst die Bitte

Die Psalmen lehren, dass man Gott bitten kann, ja bitten muss. Was wäre das für ein Gott, zu dem man in tiefster Not nicht rufen könnte? Es wäre nicht der barmherzige Gott, zu dem im Christentum bittend das Vaterunser gebetet wird. Doch zugleich ist ein Bittgebet, das auf Erhörung, beziehungsweise auf einen erhörenden Gott hofft, der Ernstfall für den Glauben an einen den Menschen zugewandten Gott – denn Erfahrungen, dass Gott ausgesprochene Bitten nicht erhört, gibt es genügend. Dies wird auch in den Psalmen thematisiert, wenn Gott angeklagt wird, dass er die Hilfeschreie seiner Gläubigen nicht erhört; doch aus der Klage erwächst immer wieder neu die Bitte: "Gott, höre mein Gebet und verbirg dich nicht vor meinem Flehen" (Psalm 55,2).

Die Bitten in den Psalmen sind zahlreich. Ihr grundlegendes Anliegen ist der Hilferuf zu Gott. Es ist ein Schrei nach Aufmerksamkeit: "Höre, HERR, meine Worte, achte auf mein Seufzen!" (Psalm 5,2). Gott möge durch eine Antwort wieder zum Beter in seiner Not in Beziehung treten: "Wenn ich rufe, gib mir Antwort, Gott meiner Gerechtigkeit!" (Psalm 4,2). Konkret soll Gott in der Not handelnd eingreifen: "HERR, wende dich mir zu und errette mich, um deiner Güte willen bring mir Hilfe!" (Psalm 6,5). Er soll sich als der barmherzige, gnädige, langmütige Gott, der reich an Huld und Treue ist (vgl. Exodus 34,6) erweisen: "Du aber, Herr, bist ein barmherziger und gnädiger Gott, langsam zum Zorn und reich an Huld und Treue. Wende dich mir zu und sei mir gnädig, gib deinem Knecht deine Stärke und rette den Sohn deiner Magd!" (Psalm 86,15-16). Dazu gehört auch die Bitte um Vergebung: "Gott, sei mir gnädig nach deiner Huld, tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmen! Wasch meine Schuld von mir ab und mach mich rein von meiner Sünde!" (Psalm 51,3-4).

Der Bittende vertraut sein Schicksal ganz Gott an und bittet um Gottes Führung im Leben: "Weise mir, HERR, deinen Weg, leite mich auf ebener Bahn wegen meiner Feinde!" (Psalm 27,11). Dass in dem Kontext der Bitten auch "Feinde" genannt werden können, überrascht viele heutige Beter. Mit drastischen Worten kann man gar beten: "Vergilt ihnen, wie es ihrem Treiben entspricht und ihren bösen Taten! Vergilt ihnen, wie es das Werk ihrer Hände verdient! Wende ihr Tun auf sie selbst zurück!“ (Psalm 28,4) – und zugleich erhebt sich der Beter moralisch in den Psalmen oft gegenüber den Feinden: „Mein Schutz ist Sache Gottes, er ist Retter derer, die redlichen Herzens sind.“ (Psalm 7,11); beziehungsweise als Bitte formuliert: "Verschaffe mir Recht, HERR, nach meiner Gerechtigkeit, nach meiner Unschuld, die mich umgibt!" (Psalm 7,11). Die Bitten gegen die Feinde sind jedoch keine selbstgerechten Racherufe, sondern die Bitte um Gerechtigkeit in dieser Welt.

Bild: ©Fotolia.com/B-C-designs

Eine Frau liest im Buch der Psalmen.

In den Bitten der Psalmen erklingt die Sicht von Bedrängten und Schwachen, die kein anderes Mittel mehr haben als die Macht des Gebets. Für das Bittgebet, wie es die Psalmen lehren, gelten die Worte aus Psalm 22,11: "Sei mir nicht fern, denn die Not ist nahe und kein Helfer ist da!" Es ist das Gebet derjenigen, die ihre Existenz radikal auf Gott ausrichten und ihre eigene Hilflosigkeit vollends der Macht Gottes anvertrauen: "Du aber, HERR, halte dich nicht fern! Du, meine Stärke, eile mir zu Hilfe!" (Psalm 22,19). In dieser Ausweglosigkeit lehren die Psalmen nicht nur das Vertrauen, sondern auch eine gewisse Chuzpe. Nicht nur motivieren die Psalmen Gott durch die Erinnerung an sein vorheriges Handeln zum Handeln (Psalm 22,3-5), sondern Gottes eigene Ehre stehe indirekt in Frage durch das Schicksal des Beters: "Du aber, GOTT und Herr, handle an mir, wie es deinem Namen entspricht! Ja, gut ist deine Huld, befreie mich!" (Psalm 109,21) – oder sehr direkt formuliert: "Warum dürfen die Völker sagen: Wo ist nun ihr Gott? Lass kund werden unter den Völkern vor unsern Augen, wie du das vergossene Blut deiner Knechte vergiltst!" (Psalm 79,11).

In den Bitten der Psalmen steht die Beziehung der Betenden zu Gott auf dem Spiel. In der Welt des Alten Testaments, in der der Glaube an die Auferstehung sich erst langsam entwickelt und noch keine 'Selbstverständlichkeit' ist, kann gar formuliert werden, dass im Schicksal der Hilfesuchenden das Gott-Sein Gottes auf dem Spiel steht, wenn sein Lobpreis in dieser Welt nicht mehr erklingt: "Denn im Tod gibt es kein Gedenken an dich. Wer wird dich in der Totenwelt preisen?" (Psalm 6,5). So ist es auch nicht verwunderlich, dass in den Psalmen die Vertrauenszuversicht auf Gott ebenso verbreitet ist wie die Anklage gegen ihn – Gott wird bekannt als der Gott der Rettung.

Not – Bitte – Gewissheit

So endet das Musterbeispiel eines Klage- und Bittgebets, Psalm 13, in einem Vertrauensbekenntnis und einem Lobgelübde. Entgegen der revidierten Einheitsübersetzung endet der Psalm im letzten Vers mit einem Zitat des angekündigten Jubels und lässt sich folgendermaßen übersetzen: "Doch ich – auf deine Huld habe ich vertraut, es soll jubeln mein Herz über dein rettendes Handeln: 'Singen will ich für JHWH, dass er sich meiner angenommen hat'" (Vers 6). Der Beter stellt seinem Klagen und Bitten ein trotziges "aber" entgegen. Er will sich aufschwingen zum Lobpreis. Er ermutigt sich selbst dazu, denn er vertraut darauf, dass sein Gott gleichbedeutend mit Güte und Hilfe ist. In seiner Not vertraut der Beter auf Gott – und das zeigt sich bereits am Anfang des Psalms, da er zu seinem Gott spricht, ihn direkt anspricht. "JHWH" (V. 2) wird für ihn im Gebetsprozess zu "JHWH, mein Gott" (V. 4). In diesem Bekenntnis drückt sich bereits Vertrauen aus, wie es in Vers 6 verbalisiert wird. Die Bitte in Vers 4 ist als Vertrauensäußerung formuliert, weil der Beter schon vor allem konkreten Bitten zuversichtlich hoffen kann, dass JHWH tatsächlich zu seinen Gunsten eintreten wird – denn in eben dieser Zuversicht besteht ja sein Glaube, der ihn zu JHWH beten lässt. "Vertrauen" ist im Hebräischen des Alten Testaments kein Prozess, sondern ein Zustand. Man vertraut nicht "auf" jemanden oder etwas, sondern "aufgrund". So wird in Vers 6 der Grund für die vertrauensvolle, freudige Gestimmtheit angegeben. Am Ende des Psalms erinnert sich der Beter nun an die in der Vergangenheit erfahrene Güte Gottes, wie die Perfektform des hebräischen Verbes בטח ("habe ich vertraut") anzeigt. Dies lehrt ihn Erhörungsgewissheit. Das Bittgebet ist ein Gebetsprozess – sozusagen in zeitlich geraffter Form. Der Beter durchläuft drei Stadien: Not – Bitte – Gewissheit. Doch die gewonnene Erhörungsgewissheit hebt weder die Worte der Klage noch die der Bitte auf. Der Beter steht am Ende des Psalms in einem Zwischenzustand und wartet frohen Mutes mit einem Loblied auf den Lippen, aber noch inmitten des Leids, auf die kommende Antwort Gottes.

Aus der Klage entwächst die Bitte, die aufgrund des Vertrauens zu dem schöpfungs- und geschichtsmächtigen Gott erklingt. Doch auch wenn die Psalmen dem Beter den Weg durch die Bitten zum Vertrauensbekenntnis weisen, so ist davon das eigene Gebet zu unterscheiden – und das Vertrauensbekenntnis kann unausgesprochen bleiben. Das Bittgebet setzt voraus, dass Gott zum Handeln aufgefordert werden kann, aber trotz aller Gewissheit bleibt in der Sprache der Psalmen offen, ob und wie er in der je beklagten Notsituation konkret handelt. Doch die Psalmen lehren weder die Gefühlslosigkeit Gottes noch seine Unveränderlichkeit. Das Bittgebet um Hilfe in der Not setzt voraus, dass Gott nicht nur mit sich reden, sondern sich auch zum Handeln bewegen lässt: "Denen, die ihn fürchten, erweist er Wohlgefallen, ihr Schreien hört er und rettet sie" (Psalm 145,19).

Von Till Magnus Steiner