Moraltheologe: Lockerungen für Geimpfte rechtlich und ethisch geboten
Immer mehr Menschen in Deutschland sind gegen Covid-19 geimpft. Da von ihnen kaum noch eine Infektionsgefahr ausgeht, ist es gerecht, dass vollständig Geimpfte mehr Freiheiten bekommen? Der Tübinger Moraltheologe Franz-Josef Bormann sagt: Besteht der Grund für die Beschränkung nicht mehr, sind Lockerungen für Geimpfte rechtlich notwendig und auch ethisch geboten. Als Mitglied des Ethikrats spricht er im Interview auch darüber, wie der Draht zur Politik ist – und was er sich von dieser wünscht.
Frage: Herr Bormann, Deutschland diskutiert darüber, ob man Corona-Geimpften mehr Freiheiten zurückgeben soll. Braucht es jetzt Lockerungen?
Bormann: Natürlich braucht es Lockerungen, wenn die Gründe für die Einschränkung der Freiheitsrechte nicht mehr bestehen. In einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft ist nämlich eine Freiheitsbeschränkung immer rechtfertigungsbedüftig. Wenn der Grund für die Beschränkung aber nicht mehr besteht, dann ist die Rückgewähr der Freiheit selbstverständlich rechtlich notwendig und auch ethisch geboten. Das bedeutet, je mehr die Impfkampagne voranschreitet, je mehr Personen geschützt und eben auch nicht mehr infektiös sind, desto mehr entfällt die Rechtfertigungsgrundlage für die gegenwärtigen Beschränklungen. Ich bin aber gegen eine "pauschale" Betrachtung dieses Themas.
Frage: Das heißt?
Bormann: Viele Leute verstehen das so, dass es in der aktuellen Diskussion um die sofortige Aufhebung aller Restriktionen für Geimpfte gehe. Das ist aber nicht der Fall. Man muss sehr sektoriell betrachten, welche Regelungen das betrifft: Geht es um Quarantäneregelungen, die Befolgung von Abstandsregeln beziehungsweise Maskenpflicht in der Öffentlichkeit oder um den Zugang zu bestimmten Dienstleistungen? Das ist ein ganz weites Feld. Das muss in verantworteter, gestaffelter Weise, je nach Kontext und Situation differenziert werden. Das falsche Bild wäre, dass alle, egal ob sie schon geimpft sind oder nicht, gleichbehandelt werden, solange nicht der letzte geimpft ist. Das versteht kein Mensch – und ist auch rechtlich wie ethisch problematisch.
Frage: In welchen Bereichen könnte es dann schon bald zu Lockerungen für Geimpfte kommen?
Bormann: Da gibt es sicher verschiedene Bereiche. Gut vorstellbar wäre etwa der internationale Reiseverkehr. Es sollten dabei aber immer die empirischen Daten berücksichtigt werden – nach der Devise, wo Lockerungen auch aufgrund der sehr geringen Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung bisher nicht gut gerechtfertigt waren. Ein klassisches Beispiel ist der Museumsbesuch. Mir ist nicht bekannt, dass sich dabei schon mal jemand mit Corona infiziert hat. Trotzdem sind alle Museen im Lockdown.
Frage: In der öffentlichen Debatte wird oft das Argument angeführt, Lockerungen für Geimpfte seien unsolidarisch. Was ist Ihre Meinung dazu?
Bormann: Dieses Argument beruht auf bestimmten egalitaristischen Prämissen, die hier aber nicht zutreffen. Zwar ist Gleichheit ein wichtiges Element von Solidarität, aber bezüglich der Pandemie muss man auch die unterschiedlichen Belastungen von Beschränkungen berücksichtigen. Der Gedanke der differenzierten Rückgewähr von Freiheitsrechten wird zu Unrecht mit dem Gedanken einer drohenden Spaltung der Gesellschaft verknüpft. Eine solche Spaltung sehe ich hier nicht. Bisher läuft ja die Priorisierung grundsätzlich so, dass die besonders Gefährdeten zuerst geimpft werden, weil sie das höhere Risiko haben, an einem schweren Covid-Verlauf zu erkranken oder gar zu sterben. Wenn diese Personen dieses hohe Risiko nicht mehr haben, weil sie geschützt sind und dadurch einen Gemeinschaftsbeitrag leisten, dann wüsste ich nicht, welchen Vorteil ich davon haben soll, dass ich den Geimpften möglichst lange die Rückgewähr der Freiheitsrechte vorenthalten soll – außer vielleicht das Gefühl, dass es den anderen nicht besser geht als mir. Das ist aber kein Sachgrund. Das betrachte ich als Impfneid.
„Die Belastungen in der Corona-Krise sind so ungleich verteilt, und zwar ökonomisch wie sozial – mit dem Effekt, dass die Schwächsten am stärksten betroffen sind. Hier ergeben sich Handlungsimperative, den Schaden, der ohnehin schon riesig ist, nicht noch unnötig anwachsen zu lassen.“
Frage: Wie blicken Sie generell auf die aktuelle öffentliche Debatte?
Bormann: Ich finde, dass die Debatte über das Ende der Freiheitseinschränkungen durchaus heilsam ist, allerdings sollte sie auch versachlicht werden. Ich sehe da viel politische Rhetorik und gefühlsbetonte Pseudoargumente am Werk. Die Menschen sagen, sie empfinden das manchmal als ungerecht oder sie empfinden, dass eine Spaltung der Gesellschaft droht. Das überzeugt mich keineswegs: Ich würde zunächst einmal sagen, die Belastungen in der Corona-Krise sind so ungleich verteilt, und zwar ökonomisch wie sozial – mit dem Effekt, dass die Schwächsten am stärksten betroffen sind. Hier ergeben sich Handlungsimperative, den Schaden, der ohnehin schon riesig ist, nicht noch unnötig anwachsen zu lassen.
Frage: Wie würde man in der Debatte um mehr Freiheitsrechte für Geimpfte klassisch moraltheologisch abwägen?
Bormann: In erster Linie gilt das Prinzip der Schadensminimierung. Der Schaden muss so gering wie irgendwie möglich ausfallen. Und je nach Grad der Betroffenheit ist der Schaden ja immens, besonders in den Bereichen Gastronomie, Hotellerie, Reisebranche, Veranstaltungsmanagement oder Kultur. Wenn wir es schaffen, in bestimmten Bereichen wieder zu öffnen, und dafür sorgen, dass Menschen, die seit einem Jahr faktisch mit einem Berufsverbot belegt sind, ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen können, dann ist das ein legitimes Ziel für diese Maßnahmen – und ich halte auch das Mittel, das dabei angewendet wird, für legitim. Ich wüsste gar nicht, wie man das aus einer ethischen Perspektive irgendwie problematisieren könnte. Bisher wurde als einziger Grund genannt, dass die Geimpften im Blick auf ihren Infektionsstatus nicht sicher sein können, nicht auch andere Leute zu gefährden. Wenn wir aber empirisch wissen, dass das Infektionsrisiko nur minimal ist oder gar nicht besteht, dann entfällt dieser Grund.
Frage: Ist man sich im Ethikrat in der Frage nach Lockerungen für Geimpfte grundsätzlich einig oder gibt es auch Gegenpositionen?
Bormann: Da gibt es schon auch Gegenpositionen. Schauen Sie sich nur die jüngste Einlassung zu diesem Thema an: Da wird als Argument auf dieses ominöse Gefühl der Ungerechtigkeit verwiesen, was mich damals schon nicht überzeugt hat. Meiner Meinung nach ist es aber nicht Aufgabe des Ethikrates, sich an Spekulationen über Gefühlslagen zu beteiligen, sondern viel notwendiger wäre es, zu klären, ob das wirklich ungerecht ist. Nochmal: Die Rückgewähr von Freiheitsrechten ist nicht ungerecht, sondern von Rechts wegen und auch moralisch geboten, in dem Moment, wo der Grund für sie entfallen ist.
Frage: Wie kurz ist in letzter Zeit der Draht der Politik zum Ethikrat?
Bormann: Das kommt ganz darauf an. Der Ethikrat wird schon stärker politisch nachgefragt. Ob die Einlassungen des Ethikrats allerdings auch immer umgesetzt werden, das ist fraglich. Gerade in der Stellungnahme zu den besonderen Regeln für Geimpfte findet sich auch die Forderung, dass die Bewohnerinnen und Bewohner in den Pflegeeinrichtungen aus den besonders belastenden Kontaktbeschränkungen entlassen werden sollten, weil sie ja bereits im hohen Maße geimpft sind. Das ist bisher von vielen Landesregierungen noch gar nicht umgesetzt worden. Wenn man sich überlegt, dass gerade diese besonders vulnerable Gruppe seit längerer Zeit mit einem sehr reduzierten Sozialleben auskommen muss – da würde ich mir natürlich schon eine größere Rezeption der Einlassung des Ethikrats wünschen. Das war übrigens auch eine der seltenen Empfehlung, die einvernehmlich getroffen wurde.
Frage: Was würden Sie sich in der kommenden Zeit im Hinblick auf die Debatten rund um die Impfkampagne ganz konkret von der Politik wünschen?
Bormann: Ich würde mir auf jeden Fall wünschen, dass die Entscheidungsträger sich in ihrer Kommunikationsstrategie besser abstimmen. Es ist ein Skandal, dass wir jeden Tag einen Überbietungswettbewerb erleben, wer den frühesten Zeitpunkt für das Ende aller Restriktionen ins Spiel bringt – und das in einer Zeit, in der viele Kliniken immer noch Probleme mit hohen Patientenzahlen auch auf den Intensivstationen haben. Das halte ich für absolut unseriös. Vielmehr sollten sich die Ministerpräsidenten und die Bundesregierung zu einer kohärenten Kommunikationsstrategie zusammenfinden. Die Bundeskanzlerin hat vollkommen zurecht gesagt, dass die Impfkampagne bis in den Spätsommer hinein laufen wird. Und dann ist die Sache ja noch nicht zu Ende. Niemand weiß im Moment, wie lange die Impfung anhält und in welchem Turnus es eventuell eine Auffrischung braucht. Die Impfung von bis zu 80 Millionen Menschen zu organisieren, ist eine Mammutaufgabe. Und wir reden auf jeden Fall über ein Zeitfenster von mehreren Wochen und Monaten allein für die Erst- und Zweitimpfung. Das muss durch eine klare Struktur kommunikativ begleitet werden – gerade, wenn demnächst die Impfpriorisierung aufgehoben wird. Nichts spricht gegen den Appell, dass sich die Menschen selbstkritisch fragen sollten, ob es nicht andere gibt, die eine Impfung zu einem früheren Zeitpunkt dringender benötigen als sie selbst, aber auch für die nächsten Wochen benötigen die Bürgerinnen und Bürger realistische Informationen darüber, was möglich ist und was nicht.